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„Das ist ein Krieg nicht nur der Eliten, sondern der Russen“

8 Min
Der ukrainische Historiker Anatolii Podolski im Gespräch
© Illustration: WZ, Bildquelle: Romanian Government.

Der ukrainische Historiker Anatolii Podolski spricht im Interview über die ukrainisch-russische Geschichte als Kreislauf von Unterdrückung und Gewalt – und die Gefahr, dass sich das nun wieder einmal fortsetzt.


WZ | Stefan Schocher

Wenn auf internationaler Ebene und ohne Miteinbeziehung Kiews über die Aufteilung der Ukraine debattiert wird, welche Assoziationen weckt das bei Ihnen?

Anatolii Podolski

Man kann sich natürlich vorstellen, dass ukrainische Intellektuelle und Menschen im Ausland, ukrainische Historiker und Politologen, Kulturschaffende all dies zum Beispiel mit dem Münchner Abkommen von 1938 vergleichen, mit dem Schicksal der Tschechoslowakei vor dem Zweiten Weltkrieg. Im Zweiten Weltkrieg sprach man von der Achse des Bösen – Berlin, Rom, Tokio – mit Hitler, Mussolini und Japans Kaiser Hirohito, von Nazi-Deutschland, dem faschistischen Italien und dem imperialistischen Japan. Jetzt sprechen wir über Moskau, Teheran, Pjöngjang und Peking. Wir diskutieren über das Gleichgewicht zwischen Demokratie und autoritärer Diktatur – und über die Wahl des derzeitigen US-Präsidenten. Er unterstützt mit Wladimir Putin einen Verbrecher, einen Kriegsverbrecher.

WZ | Stefan Schocher

Der Vergleich mit den Vorstufen zum Zweiten Weltkrieg fällt sehr oft. Aber da gibt es doch auch sehr viele Unterschiede.

Anatolii Podolski

Ich denke, Putin und sein Regime haben viel mehr Rückhalt in der Gesellschaft. In Deutschland, in Österreich gab es in den späten 1930er-Jahren und während des Zweiten Weltkriegs Widerstand gegen das Nazi-Regime. In Russland gibt es keinen Widerstand. Daher liegt dieser Krieg nicht nur in der Verantwortung eines Diktators, sondern auch in der Verantwortung der russischen Gesellschaft. Sie unterstützen Putin, vielleicht hassen sie Putin, vielleicht haben sie Angst vor Putin – aber sie haben in den letzten zehn Jahren nichts getan. Und was ist mit uns? Tschernihiw, Jahidne, Charkiw, Isyum, Butscha sind heute Symbole eines Massenmordes an ukrainischen Bürgern. Und es gibt Parallelen. Die Tschechoslowakei war 1938 ein demokratisches Land. Nazi-Deutschland hat behauptet, es müsse die deutschsprachige Bevölkerung auf dem Gebiet der Tschechoslowakei schützen. Genau so argumentiert das Putin-Regime heute. Das ist natürlich eine komplette Lüge.

WZ | Stefan Schocher

Die Geschichte Nazideutschlands ist die eine Seite. Die andere ist die ukrainisch-russische Geschichte, die reich an Parallelen ist und sich über Jahrhunderte immer wiederholt hat.

Anatolii Podolski

Das stalinistische Regime hat die Ukrainer gehasst – die ukrainische Unabhängigkeits- und Nationalbewegung, ukrainische Literatur, ukrainische Kultur. Zugleich hat Stalin die jüdische Kultur gehasst. Anti-Ukrainismus, Antisemitismus und Ukrainophobie sind ein und dieselbe Sache. Ein Beispiel: der Bezirk Izyum (Region Charkiw, Anm.: Nach der Befreiung der Region durch ukrainische Truppen wurden dort riesige Massengräber entdeckt.). In den Jahren 1932/33 beging das sowjetische Volkskommissariat für innere Angelegenheiten NKWD dort die massivsten Verbrechen an der Zivilbevölkerung und ließ Millionen Menschen in der gesamten Ukraine gezielt verhungern. Wir kennen das heute als Holodomor. Heute sterben in genau diesen Dörfern ukrainische Bürger durch russischen Beschuss, Raketen und Bomben. Es gibt diesen tiefen Hass auf die ukrainische Kultur, den Putin von Stalin geerbt hat.

Putin hat seit langem die Vergangenheit instrumentalisiert und manipuliert.
Anatolii Podolski
WZ | Stefan Schocher

Wenn unter diesem Licht jetzt über „Frieden“ diskutiert wird, wie kommt das an bei Ihnen?

Anatolii Podolski

Wenn wir die Ukraine jetzt nicht verteidigen, wenn wir ein Abkommen schließen und Teile der Ukraine dem russischen Regime zufallen, wird es eine Pause geben – vielleicht sechs Monate, ein Jahr, zwei Jahre. Aber die Russische Föderation wird weiterhin Krieg führen. Putin hat seit langem immer die Vergangenheit und die Geschichte instrumentalisiert und manipuliert, um gegen die Ukraine und gegen Europa zu arbeiten. Der Zweite Weltkrieg hat vor 80 Jahren geendet. Und wo stehen wir jetzt? Der US-Präsident und ein Kriegsverbrecher verhandeln miteinander. Es ist unglaublich. Es ist schrecklich.

WZ | Stefan Schocher

Sie sprechen von der Instrumentalisierung der Geschichte. Zu einem Teil aber wiederholt sich diese Geschichte auch in diesem Kreislauf an Versprechen Moskaus, die nicht eingehalten werden, Unterdrückung, Aufstand, Krieg. Wie sehr wiederholt sich genau das auch jetzt?

Anatolii Podolski

Die Russische Föderation hat das Erbe des Russischen Reichs, der Sowjetunion und vor allem das Erbe des KGB angetreten. Es war der KGB, der die Macht in Russland an sich gerissen hat. Sie haben Recht: Die ukrainisch-russische Geschichte ist eine Geschichte der Wiederholungen. Gerade in den letzten 100 Jahren: der Erste Weltkrieg, die Ukrainische Volksrepublik, der Kampf um die Unabhängigkeit. Und natürlich war ein Anteil der Ukrainer – wie auch der Juden, Polen, Georgier, Letten – Teil des bolschewistischen Regimes. Aber auch die Ukraine hat versucht, unabhängig zu sein, wie Polen, Finnland und andere. Wir wurden ausgehungert, unsere Schriftsteller, Dissidenten und Intellektuellen wurden getötet. Das geschah mehrere Male. Und das ist nur das 20. Jahrhundert. Das Gleiche gilt für das 19. Jahrhundert, das 18. und das 17. Ich glaube nicht, dass Putin sich Russland ohne die Ukraine vorstellen kann. Leider muss jede Generation in der Ukraine ihren eigenen Preis für die Freiheit zahlen. Und in der Ukraine ist es für jede Generation ein sehr hoher Preis.

WZ | Stefan Schocher

In den Augen Russlands sind die Ukrainer:innen also sozusagen die Separatist:innen?

Anatolii Podolski

Ja. Russland sagt, dass die Ukraine allein durch ihre Existenz eine Bedrohung für die russischsprachige Welt ist. Das Putin-Regime will die unabhängige Ukraine als europäischen Staat zerstören. Es gab vor nicht langer Zeit diesen Vorschlag aus Russland: Bitte, Ungarn, nehmt Transkarpatien, Rumänien, nehmt die nördliche Bukowina, Polen, nehmt Ostgalizien und Wolhynien, die Russen werden die Zentral-, Süd- und Ostukraine besetzen, und Kiew wird zerstört werden. Das ist ihr Traum. Sie hassen die Ukraine allein schon dafür, dass sie ein unabhängiger, souveräner europäischer Staat ist.

Für die Russen sind die Ukrainer weder ein Volk noch ein Staat.
Anatolii Podolski
WZ | Stefan Schocher

Dabei ist die ukrainisch-russische Geschichte kaum komplizierter als die ukrainisch-polnische Geschichte. Das ist auch eine Geschichte voller Gewalt und diffuser Grenzen. Die ukrainische Stadt Shovka nördlich von Lemberg war polnischer Königssitz. Aber Polen stellt keine Gebietsansprüche, Polen ist Partner der Ukraine auf vielen Ebenen. Wieso fällt es Russland so schwer, die Ukraine ganz einfach als Nachbarn, mit dem man Geschichte teilt, zu akzeptieren?

Anatolii Podolski

Es ist schrecklich, wenn Politiker die historische Vergangenheit in einer aktuellen Situation missbrauchen. Wir sind nicht verantwortlich für die Vergangenheit, wir leben jetzt, aber gleichzeitig sind wir verantwortlich für die Erinnerung. Wir dürfen keine Angst vor der Vergangenheit haben, wir müssen wahrhaftig über sie sprechen, dürfen sie aber nicht auf heute übertragen. Polen hat Waffen geliefert. Ohne Polen wären wir heute unter russischer Okkupation. Zwei Millionen Ukrainer leben heute in Polen. Die Ukraine und Polen sind echte Nachbarn und Freunde, trotz einer sehr schwierigen Vergangenheit. Wir sind Länder, Völker und Kulturen, die im letzten Jahrhundert sehr unter Nationalsozialismus und Kommunismus gelitten haben.

WZ | Stefan Schocher

Aber wieso funktioniert das nicht mit Russland?

Anatolii Podolski

Wissen Sie, wie die Russen die Ukrainer nennen? All die Schimpfwörter, die ich hier gar nicht in den Mund nehmen will? Die sowjetische Erziehung war immer auf das „große russische Volk“ ausgerichtet. Das ist die Erinnerungskultur Russlands. Das ist kein Krieg der Eliten um Putin. Das ist ein Krieg der Russen. Für sie gibt es die Ukraine nicht. Für sie sind wir ein gemeinsames slawisches Volk, das von Russen angeführt wird. Für die Russen sind die Ukrainer weder ein Volk noch ein Staat. Das ist in Polen nicht der Fall. Diese Denkweise wurde auch in der unabhängigen Ukraine zerstört. Aber in Russland existiert sie noch. Für Russen ist alles Ukrainische mit Bandera, einem rechtsextremen ukrainischen Politiker der Zwischenkriegszeit, mit Nationalismus und Feinden gleichgesetzt, die getötet werden müssen.

WZ | Stefan Schocher

Die Ironie daran ist ja, dass Bandera hauptsächlich gegen Polen gekämpft hat.

Anatolii Podolski

Das ist richtig. Und die ukrainische Nationalbewegung jener Zeit bestand nicht nur aus Bandera. Bandera repräsentierte nur das rechtsextreme Lager. Und natürlich gibt es viele schreckliche, komplexe und schwierige Probleme zwischen Polen und der Ukraine. Und natürlich waren nicht alle in der ukrainischen Nationalbewegung Helden – einige waren es, andere waren Kriminelle. Das Gleiche gilt für die Polnische Heimatarmee. Die Menschen in der Ukraine und in Polen verstehen all das. Wir verstehen einander.

Heute tötet das Putin-Regime.
Anatolii Podolski
WZ | Stefan Schocher

Geht es Russland also um die Wiedererlangung alter Größe?

Anatolii Podolski

Putin hat den Zusammenbruch der Sowjetunion als die größte Tragödie des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Er betreibt so etwas wie postsowjetischen russischen Imperialismus. Aber als was sich dieses Reich bezeichnet – ob als Russisches Reich, Sowjetunion oder Russische Föderation – ist nicht so wichtig. Worum es geht, ist die Wiederherstellung der alten Größe und Kontrolle.

WZ | Stefan Schocher

Sie würden also sagen, dass die russische Propaganda, in der von Bruderländern die Rede ist, die aufgelöst werden müssten, kein Bluff, sondern die Überzeugung Russlands ist?

Anatolii Podolski

Sie hassen die ukrainische Unabhängigkeit. Es ist gewissermaßen eine Stalin-Politik – es geht um das russische Volk, das große russische Volk an der Spitze. Einer der schrecklichen russischen Propagandisten, Pavel Gubarev, hat vor drei Jahren gesagt, es gebe kein ukrainisches Volk, es gebe nur ein großes russisches Volk, und wer dem nicht zustimme, den werde man töten – wenn man fünf Millionen töten müsse, werde man fünf Millionen töten, wenn man zehn Millionen töten müsse, werde man zehn Millionen töten. Das sind Methoden Hitlers und Stalins. Es gab diese Massenerschießungen – zwischen den Weltkriegen, während des Zweiten Weltkriegs, nach dem Zweiten Weltkrieg. Es gab den Holodomor. Und heute tötet das Putin-Regime.

WZ | Stefan Schocher

Wie kann unter diesen Umständen und angesichts der von Ihnen geschilderten Geschichte aus Massenexekutionen, Holodomor, Krieg, Massendeportationen, Sprachverboten und auch dem Budapester Memorandum eine nachhaltige Lösung für die Ukraine aussehen?

Anatolii Podolski

Wir haben hier über die Geschichte, die Vergangenheit und die komplexen Beziehungen in der ukrainisch-russischen Geschichte diskutiert, über die Wurzeln des russischen Hasses. Herr Trump weiß nichts darüber. Wir müssen unser Territorium verteidigen, wir können nicht noch einmal verlieren. Wir zahlen einen sehr hohen Preis für unsere Freiheit und unser Gedächtnis. Wir brauchen ein sicheres Leben für die Menschen. Ich bin jüdischer Abstammung, ich bin Ukrainer, Bürger der Ukraine, und die Ukraine ist meine Heimat. Meine Eltern, mein Großvater, mein Urgroßvater, Generationen meiner Verwandten haben hier gelebt. Ich liebe dieses Land, ich werde nicht in ein Konzentrationslager zurückkehren – weder in die Sowjetunion noch in die Russische Föderation noch in das Russische Reich.


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Infos und Quellen

Genese

Am 24. Februar jährt sich der russische Angriff auf die Ukraine zum dritten Mal. Anlass genug für Reporter Stefan Schocher, um mit dem ukrainischen Historiker Anatolii Podolski über „Diktatfrieden“, das Münchner Abkommen 1938 und die Bezüge zum Heute zu sprechen.

Gesprächspartner

Anatolii Podolski ist Direktor des „Ukrainischen Zentrums für Holocaust Studien“.

Daten und Fakten

  • Nach einem relativen Abflauen baute Russland ab Sommer 2021 massiv Truppen an der ukrainischen Grenze auf. Ab dem 24. Februar 2022 folgte ein groß angelegter russischer Angriff aus mehreren Richtungen mit dem Ziel, die ukrainische Regierung zu stürzen und durch ein prorussisches Regime zu ersetzen. Die russischen Truppen zogen sich nach schweren Verlusten ab Ende März 2022 aus dem Norden und Nordosten der Ukraine zurück, um ihre Offensive ausschließlich auf den Osten des Landes zu konzentrieren.

  • Seit Monaten befindet sich die ukrainische Armee militärisch in der Defensive, Russland erobert ein Dorf nach dem anderen. Zuletzt hat der neue US-Präsident Donald Trump den Druck auf Kiew, einem Gebietsverzicht zuzustimmen, massiv erhöht.

  • Der Konflikt startete nicht erst 2022 sondern bereits 2014, als Russland die Krim, ukrainisches Territorium, annektierte.

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