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Die Politik formiert sich für LGBTIQ

8 Min 01.07.2023
Die Säulen des Parlaments auf der Wiener Ringstraße leuchteten im Zuge der Pride-Parade am 17. Juni in den Regenbogenfarben.
© Parlamentsdirektion / Thomas Topf

Jahrelang kämpfte Alex Jürgen für ein „X" im Pass. Erst jetzt bildete sich eine parlamentarische Gruppe, in der Politiker:innen über LGBTIQ-Rechte diskutieren – zu tun gibt es genug.


„Ich hätte gerne wieder, was sie mir weggeschnitten haben.” Alex Jürgen meint damit die penisähnliche Struktur und den innen liegenden Hoden, die mit sechs beziehungsweise zehn Jahren wegoperiert worden waren. Davor war Alex ein Bub – danach auf Drängen der Ärzte ein Mädchen. „Ich wurde chirurgisch zum Mädchen korrigiert“, erzählt Alex heute, „und bekam in weiterer Folge eine Vaginalplastik und zusätzlich Hormone verabreicht.“

Denn Alex war intersexuell zur Welt gekommen: Vom Erbgut her männlich, aber ohne eindeutige Geschlechtsmerkmale. So wie Alex die Vaginalplastik jedoch nicht zum Mädchen machte, „habe ich auch für einen Mann zu viele weibliche Eigenschaften – ich bin irgendwo dazwischen“. Zahlreiche Operationen, tiefe seelische und körperliche Krisen und einen jahrelangen Behördenkampf später wurde Alex vor etwa vier Jahren zur ersten Person Österreichs, die in der Geburtsurkunde und im Reisepass bei Geschlecht ein „X“ stehen hat. Deutschland hatte diesen Schritt ein Jahr vorher gemacht.

Der Verfassungsgerichtshof, an den sich Alex gewandt hatte, hat 2018 festgestellt, dass Menschen, deren Geschlecht nicht eindeutig männlich oder weiblich ist, ein Recht auf eine entsprechende Eintragung im Personenstandsregister und in Urkunden haben – das dritte Geschlecht wurde damit amtlich. Das Höchstgericht berief sich dabei unter anderem auf die Menschenrechte und auf ein Recht auf individuelle Geschlechtsidentität. 2020 kam die gesamte LGBTIQA+-Community dazu, also Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Intersex, Queer, Asexual sowie alle weiteren, die nicht unter den Genannten sind: Man sollte in Urkunden zwischen „ divers”, „inter“, „offen“ und „keinem Eintrag“ wählen können.

Im Vorjahr hat das Parlament erstmals ein Zeichen gesetzt: Nationalrat und Bundesrat, die für die Gesetzgebung zuständig sind, richteten die erste LGBTIQ-Intergroup ein: eine Arbeitsgruppe mit Mitgliedern unterschiedlicher politischer Fraktionen, die sich laut Parlament für „Menschenrechte, Gleichbehandlung, Vielfalt und Akzeptanz“ einsetzt. Im April dieses Jahres fand deren Auftaktveranstaltung statt. Die Intergroup soll aktuelle Probleme zum Thema LGBTIQ diskutieren und ausloten, welche Lösungen über die Parteigrenzen hinweg möglich sind. Nur wenn die Mitglieder übereinstimmen, kann die Intergroup eine Handlungsempfehlung ans Parlament aussprechen. Diese ist allerdings nicht bindend.

Intergroups im Europäischen Parlament

Im Europäischen Parlament sind Intergroups dieser Art gelebte Praxis – in Österreich war sie die erste ihrer Art. Getragen wird die Initiative von den Abgeordneten und LGBTIQ-Sprecher:innen ihrer Parteien, das sind Nico Marchetti (ÖVP), Mario Lindner (SPÖ), Ewa Ernst-Dziedzic (Grüne) und Yannick Shetty (Neos). Was fordern diese Abgeordneten nun konkret und welche Maßnahmen sind die dringlichsten?

Die WZ hat nachgefragt. „Das dringlichste Thema ist für mich, dass Hasskriminalität gegen LGBTIQ-Personen wirksam bekämpft wird. Dazu wird es auf Initiative des Parlaments einen Runden Tisch mit Justiz- und Innenministerium geben“, sagt dazu etwa Marchetti von der ÖVP. Delikte, die unter Hasskriminalität fallen, können etwa Sachbeschädigungen, Körperverletzungen, gefährliche Drohungen beziehungsweise Nötigungen umfassen und werden seit 2020 von der Polizei statistisch erfasst. 2021 waren es laut Innenministerium 376 Delikte dieser Art, aktuellere Zahlen gibt es nicht. Wie wichtig das Thema ist, zeigt auch die Studie „EU LGBT II Survey: A long way to go for LGBTI equality” der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA). 43 Prozent der befragten LGBT-Personen haben demnach persönlich Diskriminierung oder Belästigung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Identität erlebt, 21 Prozent am Arbeitsplatz. Von jenen, die in den vergangenen 12 Monaten auf Jobsuche waren, fühlten sich 10 Prozent diskriminiert, im schulischen oder universitären Bereich waren es 19 Prozent.

Pop-Art-Illustration die den Pride Day und die LGBT-Community mit diversen Menschen darstellen
Die Community ist bunt.
© JuanM – stock.adobe.com

Auch das Verbot von Konversionstherapien befindet sich laut Marchetti auf der Zielgeraden. Konversionstherapien wurden vor vielen Jahren ins Leben gerufen, um Menschen, die nicht heterosexuell sind, psychotherapeutisch zu „heilen“, wie es damals hieß. Personen, deren Geschlechtsidentität nicht mit dem bei der Geburt eingetragenen Geschlecht übereinstimmt, gelten seit 2022 laut der Weltgesundheitsorganisation WHO nicht mehr als psychisch krank – der Begriff der Konversionstherapien ist geblieben.

SPÖ fordert OP-Verbot an Intersex-Kindern

Die SPÖ stimmt mit der ÖVP überein, was die Gesetze gegen Konversionstherapien und Hasskriminalität betrifft. Außerdem fordert Lindner von der SPÖ ein Gesetz zum Schutz intergeschlechtlicher Kinder (wie zum Beispiel ein Operationsverbot) und, dass der Diskriminierungsschutz ausgeweitet wird. „LGBTIQ-Personen sollen nicht mehr legal im Privatleben diskriminiert werden.“ Das Thema soll auch im Bildungs- und Gesundheitsbereich verbreitet werden.

Schon 2018 forderte Lindner eine Reform der sexuellen Bildung an Schulen. Damals war der Sexualkundeverein „Teenstar“ in die Kritik geraten, weil in dessen Schulungsmaterialien Homosexualität als heilbares Identitätsproblem und Selbstbefriedigung als schädlich dargestellt worden war. Der Verein bot Ausbildungen für Kursleiter:innen, Beratungen sowie Workshops an Schulen an. Der damalige Bildungsminister Heinz Faßmann (ÖVP) empfahl daraufhin den Schulen, nicht mehr mit „Teenstar“ zusammenzuarbeiten. „Fast fünf Jahre später gibt es zwar den entsprechenden Erlass für Reformen, der aber leider genau die großen Probleme in diesem Bereich nicht löst und keine fixen Standards und Finanzierungsmaßnahmen für externe Anbieter:innen in Schulen setzt“, sagt Lindner.

Neos für Schulungen für die Polizei

Laut Shetty von den Neos braucht es die Sensibilisierungsmaßnahmen gegen Homophobie auch im Arbeitsleben, bei der Polizei oder beim Amt. Für Polizei und Behörden etwa könnten das Schulungen im Umgang mit LGBTIQ-Themen sein. Diese wird es aber offenbar nicht so schnell geben, denn laut Innenministerium sind sie nicht notwendig. „Es ist im Grundverständnis der behördlichen Aufgabenerfüllung verankert, dass alle Verwaltungsbehörden, egal ob Bund, Land oder Gemeinde, alle Teilmengen der Bevölkerung in gleicher Weise vorurteilsfrei, korrekt und rechtsstaatlich behandeln“, heißt es von diesem auf Nachfrage. „Bestimmte Gruppierungen“ besser zu behandeln als andere, wäre nicht im Sinne der Gleichbehandlung, so das Ministerium.

Reisepass von Alex Jürgen, ausgestellt im Haus der Geschichte Österreich.
Ein „X“ bei Geschlecht: Der Reisepass von Alex Jürgen ist im Haus der Geschichte Österreich ausgestellt.
© Lorenz Paulus / hdgoe

Ernst-Dziedzic von den Grünen hebt dennoch die Wichtigkeit der Intergroup im Parlament hervor und bezeichnet sie als „neu und einzigartig in Österreich”. Die Überparteilichkeit sei als die Stärke der Intergroup zu begreifen, denn Menschenrechte dürften keine Parteifarbe haben. Im Mittelpunkt stehe der ständige Austausch mit der LGBTIQ-Community und der Zivilgesellschaft, um gemeinsam an Lösungen zu arbeiten, die die Lebenssituation der queeren Menschen in Österreich verbessern sollen.

Warum die FPÖ in der Intergroup fehlt

Die politische Partei, die zwar im Parlament vertreten ist, in der LGBTIQ-Intergroup allerdings fehlt, ist die FPÖ. Warum? „In Zeiten, in denen die Österreicher von einer massiven Teuerungswelle, verursacht durch die ÖVP-Grüne-Bundesregierung, geplagt sind, verwehren wir uns, zusätzlich Steuergeld für Werbe-Aktionen wie zum Beispiel die LGBTIQ-Intergroup zu Lasten der Bürger zu verschwenden“, antwortet der Freiheitliche Parlamentsklub der WZ. Eine von der FPÖ gestellte parlamentarische Anfrage an den ÖVP-Nationalratspräsidenten Wolfgang Sobotka vom Mai dieses Jahres habe offenbart, dass dem Steuerzahler allein durch die erste Veranstaltung der LGBTIQ-Intergroup im April Kosten in der Höhe von rund 6.800 Euro entstanden seien. Zudem gebe es im Parlament ohnehin entsprechende Ausschüsse, „in denen jede Partei im Auftrag ihrer Wähler Inhalte behandeln und die Anliegen vertreten und durchsetzen kann“.

„Ein bis zwei Homosexuelle in jeder Klasse“

Konkrete Gesamtzahlen der Menschen in Österreich, deren Geschlechtsidentität nicht mit dem bei der Geburt eingetragenen Geschlecht übereinstimmt, gibt es nicht. Sexualpädagogin Gabriele Rothuber, die Inter*-Beauftragte der HOSI Salzburg ist und als Leiterin der Fachstelle Selbstbewusst sexualpädagogische Workshops an Schulen anbietet, formuliert es so: „In jeder großen Schule gibt es wahrscheinlich ein Transgender- oder ein nichtbinäres Kind und ein intergeschlechtliches, und in jeder Klasse sind es ein bis zwei Homosexuelle.“ Aufgrund dieser Diversität finden Rothubers Workshops heute nicht mehr geschlechtergetrennt statt, sondern in Gruppen für alle Geschlechter.

An meinem Selbsthass wäre ich fast zerbrochen.
Alex Jürgen über die eigene Intersexualität

Alex Jürgen hatte das in jungen Jahren in den 70ern ganz anders erlebt. „An meinem Selbsthass wäre ich fast zerbrochen“, sagt Alex. Dadurch, dass Alex ständig auf die Intergeschlechtlichkeit reduziert wurde, „komm ich mir schon vor wie Genitalien auf zwei Beinen“. Seit dem Outing sei es besser, „seitdem fühl ich mich viel freier“. Was geblieben ist, ist die Angst vor Ärzt:innen. Denn vor ihnen musste Alex sich von klein auf komplett ausziehen, um beäugt und gemustert zu werden. „Ich geh nicht gern zum Doktor. Nach fünf bis zehn Minuten komm ich in den Fluchtmodus“, sagt Alex. Und auch sonst seien mit dem „X“ im Reisepass noch lange nicht alle Hürden verschwunden. Zum Beispiel bei den Abteilen im Schlafwaggon, beim Buchen eines Fluges oder, wenn man vor der Toilette steht: Die Auswahlmöglichkeiten sind noch immer auf zwei Geschlechter beschränkt – auf Mann und Frau. „Ich bin schon aus der Herren- und aus der Damentoilette geworfen worden“, sagt Alex. „Darum geh ich mittlerweile aufs Behinderten-WC – oder auf gar keins.“

Dabei wäre Vielfalt so einfach, so normal. „Die ganze Welt ist bunt. Wenn man das größte Korallenriff der Welt in Australien anschaut, das Great Barrier Reef, dann wäre man enttäuscht, wenn es nur schwarz und weiß wäre“, sagt Alex. „Oder der Clownfisch oder Schnecken – jedes Kind weiß, dass das Zwitter sind. Dieses Bunte sollte doch auch bei Menschen möglich sein.“


Anlaufstellen


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Infos und Quellen

Genese

Zum ersten Mal hat WZ-Redakteurin Petra Tempfer 2014 mit Alex Jürgen gesprochen. Nun hat sie noch einmal nachgefragt, was sich im Leben der intersexuellen Person Alex verändert oder verbessert hat. Das ist einiges: Beim Thema LGBTIQA+ scheint viel weitergegangen zu sein, und selbst die politischen Parteien im Parlament sind aufgesprungen. Aber ist das schon genug? Ist die Gesellschaft nicht mehr nur auf Mann oder Frau gepolt? Petra Tempfer hat bei Politiker:innen und Personen aus der LGBTIQA+-Community nachgefragt.

Gesprächspartner:innen

Daten und Fakten

  • LGBTIQA+ steht für Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Intersex, Queer, Asexual sowie alle weitere, die nicht unter den Genannten sind.

  • Sexuelle Orientierung: Diese beschreibt, zu Menschen welchen Geschlechts bzw. welcher Geschlechter sich jemand emotional, körperlich und/oder sexuell hingezogen fühlt - etwa homo-/bi-/heterosexuell.

  • Transidentität: Diese liegt vor, wenn die Geschlechtsidentität nicht mit dem bei der Geburt eingetragenen Geschlecht übereinstimmt.

  • Genderdysphorie: Ein Gefühl des körperlichen oder sozialen Unwohlseins durch Transidentität.

  • Nichtbinär: Dieser Überbegriff umfasst alle Menschen, die sich weder männlich noch weiblich verorten.

  • Intergeschlechtlichkeit (Intersexualität): Intergeschlechtliche (intersexuelle) Menschen werden mit Genitalien geboren oder besitzen Geschlechtsmerkmale chromosomaler, anatomischer und/oder hormoneller Natur, die nicht den „klassischen Idealen“ eines rein männlichen oder weiblichen Körpers entsprechen.

    Etwa zwei von 1.000 Neugeborenen kommen ohne eindeutige Geschlechtsmerkmale zur Welt. Deren Intergeschlechtlichkeit (Intersexualität) ist sofort erkennbar - sie bilden allerdings nur fünf Prozent aller intersexuellen Babys, da die meisten auf den ersten Blick einem klassischen Buben oder Mädchen gleichen. Tatsächlich weichen deren Keimdrüsen, Hormone, Geschlechtsorgane oder Chromosomen von der Norm ab, was sie oft erst in der Pubertät bemerken - zum Beispiel, wenn die Menstruation ausbleibt. Variationen gibt es viele, echte Zwitter (Menschen, die sowohl weibliche als auch männliche Geschlechtsmerkmale zeigen) sind nur wenige darunter.

  • Geschlechtsanpassende Operationen: Den Schritt hin zu einer geschlechtsanpassenden hormonellen Therapie oder Operation geht nur ein Teil all jener, die sich nicht mit dem bei ihrer Geburt zugewiesenen Geschlecht identifizieren können. Laut den Empfehlungen des Gesundheitsministeriums für den Behandlungsprozess für Geschlechtsdysphorie von Kindern und Jugendlichen bleibt dieses Sich-nicht-identifizieren-Können bei etwa 20 Prozent bis ins Erwachsenenalter bestehen. Geschlechtsanpassende Operationen sind in Österreich erst ab Eintritt der Volljährigkeit erlaubt und nur bei intergeschlechtlichen Menschen, die ohne eindeutige Geschlechtsmerkmale zur Welt kommen, bereits ab der Einwilligungsfähigkeit und damit ab 14 Jahren. Gezielte Hormontherapien mit Östrogen beziehungsweise Testosteron und auch Brustentfernungen sind generell ab 16 Jahren möglich, Pubertätsblocker ab Einsetzen der Pubertät.

  • Warum der Juni der Pride-Month ist und was die Nacht vom 27. auf den 28. Juni 1969 in New York damit zu tun hat.

Quellen

Das Thema in anderen Medien