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Ukrainische Therapeut:innen haben es sich zur Aufgabe gemacht, traumatisierten Kindern am Rand der Karpaten einen Ort der Zuflucht zu bieten. Auch wenn die Gegenwart unsicher ist, sollen sie für die Zukunft gestärkt werden.
Es heißt, dass Sicherheit eines der wichtigsten Gefühle für Kinder in ihrer Entwicklung ist. Vertrauen in stabile Verhältnisse, Vertrauen in die Bezugspersonen und die Umgebung. Aber vor zwei Jahren ist Russland in die Ukraine einmarschiert, es herrscht offener Krieg. Sicherheit und Vertrauen in die Zukunft sind nun auch bei den ukrainischen Erwachsenen Mangelware. Es ist also fast ein Ding der Unmöglichkeit, diese Werte an die Kinder zu vermitteln.
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Yulia Vynnytska und Mykola Vynnytskyy stellen sich dieser Aufgabe. Gemeinsam mit einer Handvoll Freiwilliger gestalten die beiden ukrainischen Psychotherapeut:innen jeden Sommer ein Camp für Kinder. Malen, Fußball, Wasserfall. Klingt simpel, ist es aber nicht. Es geht darum, den Kindern einen sicheren Ort zu schenken. Das Gefühl, dass sie für elf Tage lang unbeschwert Kinder sein dürfen. 100 Kilometer von Lemberg entfernt, am Fuß der Karpaten. Es ist ein malerisches Fleckchen Natur, weit weg von der Frontlinie, weg von den Ballungszentren.
Autos, Panzer, Maschinengewehre
Die erste Regel der Traumatherapie besagt, dass die Betroffenen in physische Sicherheit gebracht werden müssen. Erst dann könne man anfangen, an den psychischen Wunden zu arbeiten. Gemalt werden Autos, Menschen, Panzer, Maschinengewehre. Zweimal am Tag kommen die Kinder und ihre Betreuer:innen zu einem Sesselkreis zusammen. Es wird über ihre Träume geredet, über ihre Alpträume. Wie der Tag für sie werden soll. Wie der Tag für sie war. Ob sie etwas spüren und wenn ja, was. Es sind Kinder im Alter von sechs bis fünfzehn Jahren, eine Gruppe hat rund fünfzehn Teilnehmer:innen, die elf Tage lang in den Zelten, zwischen den Bäumen, leben, an der Sonne leben.
Ein Raum für Möglichkeiten entsteht
Die ersten Tage verhalten sich die meisten Kinder ruhig. Dann treten die ersten Konflikte auf. Auch das darf sein, die Betreuer:innen signalisieren: Sie halten das aus. Irgendwann setzt ein Prozess bei den Kindern ein, sie verarbeiten das Erlebte. „Es wird den Kindern ein Raum für Möglichkeiten eröffnet“, erklärt Wilfried Datler, Professor am Institut für Bildungswissenschaften und Leiter des Arbeitsbereichs Psychoanalytische Pädagogik an der Universität Wien. Er ist mit dem Projekt über die Vernetzung von Kolleg:innen bekannt geworden. Auch elf Tage können da einiges bewirken, meint Datler. Die Kinder gewinnen ein Gefühl der Sicherheit. Und sie merken, dass sie nicht allein mit ihren Erfahrungen und Erlebnissen sind. Die Tatsache, dass manche Kinder regelmäßig in das Sommercamp kommen, deutet Datler ebenfalls als positiv. Da ist zusätzlich eine gewisse Kontinuität gegeben.
Wir haben gemeinsame Ängste.Yulia Vynnytska
Das Camp von Yulia und Mykola ist weltweit natürlich nicht das erste oder einzige Lager für Kinder und Jugendliche, die traumatisiert worden sind. Aber es ist das einzige in der Ukraine, das diese Art des Angebots stellt. Und was das Camp noch besonders macht: Auch die Betreuungspersonen sind traumatisiert. Denn der Krieg betrifft in der Ukraine mittlerweile alle, manche eben direkter als andere. „Die Kinder und die Betreuer:innen haben gemeinsame Ängste“, sagt Yulia. „Wir alle erleben den Krieg auf verschiedenen Ebenen. Also jede:r von uns versteht die Sorgen ziemlich gut.“
Das macht Supervision und Intervision im Camp umso wichtiger, die Gespräche in der Gruppe finden jeden Abend für die Psychohygiene statt, sonst kann man den Kindern keinen Halt geben. „Die Betreuer:innen unterliegen auch selbst dem Kriegstrauma. Sei es, weil sie flüchten mussten, ihr Haus oder sogar Angehörige verloren haben. Auch im Westen, wo es eigentlich ruhig ist, müssen wir mit dem ständigen Luftalarm umgehen“, erzählt Yulia. Die Therapeutin mit Spezialisierung auf Kinder und Jugendliche ist eine elegante Erscheinung mit moderner Brille. Sie ordiniert in Lemberg und hat ihr Elternhaus gemeinsam mit ihrem Mann Mykola zu einem Zufluchtsort für Kinder adaptieren lassen. Und das, obwohl die beiden schon vier eigene Kinder haben. Aber die Zeiten haben sich nun mal geändert. Das spürt jede:r in der Ukraine. Auch diejenigen, die im Westen des Landes leben.
Ein Leben mit dem Notfallkoffer
„Wir sind immer bereit, in die Keller, in die Schutzeinrichtungen zu gehen. Egal ob Tag oder Nacht. Täglich müssen wir vorbereitet sein, dass etwas schiefgehen kann und die Pläne verworfen werden müssen“, erzählt Yulia, obwohl sie im vergleichsweise sicheren Lemberg leben. Aber Sicherheit ist relativ. „Jetzt haben wir so einen Notfallkoffer und wir sind bereit, den jeden Moment zu nehmen und an einen sicheren Ort zu fahren“, ergänzt Mykola. Und sie müssen nicht nur sich selbst in Sicherheit bringen, sondern auch ihre vier Kinder. Der Krieg hat Mykola außerdem zu einem Nachrichten-Junkie gemacht: „Ich habe die Jahre davor die Medien nicht so aktiv verfolgt, aber jetzt ist es für mich Routine. Dauernd frage ich die Lokalnachrichten ab. Was passiert in der ganzen Ukraine? Was berichten die Telegram-Kanäle? Das ist jetzt ganz wichtig für mich geworden“, erzählt Mykola. Auch hat sich seine Einstellung zum Spenden geändert, berichtet er: Das war nichts Normales, nichts Routiniertes. Heute packen alle an, wenn jemand an der Front kämpft, den man direkt kennt. Solidarität ist jetzt normal.
Die beste Investition: die nächste Generation
Nun versuchen Yulia und Mykola auf ihre Art zu helfen. Sie haben sich schon mit der Maidan-Revolution 2013 dazu entschieden. Damals sind über 100 Ukrainer:innen bei der Niederschlagung der Proteste ums Leben gekommen. Damals hat das Ehepaar, gemeinsam mit anderen Berufskolleg:innen, akute Hilfe für Angehörige geleistet. „Da wurde uns klar, dass die nächste Generation die beste Investition in die Ukraine ist. Daher haben wir den Kindern von Eltern, die gekämpft haben, geholfen."
Dann hat sich 2014/2015 die Idee weiterentwickelt – hin zu einem Therapiedorf für Kinder, die von der gewaltsamen Situation betroffen sind. Zehn Personen waren in die Entwicklung des Camps involviert, drei sind im Kernteam geblieben – darunter Yulia und Mykola. Das Lager gibt es seither von Juni bis Ende August – die Kinder zahlen einen Selbstkostenpreis für Material und Nahrungsmittel. Kinder von Soldaten bekommen noch einen Rabatt. Finanziert wird das alles über Spenden – dafür sammeln die unterschiedlichsten Stellen: Nichtregierungsorganisationen in der Ukraine, eine Schule in New Jersey – und ein Kreis österreichischer Psychotherapeut:innen.
Niemand weiß, wie lang der Krieg noch dauert, und wie viele Opfer er noch verlangt. Das macht das Trösten schwierig. Niemand weiß, wann und ob es wirklich besser wird. So ist Resilienz das Einzige, was sie die Kindern lehren können. „Wir versuchen, die posttraumatische Belastung in eine posttraumatische Entwicklung umzusetzen. Wir hoffen, dass genau im Camp dieser Schritt passiert: dass die Kinder ihre Erfahrungen integrieren können. Und so eine Brücke finden, um die Zukunft zuzulassen“, sagt Mykola. Denn wer seine Traumata nicht aufarbeitet, ist dazu verdammt, in der Vergangenheit verhaftet zu bleiben.
Stillstand ist gleichbedeutend mit dem Tod.Mykola Vynnytskyy
Wie gehen die Therapeut:innen Mykola und Yulia selbst mit dem Leben in Unsicherheit um? „Wir sind, ob wir wollen oder nicht, ständig mit der Frage nach Plänen konfrontiert. Dazu kommt immer die Frage nach der Hoffnung“, gibt Mykola zu. Aber in der Verzweiflung erstarren ist keine Option. „Stillstand ist gleichbedeutend mit dem Tod. Auch ohne zu wissen, was uns erwartet, müssen wir vorwärts gehen. Wir müssen flexibel und anpassungsfähig bleiben.“ Und Yulia ergänzt: „Vor dem Krieg hatten wir immer nur einen Plan A für das Leben. Jetzt haben wir Plan B, Plan C, Plan D.“
Angst, Panikattacken, die nackte Existenz
Auch im beruflichen Kontext hat der Krieg das Leben von Yulia und Mykola verändert. Angst, Panikattacken, Unsicherheit. Und das Existenzielle an sich. Diese Themen haben stark zugenommen, berichtet Mykola. „Das ist für alle momentan aktuell.“
Yulia arbeitet viel mit Kindern – unter anderem mit jenen, die innerhalb der Ukraine oder sogar aus der Ukraine geflüchtet sind. Hier sind Anpassungsschwierigkeiten ein großes Thema. „Für die Kinder, die im Ausland sind, bedeutet das, eine neue Sprache, eine neue Klasse – und sie wissen nicht, wie lang sie bleiben sollen oder müssen. Das ist nicht leicht, das alles zu integrieren. Das benötigt manchmal viel Mut.“ Und das sei der Grund, warum sehr viele zurückwollen. Auch Kinder, die im Ausland leben, kommen im Sommer gern in das Camp von Yulia und Mykola. Weil sie dort Gleichgesinnte finden. Sich weniger allein fühlen. Und das Gefühl bekommen: Das Leben geht weiter. Der Name des Projekts: RaDity. Fasse Freude.
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Infos und Quellen
Genese
WZ-Redakteurin Konstanze Walther ist über ein Netzwerk österreichischer Psychotherapeut:innen auf Yulia und Mykola gestoßen. Sie fand das Projekt bemerkenswert, im Krieg Kindern und Jugendlichen Halt geben zu wollen, auch wenn das eigene Leben ein großes Fragezeichen ist.
Gesprächspartner:innen
Yulia Vynnytska, Psychiaterin in der Lemberger Klinik für Psychiatrie. Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche in freier Praxis.
Mykola Vynnytskyy, Psychiater und freier Psychotherapeut, Mitarbeiter bei der akuten Trauma-Einheit des Lemberger Krankenhauses.
Wilfried Datler, Universitätsprofessor und Leiter des Arbeitsbereichs Psychoanalytische Pädagogik am Institut für Bildungswissenschaft.
Quellen
Ausstellung der Arbeiten der Kinder im Sigmund Freud Museum Wien bis April 2024