Cousins kommen aus Foltergefängnissen frei, Pläne für Sommerferien in Syrien werden geschmiedet, auf der Straße wird gefeiert: Bei den Syrer:innen in Wien herrscht großflächige Erleichterung über den Sturz Assads – für jetzt einmal.
„Das sind die schönsten Stunden meines Lebens, die historischste Nacht, ich hätte nie gedacht, dass ich das noch erlebe“, schreibt mir Obada euphorisch in der Nacht von Samstag auf Sonntag, als bekannt wird, dass Syriens bisheriger Machthaber Baschar al-Assad aus seinem Land geflohen ist, und somit seine jahrelange Schreckensherrschaft ein Ende hat.
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Obada ist 31 Jahre alt, in Österreich geboren, seine Eltern stammen aus Aleppo. Der Jurist hat viele Verwandte, die noch in Syrien leben. Unter anderem sein Cousin, der seit drei Jahren als politischer Gefangener in einem von Assads Foltergefängnissen in Aleppo inhaftiert war. Letzte Woche wurde der 35-Jährige von den Rebellen befreit. Nach 54 Jahren Diktatur des Assad-Clans geht eine Ära zu Ende. Für den Großteil der etwa 100.000 in Österreich lebenden Syrer:innen ein Grund zur Freude, darunter auch für Obada: „Ich glaube, die Dimension davon, was jetzt passiert, können sich nur Syrer:innen vorstellen. Drei Generationen kennen nur Syrien unter Assad-Herrschaft, Foltergefängnisse, Verschwinden-Lassen und Taqareer. Das sind sogennante Spitzel-Berichte, die Bürger:innen über andere Personen schreiben können und die dem Geheimdienst übermittelt werden.
Das sind die schönsten Stunden meines Lebens.Obada
Obada war zuletzt 2009 in Syrien, danach ging das nicht mehr, weil er sonst zum syrischen Militärdienst eingezogen worden wäre, trotz österreichischer Staatsbürgerschaft. Das Ablegen der syrischen Staatsbürgerschaft erlaubt das Land nämlich nicht. Seit Sonntag fühlt er sich mit seinen syrischen Wurzeln mehr verbunden als je zuvor, wie er selbst sagt – und sobald sich die Lage einigermaßen geklärt hat, möchte er wieder mal nach Syrien. „Österreich leistete 2015 mit der Aufnahme tausender Syrer:innen und den Mitteln für humanitäre Hilfe vor Ort wichtige Unterstützung. Ich wünsche mir jetzt, dass es für mich einen Platz im Wiederaufbau Syriens gibt.“
Kollektive Euphorie
Wie Obada geht es gerade dem Großteil der in Österreich lebenden Syrer:innen: Vergangenen Sonntag feierten und jubelten etwa 30.000 Menschen auf einer Feierdemo entlang des Wiener Rings. Die Großdemonstration war von der „freien syrischen Gemeinschaft in Österreich in Solidarität mit der syrischen Revolution“ organisiert worden. Menschen sind sich in die Arme gefallen, haben Syrien-Flaggen geschwungen, es wurde viel gebusselt und einfach nur gefeiert. Die Erleichterung vieler war vor Ort gut zu spüren. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie es uns geht, du weißt nicht, was da gerade passiert“, grinst der 17-jährige Schüler Zaid, der gemeinsam mit seinen Freunden hergekommen ist, um den Sturz Assads zu feiern. Über ihren Jacken tragen sie syrische und österreichische Flaggen. Er ist mit seinen Eltern 2016 nach Österreich gekommen. An Syrien kann er sich fast nur noch aus Erzählungen erinnern. „Ich würde einerseits gern wieder zurück, vor allem, um meine Großeltern zu sehen – aber nicht für immer, nur in den Sommerferien, das planen wir gerade. Ich bin ja hier aufgewachsen, ich kenne nur das Leben in Österreich. Aber heute ist der schönste Tag meines Lebens.“ Zustimmendes Nicken in der Runde der jungen Männer.
Diese kollektive Euphorie kann Soziologe Kenan Güngör gut nachvollziehen. „Der Großteil der in Österreich lebenden Syrer:innen hat während des Assad-Regimes in Syrien Verwandte verloren. Der Gedanke, dass der ’allmächtige Assad’ endlich weg ist, ist für viele gerade sehr emotional.“ Gleichzeitig bedeutet der Umsturz laut Güngör aber auch Unsicherheit. Vor allem für jene ohne sicheren Aufenthaltsstatus. Österreich hat alle laufenden Asylverfahren aus Syrien einstweilen gestoppt. Die Schutzgründe müssen erneut geprüft werden, heißt es seitens des Innenministeriums.
Der Großteil hat während des Assad-Regimes in Syrien Verwandte verloren.Kenan Güngör, Soziologe
„Ich wünsche mir Demokratie“
„Ich bin gerade einfach nur überrascht und glücklich. Ich hätte echt nicht mehr damit gerechnet, wir waren an das Elend dieser Regierung schon so gewöhnt“, sagt auch die 21-jährige Banan. Sie ist hocherfreut über den politischen Umsturz. Banan wurde 2003 in Damaskus geboren und ist 2017 mit ihrer Familie aufgrund des Kriegs und des Assad-Regimes nach Österreich gekommen. Sie ist hier asylberechtigt und hat den sogenannten Konventionspass. Banan steckt mitten in ihrem Jus-Studium, nebenbei arbeitet sie in einer Anwaltskanzlei. Sie würde gern wieder nach Syrien, um Familienangehörige, die sie lang nicht mehr gesehen hat, zu besuchen. „Ob das möglich sein wird, weiß ich aber noch nicht – ich bin und bleibe ja derweil ein Flüchtling.“ Banan hat einen unbefristeten Aufenthaltstitel, kann also in Österreich bleiben. Über die Zukunft Syriens macht sich die Studentin, genau wie alle anderen, Gedanken. „Ich wünsche mir eine demokratisch legitimierte Regierung, Gewaltentrennung, Behörden ohne Korruption – und vor allem eben demokratische Wahlen. Aber im Moment will ich mich einfach mal nur freuen.“
Wir waren an das Elend dieser Regierung schon so gewöhnt.Banan
Banan würde sich wünschen, dass Medien nicht „jede Opposition als Terror“ bezeichnen. „Klar gibt es innerhalb dieser Gruppierungen problematische Personen, aber die ganze Revolution deshalb als islamistischen Terror zu bezeichnen, und von einer Diktatur wegzuschauen, unter der ein Volk 14 Jahre gelitten hat, ist auch problematisch.“
Tatsächlich: Die nun führende Oppositionsbewegung HTS ( Hay'at Tahrir al-Sham) entstand aus der ehemaligen al-Nusra-Front, die eng mit Al-Qaida verbunden war, hat sich zu einer der wichtigsten militant-islamistischen Gruppen in der Region entwickelt. In der Vergangenheit griff sie immer wieder zu gewaltsamen Mitteln, um ihre politischen Maßnahmen durchzusetzen. Die HTS ist von einigen Staaten als Terrororganisation eingestuft, auch von der EU. In Österreich gilt sie nicht als solche. Auch Expert:innen wie Charles Lister vom Middle East Institute sehen die HTS-Mitglieder nicht als Terroristen, sondern als Rebellen, die gegen Assad gekämpft haben – und das seit Jahren. Der Anführer der HTS, Abu Muhammad al-Dschaulani, der von den USA als Terrorist gesucht wurde, will einen „ordentlichen syrischen Staat“ einführen, die Abwicklung soll friedlich passieren. Der ehemalige Dschihadist gilt mittlerweile als gemäßigt. „al-Dschaulani“ („Der vom Golan“) war sein bisheriger Kampfname, den er nun abgelegt hat. Bürgerlich heißt er Ahmed al-Sharaa – Bekannheit erlangte er allerdings unter seinem Nom de Guerre. Der ehemalige Gouverneur der Rebellenhochburg Idlib und Mitglied der HTS, Mohammed al-Bashir, soll bis März die Übergangsregierung anführen.
„Al-Dschaulani tritt sehr staatsmännisch auf“
Soziologe Gungör ist selbst über das militärische und kommunikative Vorgehen der HTS überrascht. „Al-Dschaulani muss eine sehr gute PR-Beratung haben, ich würde ihn als ’moderaten Dschihadisten’ bezeichnen. Man muss ihm lassen, dass er sehr staatsmännisch auftritt. Ich hoffe, dass in Syrien jetzt kein islamistischer Gottesstaat ausgerufen wird – das will nur ein bestimmter Teil der Bürger:innen. Dafür ist das Land zu sekulär, das würde zu einem Bürgerkrieg führen.“ Dass Assad und sein Regime widerstandslos aufgegeben haben, habe immerhin einen hohen Blutzoll erspart. Jetzt wolle die HTS keinen „neuen failed state“ erschaffen. Er kann sich aber vorstellen, dass es in Zukunft in Syrien zu innerdschihadistischen Konflikten zwischen unterschiedlichen Gruppierungen kommen kann – jetzt, wo der gemeinsame Feind Assad von der Bildfläche verschwunden ist. Auch könnte es für Minderheiten, wie beispielsweise in den kurdischen Gebieten, schwierig werden. Für gezielte Prognosen sei es allerdings noch zu früh. Die Machtübernahme ist wenige Tage her, momentan gibt es für einen großen Teil der Diaspora einfach nur Grund zur Freude.
„Ich will verlorene Zeit mit meiner Familie nachholen“
„Ich kann endlich aufatmen – ich habe meine Familie und Freunde in Syrien viel zu lang nicht mehr gesehen.“ 16 Jahre, um genau zu sein: Der 32-jährige Omar ist in Wien geboren, sein Vater stammt aus der syrischen Stadt Hama. Omar arbeitet als Projektmanager und war zuletzt 2008 in Syrien. Sobald er 18 geworden ist, bestand die Gefahr, dass er bei der Einreise nach Syrien ins syrische Heer einberufen wird – obwohl er seinen Grundwehrdienst bereits in Österreich absolviert hat. „In Syrien unter Assad war es nämlich oft so: Sobald man syrische Eltern hat, wird man automatisch als Syrer angesehen und so behandelt, unabhängig von einem anderen Staatsbürgerschaftsstatus.“ Es war für ihn also zu gefährlich, dorthin einzureisen.
Es wäre wünschenswert, wenn die EU eine Rolle beim Wiederaufbau spielt.Omar
„Ich hoffe einfach, verlorene Zeit mit Verwandten nachzuholen und somit wieder einen engeren Bezug zur Heimat meiner Eltern aufzubauen“, so der 32-Jährige. „Ich wünsche mir für Syrien eine demokratische Regierung – das mag naiv erscheinen, aber ich will die Hoffnung nicht aufgeben. Ich traue mich momentan noch keine Prognosen zu stellen, was die Zukunft Syriens anbelangt – aber natürlich wäre es wünschenswert, wenn die EU eine Rolle beim Wiederaufbau spielt. Es braucht internationale Hilfsbereitschaft, damit Menschen, die geflohen sind, in ihre Heimat zurückkehren können. Ich denke da vor allem an Infrastruktur und Bildung.“ Bis es soweit sein kann, werden sich die Ereignisse wohl noch über einen längeren Zeitraum überschlagen – seit Montag fliegt Israel laut Aktivist:innen die bisher schwersten Luftangriffe auf Syrien – was Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu dementiert. Immer mehr EU-Staaten stoppen Asylanträge von Syrer:innen, die UNHCR (Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen) spricht sich gegen Abschiebungen nach Syrien aus. Syrer:innen in Wien verfolgen die Ereignisse ununterbrochen, sprechen von Hoffnung und gleichzeitig von Unsicherheit. Der Grundtenor in der Community bleibt aber einstweilen: „Egal, was jetzt kommen wird, lasst uns bitte jetzt mal freuen.“
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Infos und Quellen
Genese
Nach dem Sturz Assads erreichten WZ-Redakteurin Aleksandra Tulej mehrere euphorische und einprägsame Nachrichten von Freund:innen aus der syrischen Diaspora in Wien. Sie hat ihre Gedanken niedergeschrieben und hat sich zudem noch auf der „Syrien-Demo“ am 8. Dezember umgeschaut, um die Stimmung einzufangen.
Gesprächspartner:innen
Obada, 31, Jurist, in Wien geboren, hat syrische Wurzeln.
Banan, 21, Studentin, in Damaskus geboren, seit 2017 in Österreich.
Omar, 32, Projektmanager, in Wien geboren, hat syrische Wurzeln.
Zaid, 17, Schüler, in Damaskus geboren, seit 2016 in Österreich.
Daten und Fakten
Laut Statistik Austria sind 2024 95.180 Syrer:innen als wohnhaft in Österreich gemeldet.
Für viele von ihnen war der 8. Dezember 2024 ein historisch wichtiger Tag. Der langjährige Machthaber Syriens, Baschar Al-Assad, wurde gestürzt.
Baschar al-Assad und sein Regime werden für zahlreiche Menschenrechtsverletzungen verantwortlich gemacht, vor allem seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs im Jahr 2011.
Assad-Truppen haben wiederholt zivile Einrichtungen wie Krankenhäuser, Schulen und Wohngebiete bombardiert, was zu Tausenden von zivilen Todesopfern geführt hat.
In den Gefängnissen des Assad-Regimes, wie im berüchtigten Saydnaya-Gefängnis, wurden laut Berichten systematisch Gefangene gefoltert, misshandelt und getötet. Zehntausende Menschen gelten als „verschwunden“, nachdem sie vom Regime verhaftet wurden. Viele von ihnen wurden ohne Anklage oder Gerichtsverfahren festgehalten. Familien hatten und haben oft keine Informationen über das Schicksal ihrer Angehörigen.
Seit dem Jahr 2000 stand Baschar al-Assad als Präsident an der Spitze Syriens. Im Jahr 2011 reagierte er auf erste Proteste gegen seine Herrschaft mit Gewalt, was einen Bürgerkrieg auslöste. Assad führte diesen Konflikt mithilfe von Verbündeten wie Russland, dem Iran und der Hisbollah gegen Teile der eigenen Bevölkerung. Am 8. Dezember 2024 gelang es syrischen Kräften unter der Führung der islamistischen Miliz Hay'at Tahrir al-Sham (HTS), die Hauptstadt Damaskus einzunehmen. Assad und seine Familie sind nach Moskau geflohen.
Vor Baschar al-Assad war sein Vater Hafiz al-Assad Präsident von Syrien. Hafiz al-Assad regierte das Land von 1971 bis 2000. Er starb im Jahr 2000, woraufhin sein Sohn Baschar die Präsidentschaft übernahm.
Nach einer längeren Phase relativer Ruhe im syrischen Bürgerkrieg starteten die HTS-Kämpfer gemeinsam mit verbündeten Gruppen am 27. November eine unerwartete Großoffensive gegen die Regierungstruppen und rückten dabei sehr schnell vor.
An der Spitze von Hay'at Tahrir al-Sham (HTS), einer früheren syrischen Zweigstelle von Al-Qaida, die sich jedoch vor mehreren Jahren offiziell von dem Terrornetzwerk distanzierte, steht Abu Muhammad al-Dschaulani.
Quellen
Amnesty International: Das Ende der Assad-Herrschaft in Syrien: Eine historische Chance für die Menschenrechte
Österreichischer Integrationsfonds: Syrische Bevölkerung in Österreich
Das Thema in der WZ
Das Thema in anderen Medien
Tagesschau: Liveticker zu den Ereignissen in Syrien
FAZ: Aktivisten: „Keine weiteren Häftlinge mehr in Assads Schlachthaus"
Kleine Zeitung: Was der Umsturz in Syrien für Geflüchtete in Österreich bedeutet