Zum Hauptinhalt springen

Nach der Flut: „Wenn wir weiter warten, schwimm’ ich wieder“

9 Min
In Deutschfeistritz ist ein Hochwasserschutz-Projekt mit zwei Rückhaltebecken in der Höhe von 25,5 Millionen Euro geplant.
© Illustration: WZ, Fotocredit: Freiwillige Feuerwehr Deutschfeistritz

In Deutschfeistritz kämpfen Betroffene und Einsatzkräfte mit der Angst vor Starkregen – und mit schleppenden Schutzmaßnahmen. Warum geht es so zäh voran, wenn das nächste Hochwasser nur eine Frage der Zeit ist?


    • In Deutschfeistritz verzögert sich ein 25,5-Millionen-Euro-Hochwasserschutzprojekt wegen Genehmigungen und Landverhandlungen.
    • Klimawandel erhöht Starkregenrisiko, doch viele Gemeinden wie Deutschfeistritz haben keine Gefahrenkarten.
    • Feuerwehrkräfte leiden nach Hochwassereinsätzen psychisch stark, Teamzusammenhalt wurde jedoch gestärkt.
    • Geplantes Hochwasserschutzprojekt: zwei Rückhaltebecken, Kosten: 25,5 Millionen Euro.
    • Hochwasser am 8. Juni 2024: mehr als hundertjähriges Ereignis.
    • Nur zehn Gemeinden in der Steiermark besitzen Gefahrenkarten für Rutschungen.
    • Österreich: 350.000 Mitglieder bei der Freiwilligen Feuerwehr, davon 258.000 aktiv.
    Mehr dazu in den Infos & Quellen

Zwischen Berghängen eingekeilt liegt Deutschfeistritz wie in einem natürlichen Trichter. Häuser drängen sich dicht bis zum Ufer des Übelbachs. Bei Sonnenschein bahnt sich das Wasser gemächlich seinen Weg durch den Ort. Doch bei Starkregen mutiert das Gerinnsel schnell zu einer potenziellen Todesfalle. So wie am 8. Juni 2024, also genau vor einem Jahr. Es ist halb sieben am Abend, der Himmel öffnet seine Schleusen und trifft die Deutschfeistritzer mit einem mehr als hundertjährigen Hochwasser. Als Gertraud Hiden in ihrem Haus die Stiegen zum Keller hinabschaut, ist die erste Stufe bereits unter Wasser. Das Telefon klingelt, am anderen Ende meldet sich Hidens panische Tochter aus ihrem Auto: „Mama, die lassen uns nicht mehr in den Ort hinein. Ruf sofort die Feuerwehr!“ Die 70-jährige Hiden befindet sich zu diesem Zeitpunkt mit der 86-jährigen Schwiegermutter im Erdgeschoss. Sich gemeinsam mit der gebrechlichen Dame in den ersten Stock retten – unmöglich. Genauso wie die Flucht nach draußen: „Man hat nur noch die Dächer von schwimmenden Autos gesehen.“

Tränen in der Schlauchkammer

Getraud Hiden setzt einen Notruf ab. Damit ist sie bei Weitem nicht die Einzige. Hans-Jürgen Lindenau sitzt mit seinen Kameraden im Feuerwehrauto. „In zwei Minuten geht der Bach über“, tönt es aus dem Funkgerät. Pause. Dann: „Da reißt’s gleich ein Haus weg.“ Und: „Es sind noch Menschen drinnen.“ Als Lindenau die Stimme seines Kommandanten hört, erkennt er an seiner Tonlage: „Jetzt geht’s um Leben und Tod.“ Wenn der Regen kommt, pumpen er und die anderen Feuerwehrleute normalerweise Keller aus. An diesem Abend verteilt er allerdings weder Sandsäcke noch betreibt er Gebäudeschutz. Die nächsten sieben Stunden werden er und seine Mannschaft sich gegen das Wasser stemmen und Menschen retten. „In dem Moment vergisst du alles, was du in 30 Jahren gelernt hast – du handelst nur noch instinktiv.“ Erst in den frühen Morgenstunden schafft er es zurück ins Rüsthaus. Er will verschnaufen, zieht sich in die Schlauchkammer zurück. Andere hatten die gleiche Idee. „Keiner hat mehr etwas gesagt, bei uns allen sind nur noch die Tränen geronnen.“ Lindenau realisiert: „Nicht nur ich hätt’ fast mein Leben verloren. Ich hab’ meine ganze Mannschaft in Gefahr gebracht. Aber was hätt’ ich denn den Leuten sagen sollen? ’Tschuldigung, du musst jetzt leider ertrinken?“

Selbst als Gertraud Hiden, die Schwiegermutter und alle anderen in Deutschfeistritz gerettet waren und das Wasser sich langsam zurückzog, blieb keine Zeit für Stillstand. Häuser mussten gesichert, Wege freigeräumt werden. Und immer wieder der Blick ins Umland: Hänge, die sich jederzeit lösen könnten, weil sich die Böden mit Wasser vollgesogen haben. Nahe Deutschfeistritz versperrte eine Mure tagelang die Pyhrn Autobahn. Eine halbe Autostunde entfernt riss eine Mure ein Kind mit, es kommt ums Leben. Die Gefahr war nicht vorbei. Sie hatte nur die Form gewechselt.

„Wir hängen total in der Luft“

Ein Jahr später: Gertraud Hidens Keller ist leer. Die Tiefkühltruhe und die Waschmaschine musste sie wegschmeißen, die Heizung komplett erneuern. Auch drei Autos unter dem Carport haben Schaden genommen. Kostenpunkt: Weit mehr als 10.000 Euro. Hiden ist sauer, sie vermisst Maßnahmen: „Wir hängen total in der Luft.“ Also nimmt sie die Dinge vorerst selbst in die Hand. Eine 70 Zentimeter hohe Mauer soll künftig die Wassermassen zurückdrängen – so die Idee. Aber kaum war die Mauer fertig, intervenierte die Gemeinde: „Nicht gestattet.“ Keine Genehmigung, fügt sich nicht harmonisch ins Ortsbild ein. Hiden versteht die Welt nicht mehr: „Wenn wir weiter warten, bis endlich jemand etwas unternimmt, schwimm’ ich wieder.“ Mit ihren eigenen Mitteln gegen die Wassermassen. Hiden sieht sich als Einzelkämpferin.

Ein Foto der Nachwirkungen der Überschwemmung.
Die Nachwirkungen der Überschwemmung
© Fotocredit: Freiwillige Feuerwehr Deutschfeistritz

Wenige hundert Meter steht Bürgermeister Michael Viertler (ÖVP) vor dem Gemeindeamt. Von dort aus blickt er auf den Bach, der schon einmal zur Bedrohung wurde. Während Menschen wie Getraud Hiden bereits ihre eigenen Lösungen suchen, muss er seine Gemeinde wieder und wieder um Geduld bitten. Denn grundsätzlich hat er Großes vor: Ein Hochwasserschutz-Projekt mit zwei Rückhaltebecken in der Höhe von 25,5 Millionen Euro. Doch die eigentliche Hürde ist nicht die Planung, sondern die Umsetzung des Projekts in die Realität. Samt juristischer Abklärungen, ökologischer Bewertungen und nicht zuletzt den Verhandlungen mit jenen Landbesitzern, die Grund für das Vorhaben abtreten müssten. Viertler ist bereit, Kompromisse auszufechten. Er weiß: „Wir haben die letzten 200 Jahre an unserem Klima und der Natur so viel Schaden angerichtet. Das können wir nicht alles auf einmal wiedergutmachen.“ Aber Viertler möchte Verantwortung übernehmen, sagt er der WZ. „Irgendwo muss man die Sachen ja ausdiskutieren. Wer soll das sonst übernehmen? Der Landtag? Die Entscheidungsgewalt gehört auch da hin, wo die Verantwortung ist.“

Klimawandel sorgt für mehr Starkregen

Doch die Herausforderungen, vor denen Bürgermeister Viertler steht, werden nicht kleiner. Im Gegenteil. Der Klimawandel sorgt für immer häufigere kurzfristige Starkregenereignisse. Je wärmer die Luft, desto mehr Wasser kann sie aufnehmen – das sich dann plötzlich punktuell entlädt. Vor allem eine Belastung für Gemeinden, die an kleineren Gewässern liegen, wie eine Studie der TU Wien, Geosphere Austria, des Landwirtschaftsministeriums und der Uni Graz zeigt. Denn kleinere Gewässer kommen bei lokalen Starkniederschlägen schneller an ihre Grenzen.

Ein Foto der Überschwemmung aus dem Ort.
Der Bach führt durch den Ort
© Fotocredit: Jürgen Fuchs

Wissenschaftler:innen wie Herwig Proske und Margit Kurka von Joanneum Research wollen den Gemeinden unter die Arme greifen. Sie konzentrieren sich auf Gefahren wie Hangrutschungen und Muren, und sie wissen, wie groß das Risiko nach einem Hochwasserereignis ist: „2023 haben wir nach Starkregen in der Südsteiermark Tausende Rutschungen verzeichnet“, sagt Proske. Die Südsteiermark sei besonders gefährdet, weil dort loses Gestein wie Kies, Sand, Schluff und Ton vorherrschend ist, das in Kombination mit Wasser leicht in Bewegung kommt, ergänzt Kurka.

Herwig Proske und Margit Kurka vom Joanneum Research.
Herwig Proske und Margit Kurka vom Joanneum Research
© Fotocredit: Anna Stockhammer

Mit Karten gegen die Gefahr

Die Antwort der Forschung: digitale Gefahrenkarten. Proske deutet auf eine große Karte, die überwiegend orange und rot leuchtet. Sie zeigt die Gemeinde Fehring, wo das Risiko von Rutschungen besonders hoch ist. Mit jeder Stelle, die eingefärbt ist, liefern die Wissenschaftler:innen mit einem Klick Handlungsanweisungen für die Gemeindeverantwortlichen mit. Zum Beispiel: Braucht es hier eine Hangentwässerung oder Stützmauern? „Eine Riesenhilfe“, sagt der Fehringer Bauamtsleiter Franz Thurner. Die Gefahrenkarten seien vor allem auch Argumentationshilfe für uneinsichtige Grundstückseigentümer:innen und Bauherren. Dennoch rechnet er beim nächsten Flächenwidmungsplan mit Widerstand. „Die Extremwetterereignisse nehmen zu. Flächen, die bisher als sicher galten, sind es vielleicht nicht mehr. Das werden nicht alle verstehen.“ Thurners Strategie: auf Gefahrenkarten berufen, geologische Gutachten verlangen. Und trotzdem: Ein absolutes Bauverbot von roten Zonen gibt das Gesetz nicht her. Eine andere Hürde im System sieht Andrea Jeindl, sie ist Raumplanerin in der Südoststeiermark. Das Steuersystem sei so aufgebaut, dass die meisten Einnahmen der Gemeinden in gewisser Weise mit Bodenversiegelung zusammenhängen, die Gemeinden verdienen etwa mit der Grundsteuer auf bebaute Grundstücke mehr Geld als durch landwirtschaftlich genutzten Grund. „Auf Kosten vom Katastrophenschutz.“ Die Gefahrenkarten würden Jeindl bei der Arbeit aber „sehr helfen“, auch dabei, mehr Bewusstsein für die Risiken zu schaffen.

Bisher verfügen nur zehn Gemeinden in der gesamten Steiermark über Gefahrenkarten für Rutschungen. Sie alle wurden mittels EU-Geldern gefördert, das Projekt ist bereits ausgelaufen. „Dabei wäre es wichtig, die Gefahrenkarten großflächig auszurollen“, sagt Proske. Viel Hoffnung habe er jedoch nicht: Die Gemeinden sind im Sparprogramm. Auch Deutschfeistritz hat bisher keine Gefahrenkarte.

Belastete Einsatzkräfte

Während auf struktureller Ebene oft das nötige Werkzeug fehlt, sind es im Ernstfall die Einsatzkräfte, die improvisieren müssen. Manche von ihnen zahlen einen hohen Preis –das belegt eine Studie. Ein Forschungsteam hat Einsatzkräfte nach Hochwasserkatastrophen 2021 und 2013 in Deutschland befragt und eindeutig festgestellt: Nach den Einsätzen empfanden die Helfer:innen eine höhere psychische Belastung. Auch Feuerwehrmann Hans-Jürgen Lindenau kämpft mit sich. „Heute noch merk ich’s. Wenn ich drüber red’, werden meine Finger ganz kalt.“ Natürlich haben er und seine Kameraden viel Zeit aufgebracht, versucht, alles aufzuarbeiten. „Aber wenn heute ein starkes Gewitter aufzieht, ist die Emotion sofort wieder da.“ Manchmal hadert Lindenau mit sich, sogar bei Routineeinsätzen. Früher war das nicht so. „Aber das hat was mit uns gemacht, mit mir auch. Natürlich steigst du nicht aus dem Fahrzeug und lässt dein Hirn drin – aber du bist anders unterwegs als früher.“ Den nächsten Monaten blickt Lindenau mit Magengrummeln entgegen. Auch heuer hat der Starkregen die Steiermark bereits heimgesucht. „Hartberg, Leibnitz, Spielberg – und der Sommer hat noch nicht einmal richtig begonnen. Was passiert, wenn’s wieder 35 oder 40 Grad hat?“, fragt Lindenau.

Ein Mitglied der Feuerwehr.
Feuerwehrmann Hans-Jürgen Lindau im Einsatz
© privat

Sorge um den Nachwuchs

Nahezu 350.000 Menschen sind in Österreich Teil der Freiwilligen Feuerwehr, davon leisten etwa 258.000 aktiv ihren Dienst. Sie sind es, die einen Großteil der Katastrophenhilfe im Land stemmen. Zwar gibt es aktuell keine Nachwuchssorgen, doch stellt sich zunehmend die Frage, wie man die Sprösslinge dazu motivieren kann, nicht nur in jungen Jahren Mitglied zu werden, sondern später auch aktiv Verantwortung zu übernehmen. Hört man sich unter Lindenaus Kolleg:innen um, heißt es: „Einen Jugendlichen mit einem Gutschein für Brot, Würstchen und ein Bier aus dem Computerzimmer zu locken – das spielt es heute nicht mehr.“ Und trotzdem gibt es auch etwas, das bleibt. Oder sogar stärker geworden ist. „Wir sind als Mannschaft enger zusammengerückt“, sagt Lindenau. „Wir gehen nicht nur durchs Feuer, wir gehen auch durchs Wasser gemeinsam.“ Die Anerkennung, das gegenseitige Vertrauen, die gemeinsamen Erfahrungen. Sie sind mehr wert als jede Entschädigung.



Dir hat dieser Beitrag besonders gut gefallen, dir ist ein Fehler aufgefallen oder du hast Hinweise für uns - sag uns deine Meinung unter feedback@wienerzeitung.at. Willst du uns helfen, unser gesamtes Produkt besser zu machen? Dann melde dich hier an.


Infos und Quellen

Gesprächspartner:innen

  • Feuerwehrmann Hans-Jürgen Lindau von der Freiwilligen Feuerwehr Deutschfeistritz
  • Michael Viertler, Bürgermeister von Deutschfeistritz
  • Betroffene Gertraud Hiden
  • Herwig Proske und Margit Kurka, forschen am Joanneum Research in Graz
  • Franz Thurner, leitet den Bereich Baubehörde und Raumordnung der Stadtgemeinde Fehring
  • Andrea Jeindl, arbeitet im Bereich örtliche Raumplanung für die Südoststeiermark

Daten und Fakten

  • Deutschfeistritz hat 4.464 Einwohner. Die Ortsgemeinde liegt etwa 15 km nördlich von Graz im Bezirk Graz-Umgebung, an der Mündung des Übelbachs in die Mur.
  • Am 8. Juni regnete es in Deutschfeistritz deutlich über 100 Liter pro Quadratmeter, schätzen Meteorolog:innen.
  • Als Maßnahme ist geplant: Ein Hochwasserschutz-Projekt mit zwei Rückhaltebecken in der Höhe von 25,5 Millionen Euro; wann die Pläne umgesetzt werden, ist unklar.

Quellen

Das Thema in der WZ

Das Thema in anderen Medien