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Der dänische Soziologe Nikolaj Schultz trifft mit seinem gefeierten Essay „Landkrank“ das Lebensgefühl aller an der Klimakrise Verzweifelten – und trägt nebenbei dazu bei, dass sich eine ökologische Klasse ihrer Ideologie und ihrer schlummernden Macht besinnt. Gespräch mit einem Klassenkämpfer der anderen Art.
Lässt sich realistisch und trotzdem hoffnungsvoll über die Klimakrise schreiben? Dem dänischen Soziologen Nikolaj Schultz scheint das in seinem Essay „Landkrank“ gelungen zu sein. Rezensent:innen schwärmen von der „Lichtgestalt“ und dem „Nachwuchsstar“ der Soziologie. Sie feiern ihn dafür, wie er für all die Dilemmata eines privilegierten Bewohners des Globalen Nordens auf 122 Seiten einfühlsam eine Sprache für das existenzielle Unbehagen in der ökologischen Krise gefunden hat. In seinem Buch lässt Schultz seinen Ich-Erzähler einer Hitzewelle aus Paris auf die französische Insel Porquerolles entfliehen. Dort muss er sich denselben zermürbenden Fragen stellen wie in seiner stickigen Stadtwohnung, wo er feststellte, dass die Abkühlung seines Körpers einen Preis hat, „den wahrscheinlich zuerst und am heftigsten jemand anderes zahlen wird, am ehesten irgendwo im Globalen Süden.“ Auch in Porquerolles krankt er am Zustand der Erde, den er als Mensch mitzuverantworten hat. Verdreckt er doch als Tourist die Insel, besetzt sie wie ein moderner Pirat und nimmt den Einheimischen den Lebensraum weg. Landkrank macht ihn das. Schultz, der 2022 mit dem mittlerweile verstorbenen Philosophen und Soziologen Bruno Latour das kämpferische Memorandum „Zur Entstehung der ökologischen Klasse“ geschrieben hat, liefert mit „Landkrank“ nun das poetische Addendum. Und damit für viele die Beschreibung des Lebensgefühls unserer Zeit.
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Infos und Quellen
Genese
Solmaz Khorsand hat im Februar eine Rezension von Nikolaj Schultz’s Essay „Landkrank“ im Republik Magazin gelesen. Sie wollte wissen, was es mit dem Hype um den „Shootingstar“ auf sich hat, und besuchte daraufhin Schultz‘ Vortrag bei der Klimakonferenz „Tipping Time“ des Tangente Festivals in St. Pölten. Danach interviewte sie ihn.
Gesprächspartner
Nikolaj Schultz
Daten und Fakten
- Nikolaj Schultz, 33, dänischer Soziologe und Wahlpariser, forscht an der Universität Kopenhagen und war bis zu dessen Tod einer der engsten Mitarbeiter des französischen Soziologen und Philosophen Bruno Latour. Mit ihm publizierte er das vielbesprochene Memorandum „Zur Entstehung einer ökologischen Klasse“, das Feuilletonist:innen schon einmal als Manifest der Klimabewegung bezeichnet haben. In ihrem Memorandum plädieren die zwei Autoren dafür, dass, so wie einst eine Arbeiterklasse den sozialen Fortschritt erkämpfte, es heute einer ökologischen Klasse bedarf, um den Klimawandel aufzuhalten.
- In seinem Buch „Landkrank“, das Schultz als „ethnografiktiver“ Essay bezeichnet, der auf seinen eigenen Erfahrungen beruht, beschreibt der Ich-Erzähler, Schultz‘ Alter Ego, wie er versucht, einer Hitzewelle in Paris zu entkommen, indem er auf die französische Insel Porquerolles flieht. Nur um zu erkennen, dass er dort, als einer der 15.000 Touristen jährlich, den Einheimischen als moderner Pirat und Besatzer ihren Lebensraum abspenstig macht. In seinem melancholischen Essay reflektiert Schultz auf knapp 122 Seiten die Rolle des Individuums in der Klimakrise.
- Seine Segelfreunde brachten ihn auf die Metapher „landkrank“. Sie war zu gut, um nicht als Titel und Inhalt eines Essays genutzt zu werden, gesteht der dänische Soziologe Nikolaj Schultz im Gespräch. „Landkrank“, jenes Gefühl, das Segler:innen befällt, wenn sie an Land gehen und sich schwindlig fühlen, so als würde die Erde unter ihren Füßen beben. „Ich nutze es, um die doppelte Erschütterung der Erde und der Menschen zur gleichen Zeit zu beschreiben. (..) Genau dann, wenn der Mensch erkennt, dass die Bedingung der Bewohnbarkeit durch die menschliche Spezies verschwindet, hat man plötzlich eine andere Art des Seins.“
Quellen
- Nikolaj Schultz: Landkrank, Suhrkamp, 2023
- Bruno Latour, Nikolaj Schultz: Zur Entstehung einer ökologischen Klasse. Ein Memorandum, Suhrkamp, 2022
Das Thema in anderen Medien
- Rezension zu „Landkrank“
- Die Zeit: "Die ökologische Klasse ist potenziell in der Mehrheit"
- Kurier: Soziologie-Jungstar Schultz: "Den Grünen fehlt eine Vision“
- philomag.de: Nikolaj Schultz: „Die ökologische Klasse besteht aus denen, die erkannt haben, dass die Geschichte ihre Gestalt gewandelt hat“
- Vortrag von Bruno Latour und Nikolaj Schultz