Die Zahl der Toten steigt in Israel weiter. Die, die den Überfall überlebt haben, erleben jetzt als Gerettete laut der Traumaexpertin Theresia Falkner eine fürchterliche Zeit.
Den israelischen Helfern, die die zahllosen Toten im Süden Israels bergen müssen, bietet sich ein Bild des Schreckens. Im Kibbuz Kfar Aza, der nach dem Überfall der Hamas zu den am stärksten betroffenen Gebieten zählt, liegen überall die Leichen der Bewohner: Kleine Kinder, Väter, Mütter, sie befinden sich in den Schlafzimmern, Schutzräumen und auf der Straße. Dort liegen, mit dem Gesicht nach unten, erschossene Kämpfer der Hamas.
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Die Bewohner, die das Massaker überlebt haben, mussten Fürchterliches mitansehen. Sie haben Erfahrungen gemacht, die sie ihr ganzes Leben verfolgen werden. Es sind Bilder in ihrem Kopf, die quälend sind und die sie nicht mehr loslassen. Dazu kommt bei vielen nicht unmittelbar Betroffenen die Angst um Angehörige und Freunde, die als Geiseln von der Hamas verschleppt wurden.
Doch was spielt sich in derartigen Extremsituationen, wie sie zahllose Israelis jetzt erleben, in der menschlichen Psyche ab? Theresia Falkner vom Institut für Psychotraumatherapie IPTT hat mit der WZ darüber gesprochen.
Rettender Fluchtreflex
Als die Hamas-Terroristen im Süden Israels wahllos in die Menge der Teilnehmer eines Musikfestivals schossen, habe sich bei den Jugendlichen ein Fluchtreflex eingestellt, der „unter der Wahrnehmungsgrenze“ verläuft, so Falkner. In diesem Augenblick habe „alles, was mit Sprache zusammenhängt, gefehlt“, die Areale des Gehirns, die dafür zuständig sind, waren ausgeschaltet. Die Jugendlichen hätten, ohne es zu merken, mit ihrer Flucht genau das Richtige getan. Der Schock, so Falkner, bleibe aber psychisch gespeichert, es könne in der Folge zu psychosomatischen Störungen kommen. Die Israelis, die den Angriff überlebt haben, erleben jetzt, wo sie gerettet sind, eine „fürchterliche Zeit“, weiß Falkner. Es stellt sich tagelange Schlaflosigkeit ein und unter Umständen eine Form der „Erstarrung“, die bis zur Apathie gehen kann. Diese Phase dauere einige Tage und Nächte. Die linke Hälfte des Gehirns, die für Logik und Sprache zuständig ist, versuche, das Erlebte einzuordnen. Wobei sich die Erinnerung nicht löschen lasse, sondern nur neurobiologisch einordnen. Ein gutes soziales Umfeld, Unterstützung durch Freunde und Familie sei dabei enorm wichtig.
Permanente innere Alarmstimmung
Menschen, die Unfassbares mitansehen müssen, die mit einem Ereignis konfrontiert werden, das sie wie ein Tsunami aus dem Nichts trifft, entwickeln allerdings häufig eine Posttraumatische Belastungsstörung. Das ist laut Falkner dann der Fall, wenn das Ereignis nach drei bis vier Monaten immer noch nicht verarbeitet ist. Oft sind diese Menschen dann permanent in einer inneren Alarmstimmung, nervös, schreckhaft - auch, wenn weit und breit keine Gefahr erkennbar ist. Kleine Vorfälle, so genannte Trigger, führen dann dazu, dass die Zeugen etwa eines Massakers das Fürchterliche noch einmal erleben müssen, scheinbar grundlos in Panik verfallen oder aggressiv werden. Für die Betroffenen ist es „grausig“, sagt Falkner.
Erschwerend wirkt sich aus, wenn der Betroffene in der Notsituation weder zum Angriff übergehen noch flüchten kann. Er wird in eine Zange genommen. Forschungen haben gezeigt, dass Soldaten Stress im Krieg besser aushalten, solange sie handlungsfähig sind – also laufen, in Deckung gehen oder zurückschießen können. Ist das aber nicht möglich, kommt es in einer lebensbedrohlichen Situation zu einer Erstarrung, einem Totstellen. Im Fall einer Vergewaltigung, so Traumaexpertin Falkner, wirkt das allerdings so, dass die Intensität des Ereignisses vom Opfer weniger stark wahrgenommen werde – wie eine Narkose. In jedem Fall verhalten sich die Menschen aber so, dass sie sich automatisch bestmöglich schützen. Auch, indem sie ein Trauma entwickeln. „Wäre das nicht so, würden wir verrückt werden“, so Falkner.
Splitter zusammenfügen
Kommt der Angriff aus heiterem Himmel, ist das Opfer nicht vorbereitet, dann ist die Überforderung der Psyche besonders heftig. Weil Israels Premier Benjamin Netanjahu zuletzt immer den Eindruck erweckt hat, dass Israel die Bedrohung aus dem Gazastreifen im Griff habe, steht er jetzt in Israel besonders in der Kritik. Die Bewohner in den angegriffenen Dörfern und Kibbuzim haben sich in relativer Sicherheit gewähnt, umso schlimmer war dann am Morgen des 7. Oktober das Erwachen.
Wie kann den akut Traumatisierten in Israel jetzt geholfen werden? Es gehe darum, das Erlebte einzuordnen, sagt Falkner. „Wir setzten uns dann hin und erzählen eine komplette Geschichte.“ Denn das Trauma setzt sich im Gehirn in vielen kleinen Splittern fest. Diese gelte es, in einem Prozess der Aufarbeitung zusammenzuführen, damit sich das Trauma auflösen kann.
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Infos und Quellen
Genese
Treten katastrophale Ereignisse wie jetzt in Israel unerwartet ein, spielt die menschliche Psyche verrückt. Autor Michael Schmölzer konnte in Afghanistan mit traumatisierten deutschen Soldaten sprechen, die ihm erzählten, wie sie mit der Last des Krieges fertig werden. In Israel sind jetzt zahllose Menschen damit beschäftigt, viele werden mit den fürchterlichen Erlebnissen der letzten Tage ein Leben lang kämpfen.
Gesprächspartnerinnen
Mit Theresia Falkner vom Institut für Traumatherapie konnte Autor Michael Schmölzer eine Autorität für das Thema gewinnen.
Die Traumatherapeutin Regina Lackner hat den Autor im Gespräch darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, dass die Opfer des Hamas-Überfalls jetzt in einem ersten Schritt in Sicherheit gebracht werden. Danach es wichtig, dass die Menschen das bekommen, was sie brauchen, um sich sicher zu fühlen. "Das kann eine Umarmung sein, eine Decke oder Gesellschaft." Oder dass Kinder, die eigentlich schon zu alt dafür sind, wieder im Bett der Eltern schlafen dürfen. Bei den von der Hamas genommenen Geiseln muss man laut Lackner leider damit rechnen, dass diese mit hoher Wahrscheinlichkeit "multiple Traumatisierungen" erleiden. Hier ist eine Flucht und damit ein Ausweg nicht möglich.
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