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Das Verbrechen, eine Frau zu sein: Frauen in Afghanistan

5 Min
Beatrice Frasl schreibt alle zwei Wochen eine Kolumne zu einem feministischen Thema in der WZ.
© Illustration: WZ

Über die Unterdrückung der Frauen in Afghanistan, Widerstandsbewegungen und die erschreckende Gleichgültigkeit in Europa.


Es gibt eine Sache, über die wir seit 15. August 2021 ununterbrochen reden sollten, die in allen Medien immer und immer wieder auf Titelseiten landen sollte, die aber in der öffentlichen und veröffentlichten Debatte kaum Beachtung findet: Es ist das Geschlechterapartheitsystem, das die Taliban nach ihrer Machtübernahme installiert haben. Es ist die Situation der Frauen in Afghanistan.

Brutale Unterdrückung

„Situation“ ist in diesem Kontext allerdings tatsächlich ein verharmlosendes Wort; was es nämlich beschreiben soll, ist die Unterdrückung von Frauen, die in ihrem Ausmaß und in ihrer Brutalität kaum beschreibbar ist. Denn die Taliban haben Frauen effektiv zu rechtlosen Sklavinnen gemacht.

Meryl Streep fasste die Situation vor einigen Monaten folgendermaßen zusammen: „Heute hat eine Katze in Kabul mehr Freiheit als eine Frau. Eine Katze darf auf ihrer Veranda sitzen und die Sonne auf ihrem Gesicht spüren, sie darf einem Eichhörnchen im Park nachjagen […] Ein Eichhörnchen hat heute mehr Rechte als ein Mädchen in Afghanistan, weil die öffentlichen Parks von den Taliban für Frauen und Mädchen geschlossen wurden. […] Ein Vogel darf in Kabul singen, aber ein Mädchen darf dies nicht in der Öffentlichkeit. Das ist außergewöhnlich. Das ist eine Unterdrückung der Naturgesetze.“

Zum Tod verurteilt

Frauen in Afghanistan dürfen keine politischen Ämter bekleiden. Sie dürfen nicht ohne die Begleitung eines männlichen Verwandten reisen. Frauen dürfen sich ohne Begleitung eigentlich überhaupt nicht in der Öffentlichkeit zeigen: Sie dürfen nicht spazieren gehen, dürfen keine Parks betreten, ebenso ist ihnen der Zutritt zu vielen öffentlichen Plätzen und Gebäuden nicht gestattet. Frauen dürfen keine Fitnessstudios betreten, es ist ihnen verboten, Sport zu treiben oder an sportlichen Aktivitäten teilzunehmen − das Verbot gilt übrigens auch im privaten Raum. Frauen dürfen keine Autos fahren und öffentliche Verkehrsmittel höchstens in männlicher Begleitung nutzen. Frauen dürfen keine Männer ansehen, mit denen sie nicht blutsverwandt sind. Frauen dürfen nicht studieren, Mädchen dürfen nicht zur Schule gehen. Bildung ist Frauen ebenso untersagt wie das Arbeiten in öffentlichen Institutionen. Frauen dürfen nicht mehr von männlichem Gesundheitspersonal behandelt werden. Gleichzeitig dürfen Frauen aber auch selbst keine Gesundheitsberufe mehr ausüben – sie dürfen weder Ärztinnen noch Pflegerinnen noch Hebammen sein. Das heißt im Endeffekt: Frauen haben in Afghanistan de facto keinen Zugang mehr zu Gesundheitsversorgung. Egal, ob sie krank sind oder alt oder gebären, egal, wie dringend oder lebensnotwendig medizinische Versorgung für sie wäre. Frauen in Afghanistan sind also auf lange Sicht kollektiv zum Tod verurteilt.

Unsichtbar

Frauen dürfen nicht singen, sie dürfen nicht tanzen, Frauen müssen sich in der Öffentlichkeit verhüllen – sie müssen unsichtbar sein, hinter einer Burka verschwinden. Ihr Gesicht und ihr Körper müssen bedeckt sein, denn beide – sowohl weibliche Gesichter als auch weibliche Körper – gelten als obszön. Aber nicht nur der Anblick von weiblichen Körpern, sondern auch der Klang von weiblichen Stimmen wurde in Afghanistan verboten: Frauen dürfen nicht öffentlich sprechen. Selbst das zu laute Beten zuhause ist ihnen untersagt. Viele Radio- und Fernsehsender übertragen keine weiblichen Stimmen mehr. Vielleicht sollte man es so zusammenfassen: Frau-Sein ist in Afghanistan verboten.

Umso beeindruckender ist der mutige Widerstand afghanischer Frauen gegen ihre Entrechtung durch das Regime: Frauen nutzen ihre Stimmen, obwohl sie nicht dürfen, und das in einem wörtlichen Sinn. Sie singen.

Widerstand

Bereits vor einigen Monaten berichtete die BBC über anonyme afghanische Schwestern, die Protestvideos von sich auf Social Media hochluden, Videos, in denen sie Protestlieder anstimmen. „Wir werden das jetzt singen, aber es könnte uns das Leben kosten“, sagt eine der Schwestern im Beitrag der BBC. Dann beginnen sie ihre Stimmen zu erheben und zu singen. Das Video ging viral, die Schwestern starteten damit eine Protestbewegung, die sich „The Last Torch“ (Die letzte Fackel) nennt. Zahlreiche Frauen taten es ihnen gleich und veröffentlichten Videos, mit Hashtags wie #myvoiceisnotforbidden oder #NotoTaliban und Liedtexten wie „Ihr habt meine Stimme zum Schweigen gebracht. Ihr habt mich in meinem Haus eingesperrt, für das Verbrechen, eine Frau zu sein.“

Verschlechterung

Indes verschlechtert sich ihre Lage weiter: Im Dezember 2024 erließen die Taliban ein Dekret, das den Blick auf Frauen und auf von Frauen genutzte Räume verbietet. Neubauten dürfen keine Fenster mehr haben, durch die man „den Hof, die Küche, den Nachbarsbrunnen und andere Orte, die gewöhnlich von Frauen benutzt werden“ sehen kann. Die Taliban haben außerdem angekündigt, ein Beschäftigungsverbot für Frauen einführen zu wollen. NGOs, die Frauen einstellen, wurde mit Entzug ihrer Lizenz gedroht.

Die internationale Reaktion ist eine erschreckend gleichgültige. Im Oktober letzten Jahres reagierte der EuGH, indem er Frauen aus Afghanistan ein Recht auf Asyl zusprach, sie gelten aufgrund der Unterdrückung ihres Geschlechts als Verfolgte.

Die Entscheidung kam reichlich spät, denn afghanische Frauen werden ihr Recht auf Asyl innerhalb der EU kaum wahrnehmen können. Dazu bräuchten sie die Möglichkeit, das Land zu verlassen. Wie aber sollen Menschen flüchten, die zu jenem Zeitpunkt bereits nicht reisen durften? Die weder Autos noch öffentliche Verkehrsmittel benutzen dürfen? Die nicht sprechen dürfen?

Afghanistan als warnendes Beispiel

Die widerständigen Frauen Afghanistans haben mehr Unterstützung verdient als ein verspätetes EuGH-Urteil. Und Frauen überall auf der Welt haben mehr Wachsamkeit verdient im Umgang mit islamistischen Regimes. Denn was in Afghanistan passiert, kann auch in anderen Ländern passieren. Besonderes Augenmerk sollte hier aktuell Syrien gelten und der naiven Reaktion des Westens auf die Machtergreifung durch die islamistische HTS.

Eine islamistische Terrormiliz nämlich, egal, wie viel Kreide sie gefressen hat, um westliche Medien und Politiker:innen zu täuschen, war nie und ist nie eine gute Nachricht für Frauen (und Minderheiten jeglicher Art).

Beatrice Frasl schreibt alle zwei Wochen eine Kolumne zum Thema Feminismus. Alle Texte findet ihr auch in ihrem Autor:innenprofil.


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Infos und Quellen

Zur Autorin

Beatrice Frasl war schon Feministin, bevor sie wusste, was eine Feministin ist. Das wiederum tut sie, seit sie 14 ist. Seitdem beschäftigt sie sich intensiv mit feministischer Theorie und Praxis – zuerst aktivistisch, dann wissenschaftlich, dann journalistisch. Mit ihrem preisgekrönten Podcast „Große Töchter“ wurde sie in den letzten Jahren zu einer der wichtigsten feministischen Stimmen des Landes.

Im Herbst 2022 erschien ihr erstes Buch mit dem Titel „Patriarchale Belastungsstörung. Geschlecht, Klasse und Psyche“ im Haymon Verlag. Als @fraufrasl ist sie auf Social Media unterwegs. Ihre Schwerpunktthemen sind Feminismus und Frauenpolitik auf der einen und psychische Gesundheit auf der anderen Seite. Seit 1. Juli 2023 schreibt sie als freie Autorin alle zwei Wochen eine Kolumne für die WZ.

Quellen

Das Thema in anderen Medien