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Mein Großvater wurde am Ende des Zweiten Weltkriegs als Sudetendeutscher erst vom Volkssturm rekrutiert und dann aus der damaligen Tschechoslowakei vertrieben. Der schwierige Neuanfang in Österreich ließ ihn verzweifeln.
15. April 1945: In Wien finden die Kampfhandlungen zwischen der Roten Armee und den Resten der Wehrmacht ein Ende. 80 Kilometer nördlich stehen sie Pulgram (tschechisch: Bulhary, bis 1950: Pulgary) noch bevor, weshalb der Bürgermeister den Räumungsbefehl gibt. Gut die Hälfte der rund 1.150 Einwohner:innen verlässt daraufhin die Ortschaft in Mähren, die nur zehn Kilometer nördlich der österreichischen Grenze liegt und deren Bevölkerung überwiegend deutschsprachig ist.
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Mit dabei ist mein Großvater Anton Reschny, geboren am 11. Jänner 1929, der damals als 16-Jähriger aus dem Internat in Znaim nach Hause gefahren ist und für den Volkssturm rekrutiert wurde, wie er später rückblickend in seinem Tagebuch vermerkt: „Daheim musste ich am Ostersonntag (1. April 1945, Anm.) Panzergraben graben gehen. Ich kam zum Volkssturm und bekam eine Uniform. Viele flüchteten vor den Russen. Deutsche Panzer und Artillerie war in Pulgram stationiert. Die Leute hatten Angst und flüchteten mit ihren Fuhrwerken und wir vom Volkssturm begleiteten sie. (…) Jeder wollte zum Amerikaner, nur fort von den Russen.“
Rückkehr, Zwangsarbeit und erneute Flucht
Während mein Großvater offenbar den Flüchtlingstreck in Richtung US-Armee eskortiert, rücken in Pulgram, wo sich die verbliebene Bevölkerung in ihren Häusern und Kellern verschanzt hat, am 20. April die letzten Wehrmachtssoldaten ab und am 22. April die Sowjets ein. Im Kampf um Pulgram gibt es einen Toten, das Dorf wird geplündert, und es kommt zu Vergewaltigungen, bei denen eine Frau stirbt. Am 24. April werden alle übrigen deutschen Männer von den Besatzern nach Poysdorf in Niederösterreich gebracht, ein Fußmarsch von knapp sechs Stunden. Einer wird bei einem Fluchtversuch erschossen. Nach der Ankunft in Poysdorf werden die über Fünfzigjährigen entlassen, alle anderen kommen in sowjetische Gefangenschaft und werden erst Jahre später zurückkehren.
Tschechische Revolutionsgardisten übernehmen die Macht in Pulgram und zwingen deutsche Einwohner:innen, die nach Kriegsende zurückkehren, zur Zwangsarbeit. Weil ihre Häuser beschlagnahmt wurden, bringt man sie im örtlichen Meierhof unter. Einer von ihnen ist mein Großvater, der zum 14. Mai 1945 notiert: „Daheim angekommen mußte ich mit vielen anderen ins Lager (Meyerhof). Viele wurden von den Tschechen geschlagen. Drei Wochen mußte ich für die Tschechen arbeiten ohne Bezahlung. Dann flüchtete ich nach Österreich.“
Es ist eine abenteuerliche Reise, die Anton mit einem Freund auf dem Fahrrad beginnt, bis ihm dieses bei einem Zwischenstopp von sowjetischen Soldaten entwendet wird. Er selbst bleibt offenbar unbehelligt, landet schließlich bei einem Bäcker, der ihm kurzfristig Arbeit gibt. Doch als Anton krank wird und nicht mehr arbeiten kann, wird er vor die Tür gesetzt. Ein Bekannter in Hohenau erweist sich schließlich als Retter in der Not und hilft ihm, sich bis St. Pölten durchzuschlagen, wo er die Lehrerbildungsanstalt besuchen will.
Die tschechische Rache an den Sudetendeutschen
Die Flucht meines Großvaters nach Österreich ist wohl nicht seine eigene Idee, denn am 24. Mai gibt die tschechische Ortsführung bekannt, dass alle deutschen Personen Pulgram verlassen müssen und ins Nachbarland gebracht werden. 30 Kilo Gepäck sind höchstens erlaubt.
Es ist sozusagen die tschechische Rache an den Sudetendeutschen, der deutschsprachigen Bevölkerung in Böhmen, Mähren und Schlesien. Dass die Bevölkerung Deutsch spricht, diente Adolf Hitler 1938 als Vorwand für den deutschen Einmarsch in diese Gebiete. Das Verhältnis der Sudetendeutschen zur 1918 gegründeten Tschechoslowakischen Republik war in der Zwischenkriegszeit gespalten. Während die sogenannten Aktivist:innen den jungen Staat mitzugestalten versuchen, boykottieren ihn die in den 1930ern dominant werdenden Negativist:innen und wollen „heim ins Reich“. Nach der Annexion der deutschsprachigen Gebiete hat das Deutsche Reich den ursprünglich tschechoslowakischen Sudetendeutschen die deutsche Reichsangehörigkeit zuerkannt. Die in diesen Gebieten lebende tschechische Bevölkerung wurde während der NS-Herrschaft unterdrückt oder vertrieben, Sudetendeutsche haben sich auch am Holocaust beteiligt.
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Insofern ist es kein Wunder, dass sie jetzt nach Kriegsende, als sich das Blatt wendet, selbst drangsaliert und aus dem Land geworfen werden. Nach dem Ende des Deutschen Reiches sind viele von ihnen plötzlich staatenlos. Der Nachkriegspräsident Edvard Beneš dekretiert 1945 die Konfiszierung des gesamten deutschen Besitzes in der von den Nazis befreiten Tschechoslowakei, und im darauffolgenden Jahr werden mehr als zwei Millionen Menschen offiziell ausgesiedelt.
Österreich will die Flüchtlinge nicht
Einen Eindruck von den Geschehnissen im April und Mai 1945 gibt auch Kurt Bauer in seinem soeben im Residenz Verlag erschienenen Buch „Niemandsland zwischen Krieg und Frieden – Österreich im Jahr 1945“. Darin schildert er nicht nur die allgemeine Not, die am Kriegsende überall herrschte, sondern auch im Besonderen das Schicksal der „Němci“, wie die Deutschsprachigen in den Gebieten nördlich von Österreich auf Tschechisch genannt werden: eine Vergewaltigung auf einem Bauernhof durch vier Rotarmisten; ein älterer Mann, der auf der Flucht in einen Keller von Tieffliegern erschossen wird; weiße Armbinden mit einem schwarzen „N“, die Deutsche tragen müssen; Familien, die von ihren Höfen vertrieben werden; Rotkreuz-Schwestern, die von Rotarmisten verschleppt werden; ein tschechischer Getreidehändler, der einen deutschsprachigen Bauern aus einem Lager befreit, indem er seinen Hof beschlagnahmen lässt und ihn als Arbeitskraft dort einsetzt; besiegte Wehrmachtssoldaten, die in langen Zügen, oft mit nackten, blutigen Füßen, durchs Land getrieben oder gleich in selbstgeschaufelte Gräber hineingeschossen werden, so wie Wehrmacht und SS davor ihrerseits mit der osteuropäischen Bevölkerung verfahren sind; und die Angst vor den tschechischen Partisanen, die noch größer ist als die vor den russischen Soldaten (die in Wahrheit in dieser Gegend eher Ukrainer sind).
In Österreich werden die hierher geflüchteten Altösterreicher:innen – ungeachtet der historischen Verbindungen seit der Habsburger-Monarchie – nicht mit offenen Armen aufgenommen. Die Regierung sieht sich einerseits völlig überfordert mit der Aufgabe, zusätzlich zur eigenen Bevölkerung auch noch diese Flüchtlinge zu versorgen. Andererseits will sie wohl auch eine scharfe Trennlinie zur eigenen großdeutschen Tradition der Vorkriegszeit ziehen. Bundespräsident Karl Renner bittet sogar die sowjetische Besatzungsmacht darum, die österreichische Grenze zur Tschechoslowakei für Flüchtlinge aus der deutschen Volksgruppe zu schließen. Assistiert wird er von Außenminister Karl Gruber, der in einem Gespräch mit seinem tschechoslowakischen Amtskollegen Jan Masaryk über die Sudetendeutschen sagt, dies seien Leute, „die Ihnen immer Schwierigkeiten bereitet haben und die sie jedem bereiten würden“. Viele Volksdeutsche werden nach Deutschland weitergeschickt – „Repatriierung“ nennt sich das. Wer in Österreich bleiben kann, hat zunächst einen schweren Stand.
Ohne Arbeit, ganz verzweifelt, nahe daran, mir das Leben zu nehmen.Tagebucheintrag meines Großvaters, Ende Oktober 1945
So auch mein Großvater, der zwar in St. Pölten eine Lehrerbildungsanstalt besuchen kann, aber dann in Wien, wo er seine Eltern wieder trifft und bei ihnen wohnt, den Status eines Ausländers hat, obwohl er fließend Deutsch spricht. Erst 1950 kann er überhaupt um die österreichische Staatsbürgerschaft ansuchen. Und so hält Anton in seinem Tagebuch am 28. Oktober 1945 fest: „Ohne Arbeit, ganz verzweifelt, nahe daran, mir das Leben zu nehmen. Doch der Gedanke an meine Mutter hält mich zurück. Sonst hatte ich ja keinen Halt. Die Kirche, Gott, ach der meint es nur schlecht mit uns, ist ungerecht, wenn es überhaupt einen gibt.“ Harte Worte von einem Mann, der sein Leben lang als tiefgläubiger Katholik jeden Sonntag in die Kirche gegangen ist, solange es ihm körperlich möglich war.
Mein Großvater findet dann doch Jobs, in denen er jedoch gegängelt wird. So notiert er über seine am 10. März 1950 aufgegebene Arbeit in einem Wiener Pfarrkinderhort: „Es war einfach nicht mehr zum Aushalten. Die Kinder sind so ekelhaft geworden und Pfarrer Thurnher und Fr. Bittner drückten mich, wo sie nur konnten. Sie wußten, daß ich mich nicht rühren kann. Augen machten beide, als ich um meine Entlassung bat. Nun bin ich leider wieder arbeitslos.“
Endlich österreichischer Staatsbürger
Weil es die Zeit des Wiederaufbaus ist, findet er Gelegenheitsarbeiten am Bau. Es ist schwere körperliche Arbeit, von der er später uns, seinen Enkelkindern, erzählen wird. Und auch von seiner späteren Tätigkeit als Schuldirektor, der er letzten Endes doch noch geworden ist. Denn für meinen Opa wendet sich mit der Erlangung der österreichischen Staatsbürgerschaft am 4. Oktober 1950 das Leben zum Guten. Am 1. September 1951, im Alter von 22 Jahren, bekommt er endlich die ersehnte Anstellung als Lehrer. Im selben Jahr hat er außerdem im Juni meine Oma geheiratet; die beiden bekommen vier Kinder (und in der Folge zwei Enkel und drei Urenkel) und haben insgesamt 65 gemeinsame Ehejahre bis zu Anton Reschnys Tod am 26. Dezember 2016 im Alter von 87 Jahren.
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Infos und Quellen
Genese
Redakteur:innen der WZ haben es sich zur Aufgabe gemacht, in der persönlichen Familienhistorie zu graben. Konkret handelt es sich um die Jahre der Nazi-Diktatur und des Zweiten Weltkriegs. Eine Zeit, über die lang nicht gesprochen wurde und über die in den meisten Familien nicht viel bekannt ist. Der verstorbene Großvater von WZ-Redakteur Mathias Ziegler hat das meiste erst seinen Enkelkindern erzählt. Und manche Details offenbarte erst ein Tagebuch, das er hinterlassen hat.
Daten und Fakten
In den 1930ern lebten in Böhmen, Mähren und Schlesien (die heute zum Staatsgebiet Tschechiens und teilweise zu Polen gehören) rund zehn Millionen Menschen, von denen ein knappes Drittel deutschsprachig war. Diese wurden Sudetendeutsche genannt – eine Bezeichnung, die der deutschnationale Politiker Franz Jesser im Jahr 1902 geprägt hatte. Infolge des Münchner Abkommens vom 29. September 1938 annektierte das Deutsche Reich die deutschsprachigen Gebiete und machte die Sudetendeutschen, die bis dahin tschechoslowakische Staatsbürger:innen gewesen waren, zu deutschen Reichsangehörigen. Gleichzeitig mussten zigtausende Tschech:innen diese Gebiete verlassen.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden die Deutschsprachigen aus der Tschechoslowakei aufgrund der Beneš-Dekrete vertrieben, was zu einer Fluchtwelle in die am 27. April 1945 ausgerufene neue Republik Österreich führte. In der Folge befanden sich auf österreichischem Staatsgebiet insgesamt rund 1,6 Millionen „Displaced Persons“, was bei einer Gesamtbevölkerung von 6,5 Millionen etwa einem Viertel entsprach. Dabei handelte es sich einerseits um ehemalige NS-Zwangsarbeiter:innen, KZ-Insass:innen, Soldaten der Wehrmacht und verbündeter Armeen sowie um 260.000 Reichsdeutsche und etwa 400.000 Volksdeutsche. Als solche wurden alle Personen deutscher Muttersprache verstanden, die sich entweder als Ergebnis der NS-Umsiedelungsaktionen oder durch Flucht, Vertreibung, Aus- und Umsiedelung nach Kriegsende auf dem Gebiet der Republik Österreich befanden. Innerhalb der Volksdeutschen stellten im August 1945 die nach Österreich Vertriebenen aus der Tschechoslowakei etwa 200.000 bis 250.000 Personen. Rund 75.000 sogenannte Altösterreicher:innen hatten vor 1938 die österreichische Staatsbürgerschaft besessen, diese aber in der NS-Zeit verloren, etwa indem sie Reichdeutsche geheiratet hatten. Etwa 60.000 von ihnen sollen aus der damaligen Tschechoslowakei gekommen sein.
Während die Mehrheit der fremdsprachigen Displaced People und der Reichsdeutschen bis Juni 1946 repatriiert wurde, konnten viele Volksdeutsche dauerhaft in Österreich bleiben. Laut Volkszählung im Februar 1946 stammten von den eingebürgerten Volksdeutschen 139.539 aus dem damaligen Jugoslawien (Donauschwaben, Gottscheer Deutsche, Südsteirer etc.), 113.648 aus der Tschechoslowakei (Sudetendeutsche, Karpatendeutsche), 56.601 aus Rumänien (Siebenbürger Sachsen, Donauschwaben), 12.718 aus Ungarn, 9.530 aus Polen und 5.650 aus anderen Staaten. Von diesen mehr als 330.000 Personen lebte damals ein Sechstel in Flüchtlingslagern. Dazu kamen 139.352 fremdsprachige Ausländer, 51.594 Südtiroler und 24.791 ausländische Juden.
Quellen
Buchtipp: Alfred Vogel: „In Pulgram daheim“
Buchtipp: Kurt Bauer: „Niemandsland zwischen Krieg und Frieden – Österreich im Jahr 1945“
Buchtipp: Dörte Hansen: „Altes Land“