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Die Blutspur der Geiselnahmen

7 Min
Die in Mogadischu befreiten Geiseln der Lufthansa-Maschine „Landshut“ kehren zurück.
© CC BY-SA 3.0 de, Bundesarchiv, B 145 Bild-F051866-0010 / Wegmann, Ludwig

Die Geiselnahmen durch die Hamas sind von einer bisher nicht gekannten Brutalität. Zuvor gab es vier Geiselnahmen, die bleibend traumatisierten. Dabei versuchten die Terroristen, Gesinnungsgenossen freizupressen.


„Eine Geiselnahme ist ein Freiheitsdelikt gegen die persönliche Freiheit und gegen die körperliche Integrität einer natürlichen Person.“ So definiert das Internet-Lexikon Wikipedia den Vorgang und lässt dabei außer Acht, dass mit einer Geiselnahme in der Regel ein Ziel verbunden ist: Die Geiselnehmer wollen sich freies Geleit erzwingen, in anderen Fällen geht es um Geld, um politische Ziele und sehr oft um das Freipressen von Gefolgsleuten.

Beim Überfall der Hamas auf Israel erlebt die Welt gegenwärtig eine Art von Geiselnahme, die in ihrer Brutalität und Menschenverachtung auf dermaßen breiter Basis etwas Neues darstellt. Dass die Hamas gerade zu diesem Mittel greift, ist allerdings nur konsequent: In der jüngeren Geschichte konnten radikale Palästinenser mit vier Geiselnahmen die Welt in einen Schockzustand versetzen und jedes Mal wieder eine Diskussion über Ursache und Wirkung in Gang setzen.

5. September 1972, München

Während der Olympischen Spiele 1972 in München überfallen Mitglieder der palästinensischen Terrororganisation Schwarzer September die israelische Mannschaft in deren Wohnquartier im olympischen Dorf. Zwei Sportler werden sofort ermordet, neun weitere als Geiseln genommen. Die Geiselnehmer verlangten die Freilassung von 200 in Israel gefangenen palästinensischen Terrorist:innen und freies Geleit für sich und die Geiseln in eine arabische Hauptstadt mit einem dafür eigens zur Verfügung gestellten Flugzeug.

Die Verhandlungen verlaufen ohne Ergebnis. Die Bundesrepublik Deutschland setzt auf ein scheinbares Eingehen auf die Forderungen und einen Befreiungsversuch durch die bayerische Polizei, ohne Eliteeinheiten aus Israel hinzuziehen. Die dilettantisch durchgeführte Aktion auf dem Flugplatz Fürstenfeldbruck scheitert auf tragische Weise. Am Ende sind die neun israelischen Sportler, fünf der acht Terroristen und ein Polizist tot.

Deutschland zieht die Lehre aus der unglücklichen Handlungsweise der Polizei und gründet die Antiterroreinheit GSG 9.

Das Verbrechen wird nie juristisch aufgearbeitet, da die drei überlebenden Terroristen kurze Zeit später durch die Entführung des Lufthansa-Fluges 615 freigepresst werden.

Der Terrorakt und der Umgang mit ihm überschattet lange Jahre die sonst guten Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Israel. Erst am 5. September 2022 zitiert die deutsche Bundesregierung in einer Aussendung Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier: „Wir können nicht wiedergutmachen, was geschehen ist, auch nicht, was Sie an Abwehr, Ignoranz und Unrecht erfahren und erlitten haben. Das beschämt mich. Ich bitte Sie als Staatsoberhaupt dieses Landes und im Namen der Bundesrepublik Deutschland um Vergebung für den mangelnden Schutz der israelischen Athleten damals bei den Olympischen Spielen in München und für die mangelnde Aufklärung danach; dafür, dass geschehen konnte, was geschehen ist.“

4. Juli 1976, Entebbe (Uganda)

Eine Woche lang dauert das Martyrium von Besatzungsmitgliedern und Passagier:innen einer Air-France-Maschine. Palästinensische und deutsche Terrorist:innen bringen den mit zwölf Besatzungsmitgliedern und 258 Fluggästen besetzten Airbus, der von Tel Aviv nach Paris fliegen soll, am 27. Juni in ihre Gewalt. Die Terrorist:innen gehören der Gruppe „Popular Front for the Liberation of Palestine – External Operations” an, die von Wadi Haddad angeführt wird. Dazu kommen Wilfried Böse und Brigitte Kuhlmann, zwei Gründungsmitglieder der Revolutionären Zellen.

In Entebbe separieren die Terrorist:innen 77 israelische Geiseln und zehn Personen mit französischem Pass und lassen die anderen Geiseln frei. Mit der Geiselnahme sollen 53 inhaftierte Terrorist:innen aus Gefängnissen in Israel, Frankreich, der Bundesrepublik Deutschland und der Schweiz freigepresst werden.

Das israelische Militär startet daraufhin eine Befreiungsaktion. Sieben Geiselnehmer:innen werden erschossen, weiters kommen drei Geiseln und rund 20 ugandische Soldaten, die sich den israelischen Kräften entgegenstellen, ums Leben. Unter den Toten ist der israelische Elite-Soldat Oberstleutnant Yonatan Netanyahu, der Bruder des derzeit amtierenden Präsidenten. Seit seinem Tod gilt Yonatan Netanyahu in Israel als Volksheld.

18. Oktober 1977, Mogadischu (Somalia)

Die Entführung der Lufthansa-Boeing „Landshut“ beginnt am 13. Oktober 1977 nach dem Start in Palma de Mallorca und endet nach einer Odyssee am 18. Oktober 1977 in Mogadischu. Vier Terrorist:innen gehören der PFLP-SC an, einer Abspaltung der Volksfront zur Befreiung Palästinas. Anführer war Zohair Youssif Akache, der sich „Kapitän Märtyrer Mahmud“ nannte, nach dem Kampfnamen des im Juli 1976 bei der Operation Entebbe getöteten Flugzeugentführers Wilfried Böse. Die Forderung der Terrorist:innen: Freilassung von elf in Deutschland inhaftierten RAF-Terrorist:innen.

Da die Zielflughäfen der Geiselnehmer:innen gesperrt werden oder die Landeerlaubnis verweigern, fliegt die Maschine nach Dubai, von dort nach Aden (Jemen) und landet schließlich in Mogadischu.

In Aden erschießt ein Terrorist den Piloten Jürgen Schumann. Der Co-Pilot Jürgen Vietor muss die „Landshut" allein nach Somalia fliegen.

Die Terrorist:innen erzeugten mit Absicht extrem schlechte hygienische Zustände an Bord des Flugzeugs: Willkürlich wählen sie aus, welche Passagier:innen die Toilette benützen dürfen und nehmen Frauen die Pille weg, damit die Regelblutungen einsetzen. Dazu kommt, dass die Temperatur in der Kabine zeitweise bis auf 50 Grad klettert.

Am 18. Oktober 1977 stürmt die GSG 9 das Flugzeug. „Operation Feuerzauber“ heißt die Aktion. Eine Flugbegleiterin wird dabei verletzt; alle weiteren noch lebenden Geiseln kommen unverletzt frei. Drei Geiselnehmer werden bei der Befreiungsaktion erschossen.

Die Geiselbefreiung in Mogadischu ist mit großer Wahrscheinlichkeit der Auslöser für den kollektiven Suizid der inhaftierten RAF-Spitze in Stammheim, die wiederum die Ermordung des entführten Wirtschaftsfunktionärs Hanns Martin Schleyer zur Folge hat.

Wir können nicht wiedergutmachen, was geschehen ist.
Frank-Walter Steinmeier, Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland

7. Oktober 1985, an Bord der „Achille Lauro“

Am 7. Oktober 1985 bringen vier Männer der PLO-Splittergruppe „Palästinensische Befreiungsfront" (PLF) das italienische Kreuzfahrtschiff „Achille Lauro“ in ihre Gewalt und zwingen den Kapitän, Kurs auf den syrischen Hafen Tartus zu nehmen. Die Entführer wenden sich an die syrischen Behörden und verlangen, dass Israel 50 inhaftierte palästinensische Terroristen freilässt, andernfalls werde man mit der Tötung von Geiseln beginnen. In Absprache mit Italien und Israel reagieren die syrischen Behörden nicht.

In der Folge suchen die Terroristen gezielt nach Passagier:innen mit israelischen Pässen oder jüdisch anmutenden Namen. Schließlich sondern sie den 69-jährigen US-Bürger Leon Klinghoffer, der nach einem Schlaganfall Rollstuhlbenützer ist, von den anderen ab. Der Anführer der Terroristen erschießt Klinghoffer und lässt ihn samt seinem Rollstuhl über Bord werfen.

Nach einer dreitägigen Irrfahrt legt die „Achille Lauro" im ägyptischen Port Said an. Ein Team von Vermittlern nimmt die Verhandlungen auf. Unter den Vermittlern ist der vom Palästinenserführer Jassir Arafat entsandte Abu Abbas, der sich später als Drahtzieher der Entführung der „Achille Lauro“ herausstellt.

Die Terroristen verlangen freies Geleit. Da man bis dahin glaubt, alle Geiseln seien unverletzt, sichert Ägypten das freie Geleit zu. Daraufhin stellen sich die Terroristen den ägyptischen Behörden. Als der Mord an Klinghoffer offenbar wird, drängen die USA darauf, die Terroristen doch zu belangen. Auch Israel fordert von Ägypten Verhaftungen, und Italien verlangt die Auslieferung der Männer, da sich der Mord auf einem italienischen Schiff ereignet hat.

Das Nachspiel ist eine unwürdige Posse: Zuerst behauptet Ägypten, die vier Terroristen hätten bereits das Land verlassen – eine glatte Lüge. Die Geheimdienste der USA und Israels finden heraus, dass die vier Terroristen nach Tunesien ausgeflogen werden sollen. US-Kampfjets fangen die Maschine ab und zwingen sie zur Landung auf einem NATO-Flugplatz in Sizilien. Dort umstellten Navy Seals die Maschine, die ihrerseits von italienischen Soldaten umzingelt werden. Es beginnt ein Tauziehen, welcher Staat für das Rechtsverfahren zuständig ist. Schließlich werden die Terroristen an Italien übergeben und verurteilt. Ein Gericht in den USA verurteilt Abu Abbas in Abwesenheit. Erst 2003 spüren ihn US-Elitesoldaten im Irak auf. Ein Jahr später stirbt er in US-amerikanischem Gewahrsam.

Erst der Schock, dann die Relativierung

Diese vier Geiselnahmen schockierten den Westen, da sie zeigten, dass die palästinensischen Terrorist:innen nicht nur bereit sind, im Sinn eines falsch verstandenen Märtyrertums ihr eigenes Leben zu riskieren. Sie sind auch bereit, Zivilist:innen zu töten, die weder mit den Forderungen noch mit dem Nahost-Konflikt in irgendeiner Verbindung stehen.

Ein bemerkenswertes Phänomen bleibt der Umgang mit solchen Terrorakten. Denn auf die spontane Abscheu folgt alsbald eine Täter-Opfer-Relativierung, deren Ausgangspunkt zumeist die Frage ist, ob „die Palästinenser“, die man ohnedies allzu oft als undifferenzierte Gruppe betrachtet, überhaupt eine andere Möglichkeit als den Terrorismus haben, um auf ihre Lage vor allem im Gaza-Streifen aufmerksam zu machen. Wie weit solche Relativierungen gehen können, lässt sich ausgerechnet an der Oper eines US-amerikanischen Komponisten ablesen: „The Death of Klinghoffer“ mit einem Textbuch von Alice Goodman, 1991 uraufgeführt, lässt durchklingen, dass Librettistin und Komponist Sympathien für die Anliegen der Palästinenser haben und durchaus Verständnis für die Terroristen an Bord der „Achille Lauro“ aufbringen.

Derzeit freilich sind die aktuellen Vorgänge in Israel, die Geiselnahmen und Schändungen der Geiseln, zu aktuell, um nicht in erster Linie Entsetzen auszulösen. Zu befürchten ist, dass mit der Zeit auch die altbekannte Relativierung wieder eintritt.


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Infos und Quellen

Daten und Fakten

  • Frank-Walter Steinmeier (geboren am 5. Januar 1956 in Detmold) ist seit 19. März 2017 Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland. Er wurde am 13. Februar 2022 für eine zweite Amtsperiode wiedergewählt, die am 18. März 2027 endet.

  • Wadi Haddad (1927-1978) war ein palästinensischer Terrorist der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) und Agent des sowjetischen Geheimdiensts KGB.

  • Die „Volksfront zur Befreiung Palästinas“ (englisch Popular Front for the Liberation of Palestine, abgekürzt PFLP) ist eine 1967 gegründete Palästinenserorganisation. Sie ist terroristisch und politisch aktiv. EU und USA stufen die PFLP als Terrororganisation ein.

  • Nicht zu verwechseln mit der PLFP ist die PLF, die Palästinensische Befreiungsfront (abgekürzt von Englisch: Palestine Liberation Front). Die PLF ist eine militante palästinensische Gruppe. Sie wurde 1959 von Ahmad Dschibril gegründet, hat ihren Sitz in der Stadt Ramallah in den palästinensischen Autonomiegebieten im Westjordanland. Die EU stuft diese Gruppierung als terroristisch ein.

  • Die RAF (abgekürzt für Rote Armee Fraktion) war eine linksextremistische terroristische Vereinigung in der Bundesrepublik Deutschland. Ihr werden mindestens 33 Morde zugeschrieben. In ihrem Selbstverständnis war die RAF eine kommunistische, antiimperialistische Stadtguerilla. Sie wurde 1970 von Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Horst Mahler und Ulrike Meinhof gegründet. Andreas Baader und Gudrun Ensslin begingen am 18. Oktober 1977 in Stuttgart-Stammheim Suizid, Ulrike Meinhof erhängte sich am 9. Mai 1976 in ihrer Zelle in Stammheim. Horst Mahler wurde 1980 aus der Haft entlassen und wieder als Rechtsanwalt zugelassen. In jüngerer Zeit musste er sich mehrfach wegen Volksverhetzung und Leugnung des nationalsozialistischen Völkermordes vor Gericht verantworten. Das letzte Verfahren wurde im April 2023 in Hinblick auf Mahlers Gesundheitszustand eingestellt. Die RAF erklärte 1998 ihre Selbstauflösung.

  • Abu Abbas ist der Kampfname von Muhammad Zaidan (1948-2004). 1977 gründete er die PLF. Er war Drahtzieher der Entführung der „Achille Lauro“. 1996 bat er für den Mord an Leon Klinghoffer um Entschuldigung. Der israelische Geheimdienst verdächtigte ihn nichts desto weniger weiterer terroristischer Aktivitäten.

Quellen

Das Thema in anderen Medien