Verantwortungsvolles digitales Verhalten heißt nicht, keine digitalen Medien mehr zu nutzen, sondern abzuwägen, was man dafür zu geben bereit ist, und dort aufmüpfig zu sein, wo es nötig ist. Ein Gespräch mit Netzphilosophin und Autorin Leena Simon.
Leena Simon ist Philosophin mit den Schwerpunkten Internet und Digitalität und plädiert für eine neue Haltung im digitalen Raum: mehr Verantwortung, mehr Grenzen, mehr Mündigkeit. Im Interview erklärt sie, was das bedeutet, was die Plattform Bluesky ist und warum wir uns weniger von Algorithmen gefallen lassen sollten. Ein Plädoyer für Eigensinn und Rebellion in einer vernetzten Welt.
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Was ist digitale Mündigkeit?
Digitale Mündigkeit bedeutet, dass ich bereit bin, für mein digitales Verhalten Verantwortung zu übernehmen und mir zu überlegen, ob es Probleme damit geben könnte – für mich selbst, für andere oder sogar für die ganze Gesellschaft. In dem Moment, in dem ich es hinterfrage, ist es nicht mehr ignorant, sondern ich kann Dinge auch ganz bewusst in Kauf nehmen. Man kann auch mündig rauchen, wenn man weiß, was man da tut.
Warum sind wir eigentlich noch nicht digital mündig?
Einen Grund sehe ich in der Art, wie wir als Gesellschaft angefangen haben, uns diese ganze Digitaltechnik anzueignen. Wir haben zwar mehr oder weniger gelernt, wie man zum Beispiel ein Inhaltsverzeichnis erstellt. Aber Fragen wie „Wie gestalten wir den öffentlichen, digitalen Raum?“ oder „Was ist denn für alle gut?“ wurden nicht aufgeworfen. Wir haben sie uns konsequent abtrainiert.
Der Philosoph Immanuel Kant sagt, Faulheit und Feigheit sind die Gründe, weshalb wir uns so gern entmündigen lassen. Uns Faulheit und Feigheit zu unterstellen, finde ich ziemlich gemein. Ich würde es bezeichnen als die Angst davor, etwas falsch zu machen. Und Faulheit im Sinne von: „Ich will jetzt nur, dass es funktioniert. Es nervt mich, mich damit auseinandersetzen zu müssen.“ Heute kommt aber noch ein dritter Grund hinzu und das ist schlichtweg Überforderung. Es ist einfach so ein riesengroßes Thema. Selbst die Fachleute kennen sich immer nur auf ihrem Gebiet aus. Da fühlt man sich schnell verloren.
Man kann auch mündig rauchen, wenn man weiß, was man da tut.Leena Simon, Netzphilosophin und Autorin
Und wie kommen wir da wieder raus – als Gesellschaft und als Individuen?
In dem Moment, in dem wir anfangen zu sagen: „Ich will Verantwortung übernehmen“, haben wir eine Chance. Je mehr Menschen bereit sind, den einen oder anderen Schmerz in Kauf zu nehmen, Energie reinzustecken, desto mehr wird die Politik unter Druck geraten, klare Vorgaben zu machen – und zwar sinnvolle, gute, die eben den Menschen generell nutzen und nicht den Elon Musks dieser Welt. Es wird auch gesamtgesellschaftliche Bewegungsprozesse geben müssen. Schon heute gibt es gute Alternativen zu den gängigen sozialen Medien, die ohne Lock-in-Effekt funktionieren. Das heißt, ich kann dort weggehen, ohne meine Kontakte zu verlieren. Das ist bei den großen Plattformen bisher nicht der Fall.
Gehört auch das neuerdings so gehypte Bluesky zu diesen Plattformen?
Bluesky ist das, was Twitter vor 10 Jahren war. Das sind wahrscheinlich nette Leute, die auch eine nette Idee haben, aber das hat weiterhin genau dasselbe Problem. Wenn es verkauft wird an irgendeinen Multimilliardär, der dann damit einen Wahlkampf unterstützen möchte, gibt es auch dort diesen Lock-in-Effekt und Schwierigkeiten.
In Ihrem Buch „Digitale Mündigkeit” geht es auch um die Beziehung zwischen Menschen und Technik allgemein. Zum Beispiel hilft digitale Technik Diabetiker:innen heute maßgeblich dabei, ihren Zuckerwert richtig zu bestimmen. Dabei werden aber viele sensible Daten gesammelt. Wo zieht man da die persönliche Grenze?
Ich glaube tatsächlich, dass das eine der Fragen ist, die wir als Gesellschaft beantworten müssen. Das geht aber erst, wenn wir digitale Mündigkeit praktizieren. Künstliche Intelligenz etwa kann als Werkzeug total toll sein. KI ist nicht die eigentliche Gefahr, sondern unser Umgang damit. In unserem heutigen Zustand ist sie aber ultragefährlich. Nur wenn wir es schaffen, als Gesellschaft hier die richtige Abzweigung zu nehmen, werden wir die Probleme in den Griff bekommen.
Was ist ein „guter“ Algorithmus?
Da stellt sich natürlich als Erstes die ethische Frage, was „gut“ überhaupt heißt. Gut für die Betreiber? Gut für die Individuen? Oder gut für die gesamte Gesellschaft? So ein klassischer Algorithmus der sozialen Medien lässt mich in meiner Komfortzone und zeigt mir Inhalte so, dass sie meine Meinung weiter bestärken. Der Algorithmus betoniert mich ein und fordert mich nicht mehr heraus; konfrontiert mich nicht mehr auf konstruktive Weise mit anderen Standpunkten.
Beispielsweise will der YouTube-Algorithmus, dass ich mich wohlfühle und möglichst viel Zeit auf der Plattform verbringe, weil er mit meiner Aufmerksamkeit Geld verdient. Zudem will er, dass wir interagieren, etwas lustig finden oder uns aufregen. Das steigert den Werbewert. Deshalb sind diese Algorithmen oft darauf ausgerichtet, das Schlechteste aus uns rauszuholen. Sie polarisieren, schüren Hass und verbreiten Lügen. Wie es heute läuft, ist also gut für die Plattformbetreiber, aber ganz sicher nicht für die Gesellschaft.
Während ich Ihr Buch las, habe ich mich dabei ertappt, wie ich selbst immer wieder versuche, den YouTube-Algorithmus zu „erziehen“. Wenn eine Werbung in einem Video kommt, das ich nicht unbedingt sehen will, breche ich es zum Beispiel sofort ab, weil ich dem Algorithmus zeigen will, dass mir das Video die Werbezeit nicht wert ist.
Das finde ich erstmal super, denn darin steckt etwas Rebellisches im Umgang mit dem Algorithmus. Ich plädiere ja immer für mehr Eigensinn. Gleichzeitig ist es auch ein bisschen hoffnungslos, denn der Algorithmus wird immer weiter Werbung einspeisen, wenn man keine speziellen Apps dagegen nutzt. Aber das Vorgehen ist insofern spannend, als dass es auch – zumindest in dem Moment – ein bisschen selbstverletzend ist. Auf lange Sicht sagst du damit: Eigentlich wollte ich das Video gucken, aber ich setze Grenzen. Es zeigt, dass man Prinzipien hat, zu denen man steht, und seiner eigenen Ethik treu bleibt. Lieber schaust du das Video nicht, als diese Ethik zu verletzen.
Das erinnert mich fast an das Grenzen-Setzen in zwischenmenschlichen Beziehungen.
Ja, der Algorithmus geht sehr stark auf die individuelle Person ein. Wenn eine Person schon einmal für einen Dienst bezahlt hat, wird sie vielleicht noch mehr bezahlen. Er berechnet: Wie stark kann ich die Menschen abzocken, gängeln und malträtieren? Der Algorithmus richtet sich danach, was sich die Menschen gefallen lassen und was sie von sich preisgeben. Am Ende landen wir wieder bei der Frage nach der digitalen Mündigkeit.
Also eigentlich müssen wir uns mehr zieren?
Genau, das stimmt. Das wäre ein schöner Titel für dieses Interview: Wir sollten uns mehr zieren.
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Infos und Quellen
Gesprächspartnerin
Leena Simon ist graduierte Philosophin mit Schwerpunkt Netzphilosophie, IT-Beraterin und Autorin. Sie beschäftigt sich mit digitaler Mündigkeit und Technikpaternalismus, arbeitet für den Verein Digitalcourage, der sich für Grundrechte und Datenschutz einsetzt, und bietet als freie Referentin Vorträge und Fortbildungen an. Ihr Ziel: Menschen befähigen, Verantwortung für ihre digitale Kommunikation zu übernehmen. Im März 2024 erschien ihr Buch „Digitale Mündigkeit: Wie wir mit einer neuen Haltung die Welt retten können“.
Leenas zehn Tipps zur angewandten digitalen Mündigkeit:
Die 30-Minuten-Regel: Nimm dir zumindest 30 Minuten Zeit, um Probleme zu verstehen, die im digitalen Kontext auftauchen. Klappt es dann immer noch nicht, suche online nach Lösungsvorschlägen oder zieh eine andere Person zur Hilfe hinzu und lass dir den Lösungsweg erklären.
Sichere Passwörter: Verwende Eselsbrücken, um schwer knackbare Passwörter zu erstellen, und Passwort-Manager, um sie im Zweifel nicht zu vergessen.
Freie Software & offene Schnittstellen: Für die meisten Anwendungen gibt es Open-Source-Alternativen wie Firefox, Thunderbird oder Linux. Nutze sie.
AGB prüfen: Auch wenn es oft mühsam ist, solltest du etwas Zeit investieren, um Allgemeine Geschäftsbedingungen zumindest einmal zu scannen. Extrem lange und unverständliche AGB wollen vielleicht gar nicht gelesen werden – möglicherweise ein Hinweis darauf, dass sie Unerfreuliches verbergen.
Eigensinn verteidigen: Wenn Freund:innen oder Verwandte einen Kommunikationskanal nicht verwenden wollen, gestehe ihnen diesen Eigensinn zu und schließe sie deshalb nicht aus.
Cloud vermeiden: Anstatt dich auf Cloud-Dienste zu verlassen, kannst du auch eine eigene Cloud betreiben, beispielsweise über den Anbieter Nextcloud, oder dich für kommerzielle Anbieter entscheiden und die Dateien dort in verschlüsselten Containern ablegen.
Quellen prüfen: Bevor du bei WhatsApp, X, Facebook und Co. einfach etwas „teilst“, informiere dich, woher die Inhalte stammen. Besonders Bilder werden oft verfälscht und/oder in einen falschen Kontext gesetzt.
Verschlüsseln: Für das Verschlüsseln gibt es verschiedene Methoden – und Messengerdienste wie WhatsApp, Signal, Threema oder Telegram gehen unterschiedlich mit den Daten ihrer Nutzer:innen um, genauso wie Anbieter von E-Mail-Konten. Setze dich damit auseinander.
Überwachungskapitalismus verstehen: Versuche zu verstehen, wer ein Interesse an deinen Daten hat und mit welchen Geschäftsmodellen daraus Profit geschlagen werden kann.
Solidarität: Stelle dir öfter die Fragen: Wie sind andere Menschen von meinen digitalen Handlungen betroffen? Schadet mein Verhalten vielleicht anderen Menschen?
Daten und Fakten
Im Digitalen Aktionsplan Austria des Bundesministeriums für Digitalisierung und Wirtschaftsstandort wird digitale Mündigkeit als ein Pfeiler einer „digitalen Verantwortungsgesellschaft“ genannt. Das Zukunftsbild für den digitalen Standort Österreich 2040–2050 sieht vor, dass Menschen die Digitalisierung in allen Lebensbereichen möglichst eigenverantwortlich nutzen. Zudem sollen Institutionen und Unternehmen Daten im Einklang mit datenschutzrechtlichen Vorgaben bestmöglich nutzen können, während der Einzelne der „Daten-Souverän“ bleibt.
Quellen
Simon, Leena (2024). Digitale Mündigkeit: Wie wir mit einer neuen Haltung die Welt retten können
Das Thema in der WZ
KI – Neue Technik für eine alte Sehnsucht
Die größte IT-Schwachstelle ist der Mensch
KI: Viel Leistung, aber kein Verstand
Das Thema in anderen Medien
Perspective Daily: Der 10-Punkte-Plan zur digitalen Mündigkeit
Netzpolitik.org:
Digitale Mündigkeit im Selbstversuch: Eine neue Art zu leben
Digitale Mündigkeit: WhatsApp? Nein, danke.
Philosophie Magazin: Mit Kant zur digitalen Mündigkeit