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Das Spielzeug aus dem Gefangenenlager

8 Min
Vier kleine Holzenten schnitzte Georg im Gefangenenlager – sie wurden später zum liebsten Spielzeug meiner Großmutter.
© Illustration: WZ/Katharina Wieser

Ein einfacher Handwerker, verhaftet, weil er Feindsender hörte. Ein Spielzeug aus dem Gefängnis. Eine Geschichte über die feinen Linien zwischen Schuld, Mitläufertum und Widerstand im Nationalsozialismus.


Es waren vier kleine Holzenten, jede kaum größer als eine Kinderhand. Mit kleinen Rädern, damit man sie über den Boden ziehen konnte. Meine Großmutter Helga liebte sie. „Das schönste Spielzeug, das ich je hatte“, sagte sie einmal. Ihr Onkel Georg hatte die Enten geschnitzt – nicht in einer Werkstatt, sondern im Strafgefangenenlager, zwischen Hunger, Kälte und Angst.

Der Gestrauchelte

Als ich Georgs Akte öffne, springt mir gleich auf der ersten Seite ein Stempel ins Auge: „Gestrauchelter“ steht dort. Im nationalsozialistischen Strafvollzug war das eine besondere Kategorie. Kein gefährlicher Verbrecher, sondern ein Volksgenosse, der „vom rechten Weg“ abgewichen war.

Wer so eingestuft wurde, konnte mit Erleichterungen im Gefängnis rechnen: Selbstbeschäftigung statt Zwangsarbeit, bevorzugte Tätigkeiten, Licht in der Zelle, um zu lesen oder zu schnitzen. Eine Art Rest-Fürsorge – allerdings nur für jene, die als „deutschen oder artverwandten Blutes“ galten.

Doch was hat Georg zum „Gestrauchelten“ gemacht?

Der Mittel-Mann

Georg kam im August 1897 als ältester von sieben Kindern in Darmstadt zur Welt, ein durchschnittlicher Junge mit handwerklichem Geschick. Später führte ihn das ins Spenglerhandwerk. Er legte die Meisterprüfung ab, baute sich eine Existenz auf, heiratete Marie und bekam mit ihr zwei Söhne.

Die NS-Akten, die alles möglichst genau festhalten wollten, beschreiben Georg als durch und durch durchschnittlich: mittelgroß, mittlere Statur, mittlere Ohren, mittlere Füße. „Gewöhnliche Hände“, heißt es dort. Nur bei den Augen waren sie sich uneins – mal braun, mal grün-blau.



Daniela hat eine weitere Geschichte zu ihrer Familie geschrieben, es geht um ihre Oma und deren Cousine:


Georg war mit Heinrich befreundet, dem Führer einer SA-Pioniersturm-Gruppe. Sie hatten einander beim Kegeln kennengelernt. Weil Georg ein guter Handwerker war, wollte Heinrich ihn für technische Arbeiten gewinnen – und überredete ihn schließlich, sich offiziell in die SA-Gruppe eintragen zu lassen. Georg sei „nur mir zuliebe“ beigetreten, sagte Heinrich später. Als Sportsfreund, nicht aus Überzeugung. „Daran liegt mir nichts“, habe Georg ihm damals gesagt. Auch später soll er betont haben: „Ich will nicht mitmachen, ich habe kein Interesse daran.“

Für Georg war der Beitritt offenbar eher eine Formalität, eine Geste der Freundschaft. Seine Rolle in der SA blieb passiv. Er besuchte kaum Treffen, trug nie Uniform. Jahrzehnte später bestätigten Zeugen: Sie hätten ihn nie in SA-Kleidung gesehen – er sei ohnehin nie erschienen. Die Gruppe habe sich mehrfach über den „faulen Bender“ (Georgs Nachname) beschwert, heißt es in den Akten. Selbst die Mitgliedsbeiträge bezahlte – wenn überhaupt – seine Frau Marie.

Die Verhaftung

Georg war nie politisch gewesen, wie er später sagte. Vor 1933 – also bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten – habe er sich politisch „in keine Richtung interessiert“. Doch das, was danach kam, ließ ihn nicht unberührt. Die Methoden der NS – ihre Drohungen, ihre Gewalt, ihre Propaganda – lehnte er, wie er es selbst formulierte, „aufs Schärfste“ ab. Sie seien „verwerflich und schädlich für Deutschland“.

Und so begann er, sich zu widersetzen – nicht organisiert, nicht öffentlichkeitswirksam, aber hörbar. Georg konsumierte gezielt die verbotenen Auslandssender, vor allem den Soldatensender Calais, eine britische Propagandasendung im Tarnmantel eines deutschen Frontfunks, und den Londoner Rundfunk. Danach erzählte er im Wirtshaus weiter, was die britischen Medien verbreitet hatten. „Mit dem Weitererzählen der ausländischen Nachrichten bezweckte ich, Stimmung gegen das damalige Regime zu machen und die Leute von der Aussichtslosigkeit des Kriegs zu überzeugen“, sagte er später vor Gericht. „Es kam mir vor allem darauf an, dass die Wahrheit bekannt wurde.“

Am 13. November 1943 wurde Georg verhaftet. Schuldspruch: Rundfunkverbrechen. Zehn Monate Strafgefangenenlager Rollwald. Zehn Monate Ungewissheit, Erschöpfung, Hunger.


Schwarz-Weiß-Porträt eines Mannes mit kurzen Haaren, der einen Anzug und ein kariertes Hemd trägt, vor einem Hintergrund mit alten Dokumenten.
1943 wurde Georg aufgrund eines Rundfunkverbrechens verhaftet; das Bild stammt aus seiner Häftlingsakte.
© Bildquelle: Staatsarchiv Hessen

Die Inhaftierung fiel zeitlich zusammen mit der Trennung von seiner Frau Marie. Sie ließen sich 1943 trotz Maries Schwangerschaft scheiden. Im Gefängnis schnitzte Georg kleine Holzspielenten mit Rollen. Ein Geschenk für das ungeborene Kind.

Doch irgendwann, vermutlich nach Monaten der Gefangenschaft, sagte ihm Marie während eines Besuchs, dass das Kind nicht von ihm sei. Sie verließ ihn und nahm die zwei Söhne und das neugeborene Kind mit. Zwei Jahre später trug sie bereits einen anderen Nachnamen.

Bis zu seinem Lebensende glaubte Georg, dass Marie es war, die ihn denunziert hatte, um mit dem Vater des Kindes zusammen sein zu können. In den Akten findet sich nichts, was diesen Verdacht bestätigt oder widerlegt. Und so schenkte er die geschnitzten Enten seiner Nichte Helga, die knapp zwei Jahre später geboren werden sollte.

Die Klage

Anders als man vermuten könnte, war Georg auch nach Kriegsende 1945 weiterhin inhaftiert. In den Augen der alliierten Besatzungsmächte galt er als Anhänger des NS-Regimes – allein aufgrund seiner SA-Mitgliedschaft. Erst 1947 kam er frei, im Zug der sogenannten Weihnachtsamnestie, bei der zahlreiche als ungefährlich eingestufte Personen entlassen wurden.

Georg wollte Gerechtigkeit. Zehn Jahre nach Kriegsende zog er deshalb vor Gericht. Wie viele andere verklagte er den Staat – in seinem Fall das Land Hessen – auf Entschädigung für seine Haftzeit.

Der Prozess war nicht einfach. Zwar war unstrittig, dass Georg verhaftet worden war, weil er verbotene Auslandssender gehört und deren Inhalte im Wirtshaus weitererzählt hatte. Doch das allein, so betonte das Gericht, sei noch kein Widerstand. Solche Handlungen waren weit verbreitet – nicht jeder, der sie beging, war ein Gegner des Nationalsozialismus. Entscheidend sei, ob die Tat aus „echter Gegnerschaft“ und einer „charaktervollen Grundeinstellung“ erfolgt sei.

Georgs frühere Mitgliedschaft in der SA und – mutmaßlich – auch in der NSDAP gerieten ins Zentrum der Verhandlung. Das Gericht machte deutlich: Nicht das Wann oder Warum des Beitritts zählten, sondern allein die Tatsache, ob und in welchem Maß er das Regime unterstützt hatte.

Die Beweislast

Georg musste also beweisen, dass sein Handeln stärker vom Widerstand als von der Zugehörigkeit zum System geprägt war. Zeugen – Freunde, Bekannte, ehemalige Kollegen – erklärten übereinstimmend, Georg habe gezielt versucht, andere über die Propaganda des NS-Regimes aufzuklären. Er habe nicht nur im privaten Kreis gesprochen, sondern auch Fremde angesprochen, um sie zum Umdenken zu bewegen.

Auch die Bewertung durch das NS-Regime selbst floss in die Entscheidung ein: Die vergleichsweise hohe Strafe von zehn Monaten Gefängnis galt als Indiz dafür, dass die NS-Behörden ihn als ernsthaften Gegner wahrgenommen hatten. Ein weiteres Argument war die Aberkennung seiner Wehrdienstfähigkeit – und das zu einem Zeitpunkt, als das Regime jeden verfügbaren Mann an die Front schickte. Auch das sprach aus Sicht des Gerichts dafür, dass Georg als politisch unzuverlässig galt.

Das Gericht erkannte schließlich an, dass seine Gegnerschaft glaubwürdig und aus Überzeugung motiviert war. Georg erhielt am 21. September 1955 eine Entschädigung von 446,30 Deutschen Mark. Meine Großmutter sagt, als Familie zu dritt brauchten sie damals etwa 100 Mark, um einen Monat über die Runden zu kommen. Es war also keine große Summe – aber eine späte Form der Anerkennung.

Die Verbindung

Achtzig Jahre nach dem Ende des Kriegs – in einem anderen Land, unter anderen Bedingungen – sehe ich meine Verbindung zu Georg. Er verstand, wie wichtig es ist, verschiedene Informationsquellen zu kennen. Er vertraute der NS-Propaganda nicht blind. Stattdessen hörte er gezielt ausländische Radiosender und erzählte weiter, was er gehört hatte – weil er wusste: Diese Nachrichten könnten überlebenswichtig sein.

Die offiziellen Mitteilungen des Regimes hielt er für „Schwindel“, den „Endsieg“ für einen letzten Vorwand, um noch mehr Männer an die Front zu schicken. Vor diesem sinnlosen Tod wollte er sie bewahren.

Georg war kein Held. Er war ja nur „mittel“. Und doch: Er widersprach.

Heute arbeite ich als Journalistin bei der APA im Ressort Außenpolitik. Woher wir unsere Informationen bekommen? Unter anderem von ausländischen Nachrichtenagenturen. Wir tauschen uns aus, vergleichen, verifizieren, um ein möglichst vollständiges Bild zu zeichnen.

Doch in vielen Teilen der Welt ist das auch heute nicht möglich.

Ich denke oft an Georg, wenn ich über Kriegs- und Krisengebiete schreibe. Über Länder, in denen Menschen für ihre Worte verfolgt werden. Weil sie widersprechen. Weil sie weitergeben, was sie gehört haben. Und denen es, wie Georg sagte, einfach nur darum geht, dass die Wahrheit bekannt wird.

Ich kenne Georg nicht. Aber ich glaube, wir hätten uns verstanden.


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Infos und Quellen

Genese

Wie spricht man über die NS-Zeit und den Zweiten Weltkrieg in der eigenen Familie, wenn jahrzehntelang geschwiegen wurde? WZ-Trainee Daniela Pirchmoser hat es getan. Im Gespräch mit ihrer Großmutter und durch die Recherche historischer Unterlagen hat sie die Geschichte ihres Urgroßonkels Georg rekonstruiert: ein Mann, der Feindsender hörte, dafür verhaftet wurde – und im Gefangenenlager Holzspielzeug schnitzte. Der Text zeigt: Geschichte beginnt da, wo Menschen handeln – auch im Kleinen.

Gesprächspartner:innen

Helga Pirchmoser (meine Oma und Nichte von Georg)

Daten und Fakten

  • Am 1. September 1939, dem ersten Tag des Zweiten Weltkriegs, trat im Großdeutschen Reich die Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen in Kraft. Sie stellte das Abhören ausländischer Radiosender unter Strafe – teils mit Freiheitsentzug, teils, im Fall der Weiterverbreitung solcher Nachrichten, sogar mit der Todesstrafe. Im nationalsozialistischen Sprachgebrauch wurde beides unter dem Begriff „Rundfunkverbrechen“ zusammengefasst.
  • Der „Soldatensender Calais“ war eine britische Propagandasendung, die von 1943 bis 1945 in deutscher Sprache ausgestrahlt wurde. Getarnt als offizieller deutscher Frontfunksender, mischte er populäre Unterhaltungsmusik mit gezielten Desinformationen und Kommentaren gegen das NS-Regime. Ziel war es, Wehrmachtssoldaten zu verunsichern und ihnen eine alternative Sicht auf den Kriegsverlauf zu bieten.
  • Die SA (Sturmabteilung) war die paramilitärische Kampftruppe der NSDAP. Nach 1934 verlor sie zwar an Macht, blieb aber Teil des Unterdrückungsapparats. Sie diente zur Einschüchterung, propagandistischen Machtdemonstration und ideologischen Erziehung. Die SA-Pioniere vor allem übernahmen technische Aufgaben – etwa Bühnenbau, Infrastruktur und Logistik bei Aufmärschen. Viele Mitglieder waren Handwerker, aber auch sie unterstützten damit ein System, das auf Angst und Ausgrenzung basierte.
  • Das Strafgefangenenlager Rollwald existierte von 1938 bis 1945 im heutigen Stadtteil Rollwald von Rodgau (Hessen). Inhaftiert waren sowohl Kleinkriminelle als auch politische Gegner, Homosexuelle, Kriegsdienstverweigerer und sogenannte „Asoziale“. Bis zu einem Drittel der Gefangenen wären nach heutigem Recht keine Straftäter. Die Häftlinge wurden zunächst für Rodungs- und Entwässerungsarbeiten eingesetzt, später auch für Rüstungsproduktion, Landwirtschaft und Reparaturarbeiten für die Reichsbahn. Die Arbeitsbedingungen waren hart, die Versorgung unzureichend. Mehr als 200 Menschen starben im Lager. Anfang 1944 wurde ein eigener Lagerfriedhof eingerichtet. Am 26. März 1945 wurde das Lager von amerikanischen Truppen befreit.
  • Die Weihnachtsamnestie war eine von den alliierten Besatzungsmächten (insbesondere der US-Zone) angeordnete Entlassungswelle von NS-belasteten Häftlingen aus Internierungslagern in Deutschland. Zum Jahresende 1946 und Anfang 1947 wurden zehntausende sogenannte „Mitläufer“ und minderbelastete Personen freigelassen – auch, weil die Lager überfüllt waren und die Entnazifizierungsverfahren schleppend verliefen. Die Maßnahme war politisch umstritten.
  • Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs konnten Menschen, die unter dem NS-Regime verfolgt oder inhaftiert worden waren, Wiedergutmachung beantragen. In vielen Fällen waren das langwierige Verfahren, in denen die Antragsteller:innen nachweisen mussten, dass sie aus politischen oder rassistischen Gründen verfolgt worden waren – und nicht wegen tatsächlicher Gesetzesverstöße.

Quellen

Hessisches Landesarchiv

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