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Nach Israels Angriff auf den Iran hat die Region nun den Krieg, der seit Jahrzehnten gefürchtet wurde. Mit dem Eintritt der USA ist sein Ende nicht absehbar. Den Preis werden wie immer die Zivilist:innen zahlen. Ein Plädoyer gegen den Krieg.
„Stell dir vor, diese Raketen sind nur Sterne und wir sind nicht im Nahen Osten“. Das sind die ersten Zeilen von Shervin Hajipours Lied „Setareh“ (Sterne). Vor knapp sieben Monaten hat der Musiker es herausgebracht. Heute wird es in den sozialen Medien iranischer Accounts rauf und runter gespielt. Hajipour, der mit „Baraye“ (Für) vor drei Jahren die Hymne der feministischen Protestbewegung „Frau, Leben, Freiheit“ gesungen hat, liefert auch dieser Tage wieder den Soundtrack der iranischen Realität. Und wenn man so will, den Soundtrack aller Menschen im Nahen Osten.
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Nun ist er also da, der Krieg, der seit Jahren gefürchtet wurde. Am Freitag, den 13. Juni, hat Israel den Iran angegriffen mit der Begründung, dass iranische Atomprogramm sei gefährlich weit fortgeschritten. Und in der Nacht auf den 22. Juni haben sich die USA mit dem Angriff auf iranische Atomanlagen angeschlossen. US-Präsident Donald Trump hat bereits in seiner Rede an die Nation angekündigt, dass weitere Ziele im Iran folgen werden, „wenn der Frieden nicht schnell kommt.“ Als ob.
Als ob die Machthaber der Islamischen Republik nach diesen demütigenden Angriffen ihrer beiden Erzfeinde binnen kürzester Zeit die Waffen strecken werden. Als ob nicht die Kriegstreiber in Teheran, Jerusalem und Washington D.C., damit eine Gewaltspirale losgetreten hätten, dessen Ende nicht absehbar ist. Als wäre Krieg ein chirurgischer Eingriff, der präzise ist, der ein absehbares Ende und nicht unendlich viele Komplikationen hat, an denen letztlich der Patient stirbt – um diese Metapher bis zum Ende auszureizen.
„Stell dir vor, du wärst mehr wert als die Fässer Öl im Lager. Stell dir vor, du wärst wichtiger als ein paar wenige. Statistiken und Zahlen in den Nachrichten“, singt Shervin Hajipour in seinem Lied „Setareh“ weiter. Die Menschen im Nahen Osten sind es nicht. Sie sind der verkraftbare Kollateralschaden extremistischer Machthaber, die ihren Messias-Komplex in der Region ohne Wenn und Aber ausleben – egal ob in Teheran, Jerusalem oder Washington D.C.
Tut man den Iraner:innen nicht einen Gefallen?
Sich klar gegen diesen Krieg zu positionieren fällt einigen sichtlich schwer. Immerhin ist die Islamische Republik der Schurkenstaat, der seit 46 Jahren die eigene Bevölkerung tötet, foltert und exiliert und nebenbei eine ganze Region mit seinen Verbündeten destabilisiert hat. Ein nuklearer Schwellenstaat, dessen Führung seit der Revolution 1979 mit der Vernichtung Israels droht. Ein fanatischer Gottesstaat, der ein ganzes Land ins Out provoziert und über Proxys gebombt hat. Rechtfertigt das nicht jeden Angriff? Tut man den Iraner:innen nicht einen Gefallen? Ebnet man ihnen, wie es Israels Premier Benjamin Netanjahu in seiner Ansprache an die Iraner:innen gesagt hat, nicht den Weg an ihr Ziel, endlich die Freiheit zu erlangen?
Nein, tut man nicht. Und jene, die aus dem sicheren Ausland die Iraner:innen dazu auffordern, doch jetzt unter Bombenhagel auf die Straßen zu gehen, um das Regime zu stürzen, sind Zyniker:innen. Das zu sagen, macht einen nicht zur Fürsprecherin des Regimes. Gegen diesen Krieg zu mobilisieren, die internationale Staatengemeinschaft unter Druck zu setzen, zu retten, was noch zu retten ist, ebenso wenig. Es ist möglich, den Sturz der Islamischen Republik zu fordern, und ebenso den israelischen Angriff zu verurteilen, ohne das Existenzrecht Israels damit in Frage zu stellen. Es ist möglich, in einer Nacht besorgte Nachrichten an seine israelischen, palästinensischen und iranischen Freund:innen zu schreiben, aus Angst um ihre Sicherheit. Das ist kein Widerspruch. Auch wenn es viele so sehen möchten.
Erzählungen von Solidarität
Es ist richtig, dass viele selbst im Iran die ersten Angriffe Israels, bei denen hochrangige Revolutionsgarden und Militärs getötet wurden, mit Genugtuung betrachtet haben. Ähnlich wird es ihnen beim Tod des Obersten Revolutionsführers Ali Khamenei gehen. Viele werden das zweifellos feiern. Das bedeutet dennoch nicht, dass eine Mehrheit der iranischen Bevölkerung diesen Krieg will. Niemand befürwortet einen Angriff auf das eigene Land, seine Heimat, seine Mitbürger:innen.
Im Gegensatz zur israelischen Zivilbevölkerung ist die iranische auf sich allein gestellt. Es gibt keine Schutzräume, keine Warnsysteme, keine Evakuierungspläne. Statt auf die Sicherheit seiner Bürger:innen zu achten, verfolgt das Regime jeden, der sich gegen den Krieg ausspricht, brandmarkt sie als „Spione Israels“ und kappt jede Kommunikation. Kein Zugang für die internationale Presse, keine Internetverbindung. Die Iraner:innen sind sich selbst überlassen. Über das Ausmaß berichten sie ihren Angehörigen im Ausland über Sprachnachrichten und kurzen Videos, in den wenigen Momenten dieser Tage, wenn das Internet einmal nicht gedrosselt wird. So erzählen sie von jungen Menschen, die ihren älteren Nachbar:innen in Teheran anbieten, in dieser Zeit ihre Einkäufe zu machen und Medikamente zu besorgen. Sie erzählen von Privatpersonen im Norden des Landes, die ihre Wohnungen Geflohenen aus der Hauptstadt anbieten. Sie berichten von Bäckereien, in denen Menschen um das knapp werdende Brot anstehen und jeder dem anderen den Vortritt überlässt, damit ja jeder zumindest ein Fladenbrot ergattern kann für seine Familie. Es sind Erzählungen der Solidarität einer Gesellschaft, die schon so oft zusammenrücken musste, wenn sie angegriffen wurde. Bislang war der Feind im Inneren, nun hat sich ein neuer dazugesellt. „Was bleibt ihnen anderes übrig“, sagte ein iranischer Bekannter in Wien, „am Ende haben sie ja nur einander.“
Erinnerungen an die US-Invasion im Irak
Das Regime schert sich nicht um die iranische Bevölkerung. Und auch der Rest der Welt hält sich zurück mit überbordender Sorge, wenn etwa ein deutscher Bundeskanzler Israel für „die Drecksarbeit“ dankt, die es mit diesem Angriff auf iranischen Boden geleistet hat. Als hätte man sich im Westen darauf geeinigt, das Narrativ von Licht und Dunkelheit, von Gut und Böse, von Zivilisation gegen Barbarei, das Israels Premier Netanjahu in seinen Ansprachen wie ein Star-Wars-Jünger rezitiert, nicht nur zu übernehmen, sondern auch in seinem Sinne auch umzusetzen. US-Präsident Donald Trump tut das. Er wird als der US-Präsident in die Geschichte eingehen, der den Krieg zu verantworten hat, den US-Präsidenten vor ihm seit Jahrzehnten zu vermeiden versucht haben.
Wie war das damals 2003 mit dem Angriff der USA in das Irak Saddam Husseins mit seinen Massenvernichtungswaffen? Wie viel Licht hat das in die Region gebracht? Das hätte doch auch einer dieser raschen chirurgischen Eingriffe sein sollen, oder? Zehntausende Menschenleben kostete diese Operation.
Die Statistik vor den Toren Europas
Nur dieses Mal wird es keine großen Demonstrationen gegen den Krieg geben, weil man sich in diesem Fall, in diesem Showdown zwischen den vermeintlichen Erzfeinden Israel vs. Iran, nicht auf die einfache Formel „kein Krieg“ einigen kann. Weil in diesem Fall – selbst in der zerstrittenen iranischen Opposition, insbesondere im Exil – einige glauben, dass ein israelischer Krieg mit US-Schützenhilfe die Iraner:innen befreien wird.
Das wird er nicht. Er wird das Land zerstören, die Menschen töten. Und es werden immer mehr werden, solange bis sie zur Statistik werden, an die man sich gewöhnt, wie in der Ukraine oder in Gaza. Die Liveticker werden aufhören. Die Opfer werden erst dann wieder ins Bewusstsein des sicheren Auslands gespült werden, wenn die Angehörigen dieser Statistik eines Tages vor den Toren Europas stehen, wo sie auch wieder zum Spielball politischer Extremist:innen werden.
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Infos und Quellen
Genese
Solmaz Khorsand hat jahrelang aus und über den Iran berichtet und gehört zu jenen Beobachter:innen, die seit Jahren diesen Krieg gefürchtet haben.
Daten und Fakten
- In der Nacht zum 13. Juni 2025 hat Israel den Iran angegriffen, darunter mehrere elementare Ziele des iranischen Atomprogramms. Der Iran reagierte mit einem Vergeltungsangriff. Seitdem gibt es wechselseitige Angriffe mit Raketen und Kampfjets zwischen Israel und dem Iran. Begründet wird der israelische Angriff mit Irans Atomprogramm, dessen Urananreicherungsprogramm dermaßen fortgeschritten sein soll, dass der Bau von Atombomben unmittelbar bevorsteht. Expert:innen sprechen von einem Zeitfenster von bis zu 1 ½ Jahren. Premierminister Benjamin Netanjahu erklärte, dass die Angriffe auf den Iran nicht den Regimewechsel in Teheran zum Hauptziel hätten, aber als mögliche Folge auftreten könnte.
- Die USA haben in der Nacht auf Sonntag drei Atomanlagen im Iran angegriffen. Neben der tief im Berg liegenden Anlage Fordow wurden auch Bomben auf die Stätten Isfahan und Natanz abgeworfen. Der Iran müsse sich jetzt für den Weg des Friedens entscheiden, sonst gebe es größere Attacken, drohte Trump. "Wenn der Frieden nicht schnell kommt, werden wir die anderen Ziele mit Präzision, Schnelligkeit und Geschick angreifen, die meisten von ihnen können in wenigen Minuten ausgeschaltet werden", warnte Trump die Führung in Teheran. Sowohl US-Verteidigungsminister Pete Hegseth als auch Außenminister betonten, dass mit dem US-Angriff nicht der Regimesturz in Teheran intendiert war.
- Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) verabschiedete am 12. Juni, ein Tag vor dem israelischen Angriff, eine Resolution, die feststellte, dass Teheran gegen seine Verpflichtung verstoßen habe sein gesamtes Atomprogramm vorzulegen. Das Regime behauptete immer Uran rein für die zivile Nutzung anzureichern. Auf die Resolution wollte man mit Gegenmaßnahmen reagieren, wie eine neue Anlage an einem „sicheren Ort“ zu eröffnen.
- Die wichtigste nukleare Anlage Irans, die Fordow-Anlage, liegt tief in einem Berg nahe der Stadt Qom. Um diese zu zerstören, bräuchte Israel die Unterstützung der USA. Einen US-Angriffsplan auf den Iran gebe es laut Wall Street Journal bereits. Am 19. Juni ließ das Weiße Haus wissen, dass sich Trump in den nächsten zwei Wochen entscheiden werde, ob die USA an der Seite Israels in den Krieg ziehen – oder nicht. Innerhalb seines eigenen republikanischen Lagers gibt es zahlreiche Stimmen, die sich gegen US-Eintritt in den Krieg aussprechen.
- Am 20. März 2003 marschierten die USA und ihre „Koalition der Willigen“ ohne Resolution des UN-Weltsicherheitsrats in den Irak ein, um Saddam Hussein und sein Regime unter dem Vorwand des Besitzes von „Massenvernichtungswaffen“ zu stürzen. Die Massenvernichtungswaffen gab es nie. Nach drei Wochen war Diktator Saddam Hussein gestürzt, aber die Kämpfe gingen weiter. 2011 sollten die US-Soldaten abziehen. Die Gesamtzahl der Todesopfer des Irakkriegs liegt je nach Schätzung zwischen 200.000 und einer Million Menschen.
Quellen
- Youtube: Lied von Shervin Hajipour
- Youtube: Aussage von Friedrich Merz zu „Drecksarbeit“
- Youtube: Benjamin Netanjahu Ansprache an die Iraner
- The Wall Street Journal: Trump Privately Approved of Attack Plans for Iran but Has Withheld Final Order
- The New York Times: Liveticker
- PULS24: IAEA beschloss Atom-Resolution gegen den Iran
- Zeit: "Ein spektakulärer Erfolg" – Die Rede von Präsident Trump im Wortlaut