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Die Wurzeln der Gewalt

7 Min
Eine Collage bestehend aus einem Gesicht welches von einer Staubwolke einer Explosion teilweise verdeckt wird.
Ein Trauma kann die Seele derart zerstören, dass nur ein Verlangen nach Gewalt übrigbleibt.
© Collage: WZ, Bildquelle: Getty Images

„Töten kann Spaß machen“, sagt Thomas Elbert und ortet Traumatisierungen als Ursache von Grausamkeiten. Jude Yovel Recenati ist in Israel nahe am Geschehen und sieht die schwerste Traumatisierung der jüdischen Bevölkerung seit der Staatsgründung.


Aus Israel gehen Bilder um die Welt, die unfassbare Gräueltaten der Hamas-Terroristen zeigen. Inhaltlich unterscheiden sich die Bilder nicht wesentlich von denen, die der IS verbreitet hat. Neu ist indessen der Umgang mit ihnen: Kamen im Fall des IS die meisten westlichen Medien darin überein, die Bilder nicht zu zeigen, da sie Terror-Propaganda seien, so fordern jetzt immer mehr Israelis, Juden und jüdische Organisationen in den sozialen Medien, man solle die Bilder und Videoclips teilen, um deutlich zu machen, was die Hamas anrichtet. 

Damit hat sich eine Spirale der Gewalt zu drehen begonnen, wie sie sogar für den ohnedies gewaltgebeutelten Nahen Osten etwas Neues darstellt. Die WZ wollte von Expert:innen für Traumaforschung und Gewalt wissen, wie es dazu kommen kann, und kontaktierte zu diesem Zweck den deutschen Neuropsychologen Thomas Elbert und die israelische Expertin Jude Rovel Recenati. 

Das Gefühl ich schlage zurück"

„Gewalttätig sind meist Männer, die Gewalt und Flucht erfahren haben“, sagt Elbert. Das kann ein Trauma sein, das man am eigenen Leib erfahren hat oder in der mehr oder minder weit gefassten Familie. In der Folge baut sich das Gefühl auf: „Ich schlage zurück.“ Frauen würden auf eigene Gewalt- und Fluchterfahrungen wesentlich seltener mit Gewalt reagieren. 

Im Nahost-Konflikt spiele auf israelischer Seite die Shoah eine Rolle, sagt Elbert, auf der palästinensischen Seite die Nakba. Als Nakba (auf Deutsch: Katastrophe) bezeichnen arabischsprachige Menschen die Flucht und Vertreibung von etwa 700.000 arabischen Palästinenser:innen aus dem früheren britischen Mandatsgebiet Palästina. 

Das palästinensische Trauma 

Welches Trauma die Nakba für Palästinenser:innen bedeutet, führt Sarah El Bulbeisi, derzeit Mitarbeiterin am Orient-Institut Beirut, in einem Essay für das Schweizer politische Onlinemagazin „Geschichte der Gegenwart“ aus. Sie schreibt unter anderem: „Für Palästinenser:innen im Exil hielt die Gewalt ungeachtet ihrer sozio-ökonomischen Situation selbst nach ihrer Vertreibung an, weil die koloniale Erfahrung im historischen Palästina – die Zerstörung der palästinensischen Gesellschaft und Identität – auf einer symbolischen Ebene fortgesetzt und wiederholt wurde, und zwar durch die Tabuisierung und Rechtfertigung ihrer Gewalterfahrung. […] Ein entscheidender Teil der Gewalterfahrung von Palästinenser:innen in Zentraleuropa geht nicht nur von der Tabuisierung, sondern auch von symbolischer Gewalt aus. Symbolische Gewalt rechtfertigte den israelischen Siedlerkolonialismus auf verschiedene Weisen. So wurde beispielsweise der Akt der Vertreibung als selbstverschuldet dargestellt, die Verbundenheit von Palästinenser:innen zum Land verneint oder aber Gewalt gegen sie moralisch gerechtfertigt. Letzteres wurde im Wesentlichen über eine Opfer-Täter-Dichotomie erreicht, in der Palästinenser:innen auf die Position des Täters und moralisch Devianten fixiert werden. Sie wurden und werden als bedrohliche ,Wilde‘, Terroristen, Islamisten und Anti-Semiten dem Staat Israel als Teil der sogenannten christlich-jüdischen, abendländischen Kultur und Wertegemeinschaft gegenübergestellt.“ 

Palästinenser:innen begehen den Gedenktag der Nakba am 15. Mai, dem Tag nach der israelischen Unabhängigkeitserklärung. 2008 verbot Israel die Verwendung des Wortes Nakba in arabischsprachigen Schulbüchern. Das hängt mit der Wortbedeutung zusammen: Die israelische Position ist, dass es keinen Grund gebe, die Staatsgründung in offiziellen Unterrichtsprogrammen als Katastrophe darzustellen. 

Reaktive Wut treibt die Gewaltspirale

Elbert ist überzeugt, dass dieses Unterdrücken eines von einem ganzen Volk als Trauma empfundenen Geschehens ein weiterer Motor ist, der die Gewaltspirale durch reaktive Wut weiter antreibt. 

Doch wie kann es zu Gräueltaten dieses Ausmaßes kommen? – Elbert: „Kampf kann positiv wahrgenommen werden. Der Jagdtrieb ist eine zutiefst menschliche Eigenschaft. Das sieht man schon an Computerspielen, bei denen man umso höhere Punktzahlen bekommt, je mehr Blut spritzt.“ 

Der Gegner als Monster

Im konkreten Fall wird der Feind entmenschlicht und zum Monster aufgebaut: Man jagt keine Menschen, sondern „das Böse“. Ist nach der ersten Tötung die Hemmschwelle überwunden, kommt irgendwann der Moment, „in dem die Mordlust bis zum Blutrausch geweckt ist. Da heißt es nur noch: Ich bringe meine Beute um. Dann macht das Töten Spaß, und zwar, je näher ich dran bin.“ Deshalb haben, so Elbert, Religionen und Moralbegriffe die Gewalt geregelt und Staaten sie dem Einzelnen so weit wie möglich aus der Hand genommen.

Wo solche Kanalisierungen versagen, ist der Gewalt freilich Tür und Tor geöffnet. „Das sieht man nicht nur jetzt in Israel“, sagt Elbert, „sondern auch im Kongo. Der ist nur weiter weg und wird deshalb nicht als Parallele wahrgenommen.“ 

Was hat es mit dem Teilen der Fotos auf sich, das beide Seiten betreiben? „Israel zeigt damit: Wir müssen zurückschlagen. Die Terroristen zeigen: Ihr müsst uns fürchten. Folter ist nie dazu geeignet, konkrete Geständnisse zu erpressen, sondern es soll Angst erzeugt werden.“ 

Gewalt ohne Ende?

Gibt es ein Ausstiegsszenarium aus dieser Gewaltspirale? – Den über Generationen aufgestauten Hass auf beiden Seiten hält Elbert für das größte Hindernis. „Jerusalem ist für drei Religionen die heiligste Stätte und zugleich religiös intolerant. Juden, Muslime und Christen regeln, wer was wo darf oder nicht darf. Aus dieser Abgrenzung entsteht Hass auf allen Seiten. Die religiösen Führer müssten ihren Hass aufgeben und vorangehen“, sagt Elbert und fügt nach einer Pause hinzu: „Aber das sehe ich nicht, das wird nicht sein.“

Extreme Bilder

Jude Rovel Recenati, Präsidentin und Mitbegründerin des israelischen Trauma-Zentrums NATAL, sieht eine schwere Traumatisierung des jüdischen Volks durch den Angriff der Hamas, aber ebenso durch die Bilder von den Gräueltaten: „Das israelische Volk und das jüdische Volk als Ganzes hat ein schweres Trauma erfahren, eines der schwersten seit dem Holocaust und eines der schwersten auch, seit der Staat Israel besteht”, sagt Recenati. „Seit vielen Jahren hat man im Westen keine so extremen Bilder von Massakern an Kindern, alten Menschen und ganzen Familien und Qualen für Zivilpersonen gesehen – und das in dieser Häufigkeit. Es kann keinen Zweifel geben, dass dieses Trauma vergangene Traumata vom Holocaust bis zum Yom-Kippur-Krieg erneuert. Wir sind überzeugt, dass die gegenwärtigen traumatischen Erlebnisse sogar schwerer wiegen als die des Yom-Kippur-Kriegs, denn im Yom-Kippur-Krieg betraf die Mehrzahl der Todesfälle Soldaten, während die Mehrzahl der Todesfälle jetzt die Zivilbevölkerung betrifft."

Rache und Friedenssuche

Ändern auf solche Weise traumatisierte Personen ihre politische Position? Recenati verweist auf vorherige Erfahrungen, die keine eindeutige Antwort erlauben. Extreme Traumata würden manchmal ein Verlangen nach Rache hervorrufen, manchmal wären sie jedoch ein Grund, dass sich Menschen zu Friedenssuchenden und Pazifist:innen wandeln. Vorerst aber stellt sich in Israel die politische Frage nicht, sagt Recenati, denn: „Derzeit, so nahe an den Massakern, die gerade stattgefunden haben, gibt es in Israel überhaupt keine politische Diskussion. In Israel, wie auch in den westlichen Staaten, ist der Fokus auf dem Sicherheitsbedürfnis Israels, völlig unabhängig von der politischen Diskussion.” 

Die große Frage bleibt, wie die Bilder wirken, zumal beide Seiten, sowohl die Hamas als auch Israel, die Bilder und Videos verbreitet wissen wollen. „Die grauenhaften Bilder und Videos, denen wir in den letzten Tagen ausgesetzt waren, hat man so in den letzten Jahren nicht gesehen”, sagt Recenati. Auf der einen Seite zeigen sie die extreme Brutalität gegen israelische Zivilisten, auf der anderen Seite können Betrachter traumatisiert werden.”

Die Welt muss die Bilder sehen

Aber wie soll man damit umgehen? Recenati sagt, dass sie als Leiterin einer Organisation, die sich in Israel um psychische Gesundheit kümmert, israelischen Bürger:innen empfiehlt, das Ansehen dieser Bilder und Videos eng zu begrenzen. „Vor allem Kinder, Teenager und Menschen mit psychischen Problemen sollten sie meiden”, sagt Recenati, „dennoch kann es keinen Zweifel daran geben, dass die Welt diese Bilder sehen muss.” 

Wie wirken sich der Angriff und die Bilder auf Juden aus, die nicht in Israel leben? Recenati ist überzeugt, dass die Bilder jedes vernunftbegabte menschliche Wesen, unabhängig ob Jude oder Nicht-Jude, zutiefst verstören. Doch sie sollten, wie es beim IS geschehen ist, auch die Notwendigkeit vor Augen führen, „Organisationen der Grausamkeit, deren Motive böse Absichten und Unmenschlichkeit sind und die gegen jede internationale Konvention handeln, auszulöschen. Es gibt keinen Zweifel daran, dass diese traumatischen Vorgänge die Angst aller Juden auf der ganzen Welt verstärken, sowohl für ihre eigene Sicherheit als auch für die ihrer Angehörigen in Israel, und schließlich auch die Angst vor antisemitischen Attacken auf der ganzen Welt.”

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