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Trotz der bekannten Gefahr von Fake News gewinnen Verschwörungstheorien an Einfluss. Transformationsforscherin Maja Göpel erklärt, warum Ignoranz zur Kapitulation wird – und was wir dagegen tun können.
Wir leben in paradoxen Zeiten: 84 Prozent der österreichischen Bevölkerung sind sich einig, dass mehr gegen die Verbreitung von Fake News unternommen werden muss, aber mit Verschwörungstheorien, Halbwahrheiten und sogar Lügen wird Politik gemacht. Warum lassen wir uns einen Bären aufbinden?
Die Wahrheit ist anstrengend. Man muss Fakten verstehen und kritisch prüfen. Das kann arbeitsintensiv, belastend und unbequem sein − durch die globale Vernetzung und die Informationsverdichtung erst recht. Nicht selten bauen wir uns quasi Filter ein mit Informationen, die für unser Weltbild oder unsere Interessen passend oder günstiger sind. Oder wir suchen Orientierung bei Personen, wie wir auf Social Media sehen. Dann sind weniger die Fakten selbst als die Tatsache, dass ein Influencer, eine Influencerin, es gesagt hat, mein Glaubensanker, anstatt dass ich mich bemühe, herauszufinden, wo die Information herkam und wie sie von wem zusammengestellt wurde.
Ist uns die Welt zu komplex geworden?
Natürlich ist es inmitten der Komplexität unserer Welt mühsamer, Zusammenhänge zu verstehen. Daher lässt sich durchaus nachvollziehen, dass viele Menschen auch aus einer Überforderung heraus sagen, lasst mich in Ruhe, ich mache so weiter wie bisher, oder ich tue, was meine Peers oder Vorgesetzten sagen. Allerdings nimmt man sich damit auch ein Stück weit aus der Verantwortung und mutet sich selbst das Ergründen echter Sachverhalte nicht mehr zu. Das kann sehr stark missbraucht werden, denn damit wird es leichter, durch falsche Behauptungen, steile Thesen und personifizierte Angriffe Gefolgschaften aufzubauen, deren Mitglieder nicht mehr einem eigenen Kompass folgen.
Diversität empfinden nicht alle als Gewinn, sie kann auch verunsichernd sein.Maja Göpel
Wie genau meinen Sie das?
Gerade in Deutschland hatten wir stets ein mechanistisches Weltbild. Wenn aber auf einmal viele Entwicklungen eher unerwartet schnell und miteinander verbunden auftreten, dann verwirrt uns das. Auch die Mehrdeutigkeit, die durch die Vernetzung von Informationen aus unterschiedlichsten Quellen aufkommt, muss man erst mal aushalten. Diversität empfinden nicht alle als Gewinn, sondern sie kann auch verunsichernd sein. In westlichen Kulturen entsteht Sicherheit stark aus dem Gefühl der Kontrolle und jetzt funktionieren die dafür aufgesetzten Systeme und Abläufe nicht mehr. Die Ignoranz ist somit auch eine Kapitulation.
Kapituliert die Bevölkerung auch deswegen, weil sie keinen Einfluss mehr hat?
Ignoranz kann ja in beide Richtungen gehen. Einmal bin ich offensiv ignorant gegenüber der Konsequenz meines Handelns, um mir keine Bedenken einreden zu lassen, das andere Mal ignoriere ich etwas, weil ich es nicht aushalte, ohnmächtig zu sein. In der Summe hilft das dem Recht des Stärkeren: Man darf wieder völlig befreit nur auf sich selbst schauen, und das auch offen sagen, weil es ja angeblich allen offenstünde.
Was sind die Kollateralschäden?
Ignoranz kann gewaltvoll sein. Natürlich haben wir liberale und demokratische Gesellschaften in Arbeitsteilung organisiert, bis hin zur Gewaltenteilung in der Politik. Gerade Wissenschaft und Medien haben ja den Auftrag, die aktuelle Wirklichkeit und Handlungsmöglichkeiten aufzubereiten, weil der große Teil der Menschen in einer Gesellschaft anderen Tätigkeiten nachgeht. Genau deshalb werden diese Institutionen mit ihren methodischen Qualitätssiegeln auch als erstes von autokratischen Akteuren torpediert.
Welche Rolle spielt der Anstand in diesem Gefüge?
Beginnen wir bei den Werten: Werte bieten einen Kompass, wenn wir wissen, dass wir Regeln neu bauen müssen. In jeder strukturellen Veränderung lassen wir etwas los, das einen gewissen Pfad vorgegeben hat, und das neu definiert werden muss. Die Frage ist, was an dessen Stelle tritt. Im Moment wird die Krise von so einigen dazu genutzt, die eigene Macht zu stärken, aber nicht dazu, um, am Gemeinwohl orientiert, neue Pfade zu entwickeln. Daraus entsteht eine Abwärtsspirale in Kultur und Menschenbild, denn es wird mit den tieferen Ängsten der Menschen gespielt, die durch Parolen und Schuldsuche zu aggressiver Wut und Misstrauen aufgebaut werden können. In diesem Zustand können wir selten klar denken und haben oft keine Lust mehr, Zusammenhänge anzuschauen. Sondern wir schauen weg, damit das Gefühl aufhört, oder wir versuchen, die vermeintlich Schuldigen loszuwerden.
Studien werden mit Statements verglichen, die auf irgendeiner Website stehen.Maja Göpel
Die Voraussetzung für Wissensgewinn ist eine gefühlsmäßige Grundhaltung der Offenheit gegenüber neuen Erkenntnissen. Wie steht es um die Offenheit?
Offenheit macht verletzlich, da ich in dieser Haltung Irritation zulasse und Verbindung suche, was missbraucht werden kann. Viele Menschen legen sie seltener an den Tag. Wenn dann noch ständig erzählt wird, dass Dinge, die wir für richtig und wichtig halten, niemanden mehr interessieren, können wir in eine Hemmspirale kommen. Wenn sich eine schweigende Mehrheit nicht mehr traut, für etwas einzustehen, obwohl ihre Werte ihnen diesen Impuls geben würden, oder sich nicht mehr traut, das zu vertreten, was sie für richtig hält, weil sie Angst vor den Reaktionen hat oder davon ausgeht, dass es zwecklos ist, haben wir ein Problem.
Wie lässt sich das Problem lösen?
Wir brauchen die Bereitschaft, weiter darüber zu sprechen, was uns wichtig ist, was wir uns wünschen und welche Wege dahin als gute Kompromisse erscheinen. Denn Politiker in einer Demokratie brauchen Mehrheiten für die gesellschaftlichen Ziele. Wenn wir aber den Rechtspopulisten die Themensetzung überlassen, werden die gewählt, die am meisten Aufruhr verursachen. Dann wird etwa der Klimawandel als irrelevant erklärt und unwichtig gemacht, sodass in demokratischen Ländern der Eindruck entsteht, dass sei alles unnötige Drangsalierung und man könne damit keine Wahlen mehr gewinnen. Aber in ausführlicheren Befragungen wünscht sich immer noch eine Dreiviertelmehrheit, dass Klima- und Umweltschutz endlich gelingen. Wir müssen also aufpassen, wie durch Themensetzung politische Agenden getrieben werden, und wie die Meinungsforschung eine Verstärkerspirale in Gang setzt.
Welches Rollenverständnis trägt die Wissenschaft durch schwierige Zeiten?
In aufgeklärten Gesellschaften ist eine unabhängige Wissenschaft essenziell. Für mich ist sie eine organisierte Antwortsuche auf Fragen unserer Zeit. Dabei sind zwei Sachen relevant. Erstens: Was sind die Fragen unserer Zeit und wer sollte die stellen? Die Wissenschaft hat aus meiner Sicht auch den Auftrag, da gut hinzuhören und darauf zu reagieren. Zweitens: Wohin antwortet sie und zu welchem Zweck? Da gibt es neben Peer-Review Journals eben auch die Gesellschaft, die diese systematische Wirklichkeitsaneignung als Grundlage für die politische Willens- und Meinungsbildung braucht. Doch heute ist diese Rolle oft nicht angenehm; gerade wenn unbequeme Wahrheiten verkündet werden, nimmt die persönliche Anfeindung und Bedrohung zu. Das ist eine katastrophale Entwicklung. Denn dann ist die offene Gesellschaft unter Druck.
Wird Wissen erdrückt, in die Enge getrieben, mundtot gemacht?
Durchaus. Neben Aggressivität gegen die Absenderinnen wird nivelliert, also behauptet, Meinung sei identisch mir wissenschaftlicher Evidenz. Wenn ein gestandener Klimaforscher, der das Fachgebiet seit Jahren kennt, in einer Talkshow neben einen AfD-Politiker gesetzt wird, der eine Einzelstudie zitiert, und diese Positionen gleichwertig behandelt werden, signalisiert das nicht nur, dass ein Sachverhalt angeblich noch umstritten sei, sondern auch, dass ein Politiker ohne Publikationen in dem Feld ähnlich gut Bescheid weiß wie ein langjähriger Experte. Oder solide wissenschaftliche Studien werden mit Statements verglichen, die auf irgendeiner Website stehen, jedoch nicht die Kriterien für wissenschaftliches Arbeiten erfüllen. Das ist eine rasante Entwertung von wissenschaftlicher Sorgfalt und methodischer Weltaneignung, die da im öffentlichen Diskurs stattfindet. Etwas Ähnliches geschieht übrigens mit dem Journalismus, indem das Handwerk von Profis mit Kurzberichten von jetzt neu von Elon Musk gekürten „Citizen Journalists“ gleichgestellt wird, die Kriterien für journalistische Sorgfalt gar nicht kennen. Und wenn der Virologe Christian Drosten auf dem Campingplatz mit seiner Familie im Urlaub attackiert wird, oder Meteorologen in den USA nach Hurricanes Morddrohungen bekommen, wenn sie die mit dem Klimawandel in Verbindung bringen, dann haben wir ein handfestes Problem.
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Infos und Quellen
Genese
Anlässlich des 10. Wiener Balls der Wissenschaften hielt die deutsche Transformationsforscherin Maja Göpel einen Vortrag in Wien. Ihr Thema „Das hehre Ziel der Wahrheitssuche“ interessierte WZ-Redakteurin Eva Stanzl im Zusammenhang mit Fake News, die auch von politischer Seite intensiv verbreitet werden.
Gesprächspartnerin
Maja Göpel, geboren am 27. Juni 1976 in Bielefeld, ist eine deutsche Politökonomin, Transformationsforscherin, Nachhaltigkeitsexpertin und Gesellschaftswissenschaftlerin mit Schwerpunkt auf transdisziplinärem Denken. Seit 2019 hat sie sich zunehmend auf Wissenschaftskommunikation spezialisiert. Göpel ist Honorarprofessorin an der Leuphana Universität Lüneburg.
Quellen
Werte - Ein Kompass für die Zukunft, Maja Göpel | Hannes Androsch, Brandstätter Verlag, ISBN: 978-3-7106-0831-5
Das Thema in der WZ
Das Thema in anderen Medien
APA Science: Transformationsforscherin Maja Göpel zu Klimapolitik: ,,Es geht anders"
Die Presse: War’s das mit der Klimawende, Maja Göpel?
Puls 24: Nachgefragt bei Maja Göpel: In wleche Zukunft steuern wir?
3sat: Maja Göpel: ,,Wir stehen bis zu den Knien im Müll"