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Das tödliche Geschlecht

5 Min
Beatrice Frasl schreibt alle zwei Wochen eine Kolumne zu einem feministischen Thema in der WZ.
© Illustration: WZ

In Graz stürmte ein junger Mann mit einer Waffe in eine Schule, tötete neun Schüler:innen und eine Lehrerin. Wir diskutieren über Mobbing, psychische Erkrankungen und Waffengesetze, ignorieren aber das Offensichtliche: Es sind Männer, die töten.


In der Zeit-im-Bild-Sondersendung zum Amoklauf in Graz hat die forensische Kinder- und Jugendpsychiaterin Kathrin Sevecke die Gründe für Amokläufe in folgender Trigger-Triade aufgeschlüsselt:

Erstens die leichte Verfügbarkeit von Waffen. Zweitens eine psychische Grunderkrankung. Drittens „irgendeine akute Kränkung“, die eine „akute emotionale Reaktion“ hervorgerufen hat – eine romantische Zurückweisung etwa, sozialer Ausschluss, Mobbing.

Ein Faktor wird nicht nur im ORF, sondern allgemein in der medialen Berichterstattung (die sich in der Aufarbeitung des Amoklaufes auf keiner Ebene mit Ruhm bekleckert hat ) gerne vergessen. Ein Faktor wird nicht nur um ORF, sondern in der medialen Berichterstattung über Gewalt allgemein auch deshalb vergessen, weil er gemeinhin als so selbstverständlich empfunden wird, dass er überhaupt nicht mehr auffällt. Es ist der folgende Umstand: Die Täter sind Männer.

Die Zahlen

Ja, manche Amokläufer sind tatsächlich psychisch krank, andere aber auch nicht. Laut einer Studie des Landeskriminalamts Nordrhein-Westfalen sind sie sogar „nur in Einzelfällen im klinischen Sinne psychisch gestört.“ Ja, manche Amokläufer erleben akute Kränkungen, manche werden gemobbt, andere aber auch nicht. Manche werden zurückgewiesen, andere nicht, manche imaginieren sich lediglich in der Rolle des zurückgewiesenen Opfers. Eines zieht sich aber durch, egal ob gemobbt oder nicht, egal ob psychisch krank oder nicht, egal ob zurückgewiesen oder nicht: So gut wie immer sind die Täter Männer.

Alle Erhebungen und Studien zum Thema belegen bei Amokläufen einen Männeranteil von deutlich über 90 Prozent. Ein Bericht des FBI, der alle Amokläufe in den USA zwischen 2000 und 2019 untersucht hat, zeigt, dass 97,7 Prozent aller Amokläufer männlich waren.

Jackson Katz, ein Forscher, der sich seit Jahrzehnten mit dem Thema beschäftigt, beziffert den Anteil männlicher Täter mit 99 Prozent.

Auch der Grazer Täter war ein Mann. (Ein Mann, dessen Namen man übrigens nicht drucken muss, um ihm zu zweifelhafter Bekanntheit zu verhelfen, wie das zahlreiche Medien taten.)

Amokläufe sind, wie fast jede Form von Gewalt, von Männern ausgeübte Gewalt.

„Psychische Erkrankungen“

Statt aber darüber zu sprechen, warum das so ist, statt über Männlichkeit zu sprechen, wenn es um männliche Gewalt geht, statt über diese eine Sache zu sprechen, die sich durch so gut wie alle Fälle durchzieht, „sprechen wir lieber über psychische Erkrankungen und den Zugang zu Waffen“ (um Jackson Katz zu zitieren).

Dass psychische Erkrankungen als Grund für Amokläufe angegeben werden, ist vor allem insofern erstaunlich, als dass Frauen von einer ganzen Reihe psychischer Erkrankungen in wesentlich höherem Maße betroffen sind als Männer – von Depressionen, von Angsterkrankungen, von Essstörungen. (Falls dich das Thema interessiert: Ich habe ein Buch darüber geschrieben). Mädchen und Frauen sind auch öfter von Traumatisierungen und Traumafolgestörungen in Folge von interpersoneller Gewalt (in der Regel durch Männer) betroffen: häusliche Gewalt, Gewalt in Partnerschaften, sexuelle und sexualisierte Gewalt.

Wenn psychische Erkrankungen und belastende Lebensereignisse der Grund für Gewalt im Allgemeinen und für Amokläufe im Besonderen sind: Warum sind es nicht Mädchen und Frauen, die reihenweise Schulen mit Waffen stürmen? Warum sind es nicht Mädchen und Frauen, die mit Autos in Menschenmengen rasen?

Auch Mädchen und Frauen sind psychisch krank (öfter als Männer), erleben Belastung, Kränkung, Enttäuschungen, Verletzungen, Zurückweisungen, Misserfolge, Ängste, Schicksalsschläge, Traumata (öfter als Männer), Ausschluss und Mobbing. Aber sie laufen nicht Amok.

Männliche Gewalt als Naturgesetz

Indes werden „psychisch krank“ und „belastendes Lebensereignis“ als Gründe ins Treffen geführt, als wäre es ein Naturgesetz, dass Männer auf Belastung und Erkrankung mit Gewalt gegen andere reagieren. Als würde zwischen der Krankheit, dem belastenden Lebensereignis und der Tat nicht noch die Entscheidung zur Gewalt stehen. Eine Entscheidung, die andere – Frauen nämlich – in aller Regel nicht treffen.

Es ist nicht das negative Gefühl oder die negative Erfahrung, die linear zu einem Gewaltakt führen, es ist die Unfähigkeit, mit negativen Gefühlen oder Erfahrungen gewaltfrei umzugehen. Und es ist kein Zufall, dass vor allem Männer diesen Umgang nicht finden.

Der bereits zitierte Jackson Katz versteht Amokläufe als einen Versuch, sich in einem Gefühl von tatsächlichem oder imaginiertem Kontrollverlust, tatsächlichem oder imaginiertem Abgehängt-Sein patriarchale Männlichkeit zurückzuerobern. Es ist eine Männlichkeit, die in hohem Maße von Dominanz über andere und Kontrolle anderer geprägt ist, von der Macht, seinen Willen durchzusetzen und über andere zu verfügen, auch gegen den Willen und gegen den Widerstand anderer: „Gewalt ist ein männlicher Akt der Selbstbehauptung. Ich bin ein Mann, ich bin verletzt. Aber jetzt habe ich eine Waffe und jetzt habe ich Kontrolle. Ich tue, was ich will, und ich will, dass ihr leidet.“

Der Amoklauf selbst ist dabei nicht als direkter, persönlicher Racheakt, sondern eher als eine männliche Machtinszenierung zu verstehen, als eine mörderische Performance mit dem Täter in der Hauptrolle.

Katz verweist darauf, dass Männlichkeit bei Amokläufen eine zentrale Rolle spielt. Die Zahlen verweisen ebenso darauf – mit erdrückender Eindeutigkeit.

Zeit, über sie zu sprechen. Zeit, gewaltvolle Männlichkeit ins Zentrum der Analyse zu stellen und nicht weiter so zu tun, als wäre sie ein unveränderlicher Naturzustand, der eben, naturgesetzlich, durch psychische Erkrankung oder Belastung getriggert nach außen bricht, ohne dass irgendjemand etwas dagegen tun könne.

Beatrice Frasl schreibt alle zwei Wochen eine Kolumne zum Thema Feminismus. Alle Texte findet ihr auch in ihrem Autor:innenprofil.


In einer ersten Version dieses Artikels hatten wir die Opferzahl des Amoklauf falsch angeführt. Wir bedauern den Fehler.


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Infos und Quellen

Zur Autorin

Beatrice Frasl war schon Feministin, bevor sie wusste, was eine Feministin ist. Das wiederum tut sie, seit sie 14 ist. Seitdem beschäftigt sie sich intensiv mit feministischer Theorie und Praxis – zuerst aktivistisch, dann wissenschaftlich, dann journalistisch. Mit ihrem preisgekrönten Podcast „Große Töchter“ wurde sie in den letzten Jahren zu einer der wichtigsten feministischen Stimmen des Landes.

Im Herbst 2022 erschien ihr erstes Buch mit dem Titel „Patriarchale Belastungsstörung. Geschlecht, Klasse und Psyche“ im Haymon Verlag. Als @fraufrasl ist sie auf Social Media unterwegs. Ihre Schwerpunktthemen sind Feminismus und Frauenpolitik auf der einen und psychische Gesundheit auf der anderen Seite. Seit 1. Juli 2023 schreibt sie als freie Autorin alle zwei Wochen eine Kolumne für die WZ.

Quellen

Das Thema in anderen Medien