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Die Macht der Emotionen auf BookTok

7 Min
Auf BookTok teilen Leser:innen ihre Begeisterung für Bücher oder entdecken sie neu.
© Illustration: WZ, Bildquelle: Midjourney

Ein Blick in die aufstrebende Welt von #BookTok, wo Literatur auf TikTok durch kreative Buchkritiken, Lesetipps und Diskussionen lebendig wird.


“Bei dieser Buchreihe habe ich am Ende geheult.” Mit diesen Worten eröffnet die 23-jährige Sarah eines ihrer neuesten Videos. Auf ihrem TikTok-Kanal @sarahs.bookspace nimmt sie unter dem Hashtag #BookTok Bücher unter die Lupe, zeigt die schönsten Buchcover und erstellt humorvolle Videos zum Thema Lesen. “Ich wollte demonstrieren, dass es mehr gibt, als die Bücher aus der Schule. Es hat sich zu einer riesigen Leidenschaft entwickelt”, sagt die Österreicherin.

BookTok ist eine Subcommunity auf der Social Media Videoplattform TikTok. Dort teilen Leser:innen ihre Begeisterung für Bücher oder entdecken sie neu. Die kurzen Videoclips bieten einen schnellen und unterhaltsamen Einblick in die Welt der Literatur.

Die BookTok-Revolution

Durch die Decke ging BookTok im Jahr 2020, als die Menschen durch die Verbreitung des Coronavirus schlagartig mit einem neuen Alltag konfrontiert waren, der aus Isolation und Lockdowns bestand. Die Generation Z griff in einer Zeit voller Unsicherheit und schnelllebiger Informationen auf Social Media wieder zum Buch in Papierform. Was anfangs ein Trend war, mischt längst den Büchermarkt auf. Die Genres, die von der großteils weiblichen BookTok-Community besonders beworben werden, sind New Adult, Romance, Fantasy, aber auch klassische Liebesromane von Autorinnen wie Jane Austen und Emily Brontë sowie Ratgeber und Sachbücher. Mit einem Anteil von 55,3 Prozent der Gesamtnutzer weltweit haben vor allem junge Frauen auf TikTok das Sagen. Und es zeigt sich: Was ihnen gefällt, findet sich kurz danach auf den Bestsellerlisten wieder. So wurde Madeleine Millers Buch “Das Lied des Achill”, welches bereits 2012 erschien, zwei Millionen Mal verkauft, nachdem es auf TikTok gehypt wurde.

Im Buchhandel ist TikTok nicht mehr wegzudenken
Andrea Heumann, Geschäftsführerin Thalia Österreich

Auch in Österreich ist man längst auf den Zug aufgesprungen. “Im Buchhandel ist TikTok nicht mehr wegzudenken“, sagt Andrea Heumann, Geschäftsführerin von Thalia Österreich. Eigene Tische mit TikTok-Büchern zieren die großen Thalia-Buchhandlungen, auf der Website ist BookTok als eigene Kaufkategorie aufgelistet, und auf Social Media ist der Buchhändler selbst aktiv. Allein unter dem Hashtag #booktokaustria finden sich laut Heumann aktuell knapp 17,5 Millionen Aufrufe. Im April veröffentlichte das deutsche Marktforschungsunternehmen Media Control gemeinsam mit TikTok die erste BookTok-Bestsellerliste, und Ende Oktober wurden die ersten TikTok Book Awards im Rahmen der Frankfurter Buchmesse verliehen, bei der unter anderem Thalia in der Jury saß. “Würde es BookTok nicht geben, Verlage und Buchhandlungen hätten es erfinden müssen”, meint der Literaturkritiker und Gewinner des diesjährigen Österreichischen Staatspreises für Literaturkritik Klaus Kastberger, im Hinblick auf dessen verkaufsfördernde Wirkung.

Renaissance von Liebesromanen

Neben begeisterten Leser:innen und Buchhandlungen haben auch Autor:innen die Plattform als Zugpferd entdeckt, um ihre Bücher zu vermarkten und sich mit der eingeschworenen Community auszutauschen. Unter ihnen etwa die deutsche Autorin Kathinka Engel. Gerade durch TikTok wachse ihre Leserschaft kontinuierlich. “Teilweise bekomme ich sogar Nachrichten von Leuten, die vorher noch nie ein Buch gelesen haben und jetzt auf einmal begeisterte Leser:innen sind.” Engel schreibt Liebesromane im Coming-of-Age-Genre New Adult, das sich auf die Probleme, Herausforderungen und Beziehungen junger Erwachsener konzentriert, und war eine der Nominierten für die TikTok Book Awards. In ihren Videos schlüpft sie manchmal in die Rollen ihrer Buchfiguren und erzählt deren Situationen nach. “Man ist es in unserem Genre gewohnt, dass Dinge von Frauen für Frauen von der Gesellschaft eher abgewertet und belächelt werden. Da ist BookTok ein sehr schöner Ort für Leute, die sich gern über ihre Lieblingsbücher austauschen”, sagt Engel.

Für die Stigmatisierung von Frauen in der Literatur interessiert sich auch die Schweizer Kulturwissenschaftlerin und Literaturkritikerin Christine Lötscher. Sie lehrt Populäre Literatur und Medien mit dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendmedien an der Universität Zürich. “Was mich an BookTok fasziniert, ist, dass durch die Revitalisierung des Lesens, die jetzt im digitalen Zeitalter geschieht, auch wieder alte Debatten aus dem 19. Jahrhundert revitalisiert werden.” Zu dieser Zeit wurden Liebesromane erstmals massenhaft verlegt und gelesen, zählten jedoch zur Trivialliteratur und galten als minderwertig. Romane mit viel Leidenschaft und großen Emotionen sind jedoch längst kein “Guilty Pleasure” mehr, also etwas, das einem peinlich ist. Laut Lötscher emanzipieren sich Booktokerinnen auf gewisse Weise, indem sie Gatekeeper:innen aus dem Weg räumen. “Die Leserinnen sagen: Wir lesen so, wie wir wollen. Und wenn es emotional ist, dann ist das gut. Es gab immer eine weiblich konnotierte Gegenlesekultur, die jetzt plötzlich Mainstream wird und eine eigene Stimme hat”, erklärt sie.

Colleen Hoover und ihr Bestseller-Reich

Die Königin von BookTok ist eindeutig die US-amerikanische Autorin Colleen Hoover. Egal, welchen Buchladen man betritt, man kommt nicht um die 43-Jährige herum. Keine andere Autorin hatte 2022 in den USA so viele Bestseller - von 25 Büchern auf der NPD-BookScan-Bestsellerliste waren acht Hoover-Titel. Ihr Roman “It Ends with Us” stand über 90 Wochen auf der Bestsellerliste der New York Times, nun soll er mit Blake Lively und Justin Baldoni verfilmt werden. Der Autorin gelinge es, “extreme Spannung” aufzubauen, so Lötscher. “Man steht immer so schön an der Schnittstelle. Man glaubt, man weiß genau, was kommt, und dann gibt es doch einen Twist.”

In einigen von Colleen Hoovers Büchern geht es um schwierige Themen wie toxische Beziehungen, häusliche Gewalt und psychische Gesundheit, wobei die Geschichten überwiegend von heterosexuellen Beziehungen handeln, die teils von Machtgefällen und Besitzansprüchen geprägt sind. Kritiker:innen werfen der Autorin wiederholt vor, dass sie weibliche Charaktere problematisch darstelle und somit Stereotype verstärke. Laut Lötscher sei jenes Narrativ, in dem der Mann ein Arschloch ist und die Frau sich unterwirft, in der Popkultur immer noch weit verbreitet. “Ich habe aber das Gefühl, dass hier neue Wege gesucht werden. Und wie das so in der Populärkultur ist, werden diese nicht durch sprachliche Innovation gefunden, sondern indem das alte einmal gründlich durchgearbeitet wird.”

Gänsehaut versus literarischer Wert?

Colleen Hoover holt viele Leser:innen mit emotionalen Liebesgeschichten ab, das ist unumstritten. Aber wie gut und hochwertig sind Bücher wie ihre, die durch BookTok gefördert werden und daraufhin in den Bestsellerlisten landen, tatsächlich? “Früher hätte man nach solchen Stürmen des Gefühls vielleicht noch gefragt, worin denn nun die Qualität des Gelesenen liegt. Heute reicht vielfach als erstes und letztes Wort die Gänsehaut der eigenen Empfindung vollkommen aus”, sagt Klaus Kastberger. Er betont, dass der Wert des Lesens nicht allein in der Aktivität liege, sondern in der Qualität der Bücher, die gelesen werden. Vor diesem Hintergrund sieht er BookTok eher als medialen Zauber und nicht unbedingt als Förderung von hochwertiger Literatur.

Laut Lötscher seien die jungen Leser:innen durchaus kritisch. Neben BookTok herrsche etwa eine rege Debattenkultur auf BookTube - das sind Büchervideos auf der Videoplattform YouTube - und in Podcasts, was eine breitere Form der Literaturdiskussion ermögliche. “Auch wenn es vielleicht etwas anderes ist, als die elitäre Literaturkritik, die natürlich etwas Exklusives hat”, wie sie anmerkt. Lesen wäre stets sowohl eine kognitive als auch affektive Erfahrung gewesen. Leser:innen wüssten natürlich, dass ihre Gefühle durch die Erzählung hervorgerufen werden. “Man kann diese emotionalen Angebote ja auch verweigern und eine Figur nicht sympathisch finden, die man sympathisch finden soll.”

Lötscher hofft, dass in der Diskussion rund um BookTok die Erkenntnis dieser Ambivalenz noch stärker ins Spiel kommt, also dass Lesen nicht entweder emotional oder kognitiv sei, sondern immer beides. “Es kann auch ein geistiges Vergnügen sein, wenn man gleichzeitig emotional aufgelöst ist und intellektuell angeregt.”


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Infos und Quellen

Gesprächspartner:innen

  • Christine Lötscher: Kulturwissenschaftlerin und Literaturkritikerin, lehrt Populäre Literatur und Medien mit Schwerpunkt Kinder- und Jugendmedien an der Universität Zürich

  • Klaus Kastberger: Literaturkritiker (u.a. für ORF, die Presse und Falter), Juror des Ingeborg-Bachmann-Preises, Gewinner des Österreichischen Staatspreises für Literaturkritik 2023

  • Kathinka Engel: Autorin für Romance und New Adult, nominiert für die ersten TikTok Book Awards

  • Sarah: Booktokerin mit ihrem Account @sarahs.bookspace

  • Andrea Heumann: Geschäftsführerin von Thalia Österreich

Daten und Fakten

Was ist TikTok?

  • TikTok ist eine App, in der Kurzvideos geschaut und selbst erstellt werden können. Die meisten Nutzer:innen erstellen selbst keine Videos, sondern schauen nur Videos an.

  • Die "Für-Dich-Seite" zeigt den Nutzer:innen kontinuierlich neue Videos, die ihren individuellen Vorlieben entsprechen. Dies ist ein entscheidender Faktor für die fesselnde Natur der App.

  • Der TikTok-Algorithmus schlägt Videos basierend auf den Nutzervorlieben vor, indem er das Verhalten auf TikTok analysiert. Dies schließt ein, welche Videos bis zum Ende angesehen werden, welche nur kurz betrachtet werden, welche geteilt werden und sogar, welche mehrmals angesehen werden.

Was ist BookTok?

BookTok ist eine Subcommunity auf TikTok, die sich auf Bücher und Literatur konzentriert. Unter dem Hashtag #BookTok teilen die Nutzer:innen kurze Videos, in denen sie Bücher besprechen, Empfehlungen geben, Buchzusammenfassungen liefern und ihre Gedanken zu verschiedenen literarischen Werken teilen. Diese Videos können kreative Buchkritiken, Lesetipps und Diskussionen über Bücher und Autor:innen enthalten. BookTok hat sich zu einer lebendigen Gemeinschaft von Buchliebhaber:innen entwickelt und hat maßgeblichen Einfluss auf Lesegewohnheiten und den Buchmarkt, indem es Bücher populär macht und Trends setzt.

Quellen

Das Thema in anderen Medien