Viele verstörende Bilder des Hamas-Terrors, die nicht im TV gezeigt werden, sehen wir trotzdem als Videos in den Sozialen Medien – auch in Österreich. Wie soll man damit umgehen?
Ein Hamas-Terrorist schießt in die Menge, die schreiend wegrennt. Leichen werden auf Trucks gestapelt. Eine Autokamera zeigt, wie ein Mann mit Maschinengewehr das Fahrzeug aufhält und plötzlich das Feuer eröffnet, woraufhin die Windschutzscheibe splittert. „Du siehst dieses Video und denkst dir: Scheiße, wie kommen die da jetzt raus? Und du weißt ganz genau: Die kommen da nicht mehr raus“, sagt die 27-jährige Valentine Engel, die dieses und noch andere Videos auf TikTok gesehen hat.
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Im Gespräch kommen ihr zwischendurch fast die Tränen. Denn obwohl sich das Ganze mehrere tausend Kilometer entfernt abgespielt hat, geht es ihr sehr nahe. Dabei ist sie als Social Media-Expertin schon so einiges gewohnt: Die Journalistin leitet das WZ-Social Media Team im Digitalverlag Hashtag Jetzt. „Beim Ukraine-Krieg habe ich mich genauso gefühlt. Da konnte ich ein paar Tage gar nicht aufs Handy schauen, weil mir das alles zu heftig war“, erzählt Engel. Warum sie überhaupt solche Inhalte sieht? Weil sie ihr in den Feed gespült wurden. Sie hat diese Aufnahmen nicht gesucht – die verstörenden Videos haben sie gefunden.
Bedenkliche Inhalte sofort melden
So geht es vielen, die in den Sozialen Medien Informationen zum Hamas-Israel-Krieg suchen. „Die Algorithmen der Sozialen Netzwerke richten sich nach den Präferenzen der User“, erklärt Barbara Buchegger, die pädagogische Leiterin von Saferinternet.at. Vor derartigen Posts schützen nicht einmal Kinderfilter. Buchegger appelliert deshalb an alle, sie zu melden. „Nur so lernen die Sozialen Netzwerke und ihre KI. Diese Inhalte verschwinden nur dann, wenn genügend Personen sagen, dass sie das nicht sehen wollen.“ Und das funktioniert manchmal erstaunlich gut, meint sie. „Man darf sich dabei nicht von Meldungen wie ‚Das widerspricht nicht unseren Gemeinschaftsrichtlinien‘ unterkriegen lassen.“
Auf den Gesetzgeber sollte man sich jedenfalls vorerst nicht verlassen. Denn der „Digital Services Act“ der EU ist zwar seit November 2022 in Kraft, er wird aber erst ab Februar 2024 voll greifen. Künftig soll er unter anderem Social-Media-Plattformen zwingen, ihre Algorithmen offenzulegen oder Inhalte, die gegen gewisse Regeln verstoßen, innerhalb von 24 Stunden zu sichten und gegebenenfalls zu sperren.
Was ist zumutbar?
Aber wer entscheidet, was zumutbar ist und was nicht? Wer zieht die Grenze? „Manche sagen, dass ja auch die ‚Zeit im Bild‘ Bilder von dem Blutbad beim Festival in Israel gezeigt hat“, sagt TikTok-Journalistin Engel dazu. „Ich habe auch schon das Argument gehört, dass es wichtig sei, diese Videos zu teilen, damit die Leute auf der ganzen Welt sehen, wie grausam der Terror der Hamas tatsächlich ist. Aber ist es gerechtfertigt, wenn man bedenkt, wie würdelos Menschen hier gezeigt werden? Ich weiß nicht, ob ich wollen würde, dass solche Aufnahmen von mir verbreitet werden.“
Sind solche Videos also eine wichtige Informationsquelle oder bedienen sie doch eher Gruselvoyeurismus aus der Distanz, indem Bilder frei Haus geliefert werden, mit denen das blutigste Videospiel in Full-HD nicht mithalten kann? Womöglich dienen sie aber auch in erster Linie der Hamas, die sie selbst als Propagandainstrument ausstreut, um den Krieg ins Internet zu tragen und so Angst und Schrecken zu verbreiten? Und: Ist das alles überhaupt echt? Auch diese Frage beschäftigt viele User:innen.
Die schrecklichen Bilder wirken auf die meisten sehr verstörend.Birgit Satke, Leiterin von 147 Rat auf Draht
Ob diese Videos zu einer verstärkten Radikalisierung führen können, will Buchegger noch nicht beurteilen, „dazu ist es zu früh. Wir wissen noch nicht, in welche Richtung sich dieser Krieg weiterentwickeln wird, auch online.“ Grundsätzlich kann sie sich schon vorstellen, dass solche Inhalte in gewissen extremistischen Filterblasen eine Rolle spielen. Politisch verfangen dürften die Inhalte bei wenigen jugendlichen Rezipient:innen, meint Werner Prinzjakowitsch, der pädagogische Leiter des Vereins Wiener Jugendzentren: „Unsere Hauptzielgruppe, die 13- bis 17-Jährigen, haben grundsätzlich keine gefestigten politischen Einstellungen, auch wenn manche das vorgeben.“ Meistens würden bloß oberflächliche, platte Slogans unreflektiert nachgeplappert – und bald wieder vergessen. „Und sogar das ist in Wirklichkeit eine kleine Gruppe, die allerdings in der Öffentlichkeit stark wahrgenommen wird.“
Den Alghorithmus umlernen lassen
Bei der Notrufnummer 147 Rat auf Draht berichtet man von ersten Anrufen zu diesem Thema. Diese drehen sich allgemein um die Angst vor dem Krieg und wie man damit umgehen kann. „Die schrecklichen Bilder wirken auf die meisten sehr verstörend, und sie wissen nicht, wie sie diese einordnen sollen“, berichtet Leiterin Birgit Satke. Sie rät zu bewussten Medienpausen, um die Nachrichtenflut besser verdauen zu können. Und ein bisschen gegensteuern kann man auch beim Algorithmus: Der lernt nämlich um, wenn man bewusst andere Inhalte sucht.
Bei Prinzjakowitsch zuhause ist das Thema noch nicht aufgeschlagen, wahrscheinlich weil sein 14-jähriger Sohn „sich mehr für Fußball interessiert als für den Nahen Osten“. Sollten diese Videos doch in der Timeline auftauchen, würde ihm das alleine noch keine Sorgen machen. Er geht auch davon aus, dass die meisten, die sie zu sehen bekommen, davon angewidert sind und aussteigen, sobald ihnen klar wird, was da gezeigt wird. „Der Punkt, wo es heikel wird, ist, wenn jemand so etwas teilt, womöglich sogar häufiger. So etwas kann ja auch ins Strafrechtliche kippen.“
Nicht schimpfen, sondern Interesse zeigen
Grundsätzlich sollten Eltern natürlich beobachten, wo sich ihre Kinder online herumtreiben, und auch echtes Interesse daran zeigen. Und wer die richtigen Fragen stellt, wird bald feststellen, ob bedenkliche Inhalte bewusst gesucht werden oder nicht. Wobei der Jugendarbeiter es an sich gut findet, wenn Jugendliche „auf Verunsicherung reagieren, indem sie Informationen sammeln“. Sein Job und auch jener der Eltern sei es, ihnen dabei als Unterstützung zur Seite zu stehen und gemeinsam seriöse Quellen zu suchen. Und ihnen klarzumachen, dass man eben nicht allem trauen kann, was man im Netz so findet.
Schimpfen Sie nicht mit Ihrem Kind, wenn es auf solche Videos stößt!Barbara Buchegger, pädagogische Leiterin von Saferinternet.at
Was Buchegger allen Eltern dringend rät: „Schimpfen Sie nicht mit Ihrem Kind, wenn es auf solche Videos stößt!“ Denn selbst wer sich von TikTok, YouTube oder Instagram fernhält, kann zum Beispiel in einer WhatsApp-Kindergruppe damit konfrontiert werden. „Da sollte man mit den anderen Eltern darüber reden, dass das dort nichts verloren hat“, rät sie. Ganz wichtig ist, die Kinder zu fragen, wie es ihnen damit geht, ob sie sich unsicher fühlen und was man dagegen tun kann. Denn gerade Kinderängste sind zwar oft irrational, aber umso präsenter, betont die Expertin. Manchmal tut es auch einem Zehnjährigen noch gut, für ein, zwei Nächte wieder im Elternbett zu schlafen, wenn er verstörende Inhalte im eigenen Bett am Handy gesehen hat und sich jetzt dort vor dem Einschlafen fürchtet.
Unterschiede bei der Resilienz
Kinder und Jugendliche gehen sehr unterschiedlich mit gewalttätigen Inhalten um. Buchegger führt als Beispiel brutale Computerspiele an: Die einen ängstigen und verstören sie, andere nehmen die Gewalt recht abstrakt war und denken nicht groß darüber nach – und es gibt sicher aus Rezipient:innen, die sich daran förmlich aufgeilen. „Es hängt halt auch immer davon ab, wie das soziale Umfeld aussieht, ob die Kinder mit solchen Inhalten alleingelassen werden oder mentale Unterstützung haben“, sagt Buchegger. „Es ist erstaunlich, wie groß die Unterschiede in der Resilienz sind.“ Das gilt nun auch für die Hamas-Videos. Dass manche davon mit Trigger-Warnungen versehen sind, sieht sie ambivalent: „Es gibt Jugendliche, die das gut und wichtig finden, damit sie nicht hineinstolpern, während andere dann erst recht die Attraktion wittern.“
Kein neues Phänomen
Grundsätzlich ist das Phänomen kein neues, erzählt Prinzjakowitsch: „Solche Videos wurden zum Beispiel auch zum syrischen Bürgerkrieg vor gut zehn Jahren verbreitet.“ In seiner Erinnerung haben viele davon eher abschreckend gewirkt. Buchegger erinnert an die berüchtigte Website Rotten.com, die ab 1996 Schockbilder zeigte – zu einer Zeit also, als von Sozialen Medien noch längst keine Rede war. Diese Bilder waren damals freilich wesentlich weniger verbreitet – und dienten auch nicht der psychologischen Kriegsführung.
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Infos und Quellen
Genese
Der Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober wurde in vielen Videos festgehalten, die nach und nach ihren Weg in die Sozialen Medien gefunden haben. WZ-Redakteur Mathias Ziegler hat mit Expert:innen darüber gesprochen, was es für die jugendlichen Rezipient:innen bedeutet, wenn sie unvermittelt mit diesen gewalttätigen Inhalten konfrontiert werden.
Gesprächspartner:innen
Barbara Buchegger, pädagogische Leiterin von Saferinternet.at
Valentine Engel, Projektleiterin bei Hashtag Jetzt
Werner Prinzjakowitsch, pädagogischer Leiter im Verein Wiener Jugendzentren mit rund 240 Mitarbeiter:innen
Leiterin Birgit Satke, Leiterin von 147 Rat auf Draht
Quellen
Das Thema in der Wiener Zeitung
Das Thema in anderen Medien
BBC: TikTok latest firm after X and Meta to be warned by EU over Hamas videos
The New York Times: Hamas Seeds Violent Videos on Sites With Little Moderation
Forbes: Fearing Hamas Execution Videos, Schools Urge Families To Delete TikTok And Instagram
The Washington Post: Why TikTok videos on the Israel-Hamas war have drawn billions of views