Zum Hauptinhalt springen

Österreichs Chefverhandler

6 Min
Vor allem in krisenhaften Zeiten spielt die Sozialpartnerschaft ihre Stärken aus.
© Illustration: WZ, Bildquelle: Getty Images

Durch die Sozialpartnerschaft wurde Österreich von einem Armenhaus zu einem Mitglied im Club der Wohlhabenden. Ist sie heute noch zeitgemäß?


Wirtschaftlicher Abschwung, Rekordinflation, gar eine drohende Deindustrialisierung: Die Zeiten waren schon mal besser, und das sieht man auch auf der Straße. Schon im Frühjahr blieben Flugzeuge am Boden und Züge in den Remisen, als deutsche Gewerkschaften zu ganztägigen Streiks aufriefen. Auch in Großbritannien, Spanien und Portugal legten Flugpersonal und Zugführer im Sommer die Arbeit nieder. Zuletzt gingen die drei großen US-Autohersteller General Motors, Ford und Stellantis (u.a. Jeep) in den Arbeitskampf.

Und Österreich? Es scheint, als bliebe es die vielbeschworene „Insel der Seligen“, eines der Länder mit den wenigsten Streiktagen überhaupt. Nur 0,2 Minuten streikte jeder österreichische Arbeitnehmer 2021 im Durchschnitt, besagt die WKO-Statistik. Laut dem Vergleich (2007-2016) des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln wird unter 22 verglichenen OECD-Ländern lediglich in der Schweiz, Japan und der Slowakei weniger gestreikt als in Österreich. Die meisten Streiktage hingegen weist Frankreich auf, dicht gefolgt von Dänemark.

Kollektivverträge für fast alle Berufe

Der Hauptgrund für den kaum vorhandenen Arbeitskampf ist die Sozialpartnerschaft, die in Österreich einzigartig stark ausgeprägt ist. Sie ist es, die für den Interessensausgleich zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern sorgt – und in aller Regel für beide Seiten tragbare Ergebnisse erzielt. Fast alle österreichischen Berufe sind von den Kollektivverträgen abgedeckt, mehr als 95 Prozent der Arbeitnehmer sind davon erfasst. Ausverhandelt werden sie Jahr für Jahr von den Sozialpartnern, konkret von ÖGB und Wirtschaftskammer-Fachorganisationen. In Kürze starten die neuen Verhandlungen, den Anfang machen wie immer die Metaller.

Die Ursprünge der starken Sozialpartnerschaft sind eng mit den Anfängen der Zweiten Republik verknüpft. Das unversöhnliche Lagerdenken der 1920er-Jahre, das in Austrofaschismus, dem Februar-Bürgerkrieg 1934 und im Nationalsozialismus mündete, sollte unbedingt vermieden werden. Der demokratische Neuanfang 1945 war somit auch die Geburtsstunde der sogenannten Konsensdemokratie, die Österreich bis heute prägt. „Der Wirtschaftsaufschwung wurde von den Sozialpartnern aktiv gemanagt“, sagt Tobias Hinterseer, Experte für Wirtschaftspolitik und Sozialpartnerschaft an der Arbeiterkammer Salzburg.

Abstimmung mit der Regierung

Noch 1945 gründeten Arbeiterkammer Wien und Wiener Handelskammer ein gemeinsames Komitee zur Beratung dringender sozialpolitischer Probleme, die nach dem Krieg allgegenwärtig waren. Auch die Bundeswirtschaftskammer und der überparteiliche Österreichische Gewerkschaftsbund (ÖGB) entstanden im gleichen Jahr. Schon bald darauf wurden die Lohnpolitik und – anders als heute – auch Preispolitik gemeinsam mit der Regierung abgestimmt.

Dass die Sozialpartnerschaft und insbesondere die Arbeitnehmervertretung derart stark ausgeprägt sein würden, war keineswegs vorgezeichnet. „Mitte der 1950er-Jahre waren die Unternehmerverbände alles andere als freudestrahlend über diese Kooperation. Sie haben sie vorerst abgelehnt“, sagt Emmerich Tálos, emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Universität Wien. Erst auf Druck von Arbeiterkammer und ÖGB sei Ende der 1950er, Anfang der 1960er die Zusammenarbeit auf Augenhöhe entstanden.

Ersatz für die große Koalition

In den 1960er-Jahren hat sich die Sozialpartnerschaft auch von der Politik emanzipiert. Nach gut 20 Jahren Großer Koalition, durchgehend angeführt von der ÖVP, kam es 1966 zur ersten ÖVP-Alleinregierung. „Die Sozialpartnerschaft hat sich durchaus überraschend von den Parteien gelöst. Sie hat sich als Ersatz für die frühere große Koalition erwiesen“, sagt Tálos. In der traditionell arbeitgeberfreundlichen ÖVP-Alleinregierung seien dadurch „ganz wesentliche sozialpolitische Gesetze entstanden“ – und zwar nicht weniger als unter der späteren SPÖ-Alleinregierung Bruno Kreiskys, ebenso eine sozialpolitische Hochphase.

In den letzten Jahren stand die Sozialpartnerschaft immer wieder unter Druck. Die Vertretungen seien zu wenig demokratisch legitimiert, intransparent und säßen auf enormen Geldreserven, die aufgrund der Pflichtbeiträge eingenommen werden, heißt es. Bezeichnend ist, dass die Sozialpartnerschaft kaum abgesichert und erst reichlich spät, 2008, in einer Minimalform in der Verfassung festgeschrieben wurde. Im Wesentlichen ist sie weiterhin bloß Teil der „Realverfassung“. Dies ist einerseits ihre Stärke, weil sie recht unabhängig von jeweiligen Regierungen agieren kann. Gleichzeitig könnte sie aber auch jederzeit aufgekündigt oder eingestellt werden, etwa indem die Regierung die beiden Seiten nicht mehr miteinbezieht.

Ein neoliberaler Zeitgeist

Dies war erstmals der Fall unter Kanzler Wolfgang Schüssel (ÖVP), der Anfang der 2000er mit der FPÖ (und der späteren Abspaltung BZÖ) koalierte. Damals herrschte der neoliberale Zeitgeist, der vor allem Deutschland heftig erfasste. Mit dem neuen Arbeitslosengeld „Hartz IV“ und abgespeckter Sozialpolitik wurde zwar der deutsche Wirtschaftsstandort saniert, der gesellschaftliche Preis dafür – Stichwort „working poor“ – war aber hoch.

In Österreich war diese Entwicklung bei weitem nicht so stark, die etablierten Standards hielten. Unter Türkis-Blau ab 2017 kam die Sozialpartnerschaft neuerlich unter Druck, „sie war vorerst am Ende“, formuliert es Tálos. Unter Wirtschaftskammer-Präsident Harald Mahrer (bis heute im Amt) wehte ein deutlich anderer Wind als zuvor unter Christoph Leitl, sagt auch Hinterseer. Erst infolge der neuen Regierung ab 2020 unter Beteiligung der Grünen entschärfte sich die Lage wieder.

Monopol Gewerkschaftsbund

Die befragten Experten ziehen eine überwiegend positive Bilanz. „Österreich ist mit seiner sozialpartnerschaftlichen Konsenskultur zumindest nicht schlecht gefahren, wie alle makroökonomischen Daten zeigen“, sagt der Wiener Politikwissenschaftler Anton Pelinka. „Aus einem potenziellen Armenhaus ist ein Mitglied des Clubs der Wohlhabenden geworden“, wofür nicht nur, aber auch Sozialpartnerschaft und Konsenskultur verantwortlich gewesen seien. Als spezifisch österreichisch sieht er den ÖGB, einen „überparteilichen, relativ zentralistischen und mit einem faktischen Monopol ausgestatteten Gewerkschaftsbund“.

Auch AK-Wirtschaftspolitikexperte Hinterseer zieht eine positive Bilanz. „Die Sozialpartnerschaft spielt insbesondere in krisenhaften Zeiten ihre Stärken aus.“ Dies habe man bei der Weltwirtschaftskrise ab 2008 gesehen, als die Gewerkschaft rasch an Kurzarbeitsmodellen und anderen Mechanismen zur Abfederung gearbeitet hat. Auch zu Beginn der Coronapandemie konnte die Gewerkschaft, die mitunter als träger Tanker gilt, schnell reagieren. „Da waren die informellen Wege und Kanäle, die über Jahre eingespielt sind, sehr von Vorteil“, sagt Hinterseer. Natürlich habe die folgende wirtschaftliche Krise auch Österreich getroffen, aber weniger hart und etwas später als anderswo.

Unternehmen profitieren von kaum vorhandenen Streiks

Als einen der größten Vorteile sieht Tálos den hohen sozialen Frieden und den sozialen Ausgleich, der in Österreich besser als in vielen anderen Ländern funktioniere. Österreich wies eine höhere Beschäftigungsquote und eine geringere Arbeitslosenquote auf. Auch am gut ausgebauten Sozialstaat habe die Sozialpartnerschaft ihren Anteil. Die eingespielten Lösungsmuster für große Interessensgegensätze seien viel besser abschätzbar und jahrelang eingespielt, davon würden auch die Unternehmer profitieren, ebenso wie durch die kaum vorhandenen Streiks.

Als Nachteil sieht er die Fokussierung auf zwei derart starke Blöcke. „Zivilgesellschaft, Protestfreudigkeit und Demokratiequalität sind dadurch nicht gefördert worden.“

In der Ausgestaltung des Streikrechts sieht er übrigens keine nennenswerten Unterschiede zu streikfreudigen Ländern wie Frankreich – der Arbeitskampf auf der Straße wäre durchaus auch hierzulande problemlos möglich. Die kommenden Wochen werden zeigen, ob dies nötig sein wird. Die jahrelange Erfahrung sagt nein.


Dir hat dieser Beitrag besonders gut gefallen, dir ist ein Fehler aufgefallen oder du hast Hinweise für uns - sag uns deine Meinung unter feedback@wienerzeitung.at. Willst du uns helfen, unser gesamtes Produkt besser zu machen? Dann melde dich hier an.


Infos und Quellen

Genese

In Deutschland standen die Züge still und blieben die Flieger am Boden; in Österreich war davon nichts zu merken. Warum streiken die Österreicher:innen so wenig? Dies war die Ausgangsfrage für diesen Text. Die Antwort war schnell gefunden: Weil der Konflikt zwischen Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen hinter verschlossenen Türen und nicht auf der Straße stattfindet. In aller Regel jedenfalls. Es lohnt sich dennoch, einen genaueren Blick auf die Hintergründe zu werfen.

Gesprächspartner:innen

  • Tobias Hinterseer ist Referent für Wirtschaftspolitik an der Arbeiterkammer Salzburg und spezialisiert auf die Sozialpartnerschaft.

  • Walther Müller-Jentsch ist Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler und ehemals Professor an der Ruhr-Universität Bochum.

  • Anton Pelinka ist Politikwissenschaftler mit Schwerpunkt für das politische System Österreichs, u.a. an der Universität Innsbruck.

  • Emmerich Tálos ist Politikwissenschaftler und war lange Jahre Professor an der Universität Wien.

Quellen

  • Ewen, Janis; Nies, Sarah; Seeliger, Martin (2022): Sozialpartnerschaft im digitalisierten Kapitalismus: Hat der institutionalisierte Klassenkompromiss eine Zukunft? Weinheim: Beltz Juventa

  • Hinterseer, Tobias (2017): Totgesagte leben länger. Stabilität und Kontinuität der Sozialpartnerschaft in Österreich. Artikel in „Momentum quarterly“, Vol. 6, 2017

  • Kühnelt, Walter (1995): Kammern und Sozialpartnerschaft in Österreich. Wien: Herold

  • Müller-Jentsch (2011): Gewerkschaften und Soziale Marktwirtschaft seit 1945. Stuttgart: Reclam

  • Strohmer, Michael F. (2005): Die Sozialpartnerschaft in Österreich: Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft. Bern: Peter Lang

  • Tálos, Emmerich; Obinger, Herbert (2020): Sozialstaat Österreich (1945-2020). Entwicklung-Maßnahmen-internationale Verortung. Innsbruck/Wien/Bozen: StudienVerlag

  • Die Sozialpartner Österreich

  • „Sozialpartnerschaft, Institutionen und Wirtschaft Entwicklungen seit der Krise“, WIFO-Studie (2018) von Silvia Rocha-Akis, Christine Mayrhuber, Thomas Leoni.

  • Kurzbericht „Internationaler Arbeitskampf“ von Hagen Lesch, Institut der deutschen Wirtschaft Köln 2017

Das Thema in anderen Medien