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Ein Orchester als Nahost-Friedensprojekt

6 Min
Musik als Friedensbotschafterin - kann das funktionieren? Im Nahostkonflikt trifft das West Eastern Divan Orchestra auf begeisterte Zustimmung wie auf heftigen Widerstand.
© Collage: WZ, Bildquelle: Adobe Stock

Das West-Eastern Divan Orchestra setzt sich aus palästinensischen und israelischen Musiker:innen zusammen. Doch was einst als Friedensinitiative gedacht war, steht nun auf dem Prüfstand.


Ist das naiv? Geht es vorbei an der Realität mit entführten und getöteten Israelis auf der einen und durch den Bombenhagel auf Gaza verstümmelten und getöteten Palästinenser:innen auf der anderen Seite? Leeres Völkerverbindungspathos inmitten von Terror und Krieg?

„Unsere Botschaft muss stärker sein als je zuvor“, ist Daniel Barenboims Statement auf der Internet-Seite des West-Eastern Divan Orchestras überschrieben. Die Botschaft meint Frieden. Denn das West-Eastern Divan Orchestra ist als Friedensbotschaft in eine Welt der Konflikte gesetzt.

Der argentinisch-israelische Pianist und Dirigent Daniel Barenboim gründete es im Jahr 1999 zusammen mit dem palästinensischen Literaturwissenschaftler Edward Said und dem deutschen Kulturmanager Bernd Kauffmann. Die eine Hälfte des Orchesters setzt sich aus jungen Musiker:innen aus Israel zusammen, die andere aus palästinensischen Musiker:innen aus den Autonomiegebieten, dem Libanon, Ägypten, Syrien und Jordanien. Der Name des Orchesters ist von der Gedichtsammlung „West-östlicher Divan“ abgeleitet, für die sich Johann Wolfgang von Goethe von der Lyrik des persischen Dichters Hafis inspirieren ließ: Ost und West friedlich vereint durch die Kunst.

Miteinander musizieren statt aufeinander schießen

Das steht als Intention auch hinter der Orchestergründung: Wer miteinander musiziert hat, schießt nicht aufeinander – so ungefähr die Überlegung. Zum Zehn-Jahre-Jubiläum nach der Gründung gaben die Musiker:innen folgendes Statement heraus: „Wir streben nach völliger Freiheit und Gleichheit zwischen Israelis und Palästinensern, und auf dieser Grundlage kommen wir zusammen, um Musik zu machen.“

Der Name des als Pianist wie Dirigent international renommierten Stars Daniel Barenboim verschaffte dem Orchester von Beginn an weltweite Auftritte. So auch bei den Salzburger Festspielen. Im Programmheft des Konzerts am 22. August 2014 war als Bekenntnis zu lesen: „Der einzige politische Aspekt der Arbeit des West-Eastern Divan Orchestras ist die Überzeugung, dass es keine militärische Lösung des Nahost-Konflikts geben kann und dass die Schicksale von Israelis und Palästinensern untrennbar miteinander verbunden sind. Musik allein kann selbstverständlich nicht den arabisch-israelischen Konflikt lösen. Jedoch gibt sie dem Einzelnen das Recht und die Verpflichtung, sich vollständig auszudrücken und dabei dem Nachbarn Gehör zu schenken.“

„Der einzige politische Aspekt“ ist freilich eine Untertreibung. Denn zwischen Israelis und Palästinensern ist alles hochpolitisch, was den Umgang miteinander betrifft.

Irritation auf israelischer Seite

Da sorgt vor allem auf israelischer Seite das Faktum für Irritation, dass der israelische Staatsbürger Barenboim im Jahr 2008 zusätzlich – angeblich als einziger Mensch weltweit – die palästinensische Staatsbürgerschaft angenommen hat. Barenboim im Tagesspiegel: „Ich habe schon oft erklärt, dass die Schicksale des israelischen und des palästinensischen Volkes unauflöslich miteinander verknüpft sind und dass es für den Nahost-Konflikt keine militärische Lösung gibt. Die palästinensische Staatsbürgerschaft, die ich kürzlich angenommen habe, gibt mir Gelegenheit, diesen Gedanken noch konkreter zu fassen.“ Und im selben Artikel: „Die Israelis müssen die Integration der palästinensischen Minderheit akzeptieren, und zwar auch dann, wenn die zur Folge hat, dass sich bestimmte Aspekte des Staates ändern. Und sie müssen sowohl die Berechtigung wie die Notwendigkeit eines palästinensischen Nachbarstaates anerkennen.“

Der größte Teil der Musikwelt schwärmte von einem Brückenschlag, den das Orchester über vermeintlich unüberwindliche Gräben wagt, und zeigte sich nebenbei von der Qualität des Orchesters überzeugt.

Danny würde töten für den Nobelpreis

In Israel freilich stieß das Friedensprojekt auf geteilte Begeisterung. Die politisch links stehende Friedensbewegung begrüßte es, doch das war nicht der Mainstream, wenngleich der nicht immer so deutlich Stellung bezog wie die „Jerusalem Post“: „Daniel Barenboim würde für einen Friedensnobelpreis töten“, titelte das Blatt am 22. Juni 2015. Der Artikel nennt Barenboim „Danny“ und schreibt: „Seit Danny berühmt geworden ist, fühlt er sich berechtigt, über Bereiche zu reden, die außerhalb seines unmittelbaren Fachwissens liegen. Und weil er ein Star ist, sind unsere umfassend gebildeten Massen bereit, ihm zuzuhören.“

Daniel Barenboim tritt am 25. August 2013 mit dem West-Eastern Divan Orchestra auf der Waldbühne in Berlin auf.
© Matthias Balk / EPA / picturedesk.com

Ein zentraler Vorwurf lautet, Barenboim habe blindlings Saids Positionen übernommen. Said hatte in „The Question of Palestine“ die These aufgestellt, der Nahost-Konflikt basiere auf zwei entgegengesetzten Interpretationen von Fakten, verkürzt: Das Faktum sei die Staatsgründung Israels. Seitens Israel und seiner Verbündeten und Fürsprecher:innen würde getan, als wäre das Gebiet des heutigen Israel leer gewesen und zur Kolonisierung zur Verfügung gestanden; hingegen werde die Interpretation der Palästinenser, es habe durch die jüdischen Siedler eine ungesetzliche Landnahme und Vertreibung der ursprünglichen Bevölkerung stattgefunden, von Israel und seinen Verbündeten ausgeblendet.

Unbehagen auf beiden Seiten

Auf diese These stützt sich etwa die BDS-Bewegung (BDS steht als Abkürzung für Boycott, Divestment and Sanctions ─ Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen). Obwohl einige der führenden Köpfe der Bewegung darüber hinaus das Existenzrecht Israels bestreiten und klar antisemitische Positionen vertreten, soll Barenboim, so der Artikel, tatsächlich Sympathien für BDS erkennen lassen haben. Der Israel-freundliche Blog Mena-Watch zitiert Barenboim am 14. August 2018 mit den Worten: „Ich glaube nicht, dass das jüdische Volk über 20 Jahrhunderte gelebt hat, meistens unter Verfolgung und ständiger Grausamkeit, um selbst zum Unterdrücker zu werden und anderen Grausamkeiten zuzufügen.“

Doch nicht allein die israelische Seite verspürt Unbehagen mit dem Friedensorchester. The Jewish Chronicle, die in London beheimatete älteste jüdische Tageszeitung, berichtete am 26. Juli 2012, Barenboim und sein Orchester seien von einem Konzert am Ölberg im arabischen Ostteil von Jerusalem ausgeladen worden. Pro-palästinensische Organisationen opponierten gegen die Veranstaltung, denn sie würde „eine falsche Symmetrie oder Balance propagieren“. Die zur BDS-Bewegung gehörende Pacbi (The Palestinian Campaign for the Academic and Cultural Boycott of Israel) argumentierte: „Der Effekt dieser Projekte ist, dass sie die Unterdrückung legitimieren und einen Beitrag leisten, um sie zu verlängern und zu normalisieren. Zusätzlich haben sie oft der offiziellen Propaganda Israels in die Hände gespielt.“

Gerechte Lösung ohne Besatzung

Wie sieht nun die Gegenwart aus? In seinem Statement „Unsere Botschaft muss stärker sein als je zuvor“ schreibt Barenboim: „Die aktuellen Ereignisse in Israel und Gaza haben uns alle zutiefst erschüttert. Es gibt keine Rechtfertigung für die barbarischen Terroranschläge der Hamas gegen Zivilisten, unter denen Kinder und Babys sind. Wir müssen das zugeben und innehalten. Danach jedoch ist der nächste Schritt natürlich die Frage: Was nun? Ergeben wir uns nun dieser schrecklichen Gewalt und lassen unser Streben nach Frieden ,sterben‘ – oder beharren wir weiterhin darauf, dass es Frieden geben muss und kann? Ich bin davon überzeugt, dass wir weitermachen und den größeren Kontext des Konflikts im Auge behalten müssen. Unsere Musiker des West-östlichen Divan, unsere Studenten der Barenboim-Said-Akademie: Sie sind fast alle direkt betroffen. Viele der Musiker leben in der Region, auch die anderen sind eng mit ihrer Heimat verbunden. Das bestärkt mich in der Überzeugung, dass es für diesen Konflikt nur eine Lösung geben kann: eine auf der Grundlage von Humanismus, Gerechtigkeit und Gleichheit – und ohne bewaffnete Gewalt und Besatzung.“

Die Kammermusikgruppe des Orchesters wird am 9. November im Pierre Boulez Saal der Berliner Philharmonie auftreten und am 11. November im Londoner South Bank Center. Man wird die Friedensbotschaft hören. Ob man sie auch verstehen wird, steht auf einem anderen Blatt.


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Infos und Quellen

Genese

In der Diskussion über den Nahostkonflikt ergab sich die Frage, ob es von Seiten von Kunst und/oder Wissenschaft gezielte Friedensinitiativen gegeben hat – oder gibt. Das führt gleichsam automatisch dazu, den Musiker Daniel Barenboim mit seinem Friedensprojekt, dem West-Eastern Divan Orchestra, vorzustellen.

Daten und Fakten

  • Das West-Eastern Divan Orchestra wurde 1999 vom Dirigenten und Pianisten Daniel Barenboim, dem Literaturwissenschaftler Edward Said und dem Kulturmanager Bernd Kauffmann gegründet. Es ist als Nahost-Friedensprojekt angelegt und besteht zu gleichen Teilen aus israelischen und arabischen Musikern und gastiert, teilweise mit seinen Kammermusikformationen, weltweit. Sein Name ist von Johann Wolfgang von Goethes Gedichtsammlung „West-östlicher Divan“ abgeleitet, die sich ihrerseits von arabischer Dichtung, speziell den Gedichten des Hafis, inspiriert zeigt.

  • Den Ehrennamen Hafis, das bedeutet: der den Koran auswendig kann, bekam Mohammed Schemseddin (1315 oder 1325-1390) bereits als Kind. Das bekannteste Werk des persischen Dichters und Mystikers ist die Gedichtsammlung „Diwan“. Hafis gehörte dem Orden der Sufi an. Seine Gedichte handeln von Themen wie Liebe, Liebessehnsucht und -schmerz, fordern aber ebenso auf, das Leben zu genießen. Sie gelten als ein Höhepunkt arabischer Dichtkunst und wurden im deutschsprachigen Raum u.a. von den Dichtern Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Rückert als Modelle für ihre eigene Dichtung verwendet.

  • Der Dirigent und Pianist Daniel Barenboim wurde 1942 in Buenos Aires (Argentinien) geboren. 1952 übersiedelte die Familie nach Europa und danach nach Israel. Barenboim debütierte als Pianist im Alter von 13 Jahren in London und galt nach weiteren erfolgreichen Auftritten als pianistisches Wunderkind. Auch als Dirigent ausgebildet, verstärkte er ab 1968 diese Facette seiner musikalischen Arbeit. 1975 übernahm er das Orchestre de Paris als Chefdirigent, von 1991 bis 2006 war er Chefdirigent des Chicago Symphony Orchestra, 1992 wurde er auf Lebenszeit zum Künstlerischen Leiter und Generalmusikdirektor der Staatsoper Unter den Linden in Berlin; er legte das Amt im heurigen Jahr aus Gesundheitsgründen zurück. Von 1981 bis 1999 war er regelmäßig Dirigent der Bayreuther Richard-Wagner-Festspiele. In Israel sorgte Barenboim für Aufsehen mit seinen Plädoyers für eine israelisch-palästinensische Aussöhnung und einen eigenen palästinensischen Staat und für Empörung, als er „Vorspiel und Liebestod“ aus Richard Wagners Oper „Tristan und Isolde“ aufführte. Der Antisemit Wagner gilt als einer der Wegbereiter des Nationalsozialismus und wird in Israel, ohne dass es eine Gesetzeslage dazu gäbe, nicht gespielt. Mitglieder der Knesset, des israelischen Parlaments, forderten daraufhin, Israel solle Barenboim zur künstlerischen Persona non grata erklären, was weitere Auftritte Barenboims in Israel unmöglich gemacht hätte. Der Antrag erhielt in der Abstimmung keine Mehrheit.

  • Edward William Said war ein US-amerikanischer Literaturtheoretiker palästinensischer Herkunft. Er wurde 1935 in Jerusalem, damals Völkerbundsmandatsgebiet Palästina, geboren und starb 2003 in New York City. Saids Mutter war die Tochter eines baptistischen Geistlichen, seine zweite Frau eine arabische Christin. Saids Buch „Orientalismus“ gilt als Grundlage für die Etablierung der Postkolonialen Studien als Forschungsrichtung. Im Buch „The Question of Palestine“ unternimmt Said den Versuch, den „Zionismus aus der Sicht seiner Opfer“ darzustellen. Kritiker werfen diesem Buch vor, es wolle den Staat Israel delegitimieren und betreibe eine Täter-Opfer-Umkehr.

  • Die BDS-Bewegung will den Staat Israel wirtschaftlich, kulturell und politisch isolieren, um die Forderungen durchzusetzen, Israel müsse die „Okkupation und Kolonisierung allen arabischen Landes“ beenden, das „Grundrecht seiner arabisch-palästinensischen Bürger auf volle Gleichheit“ anerkennen und „das Recht der palästinensischen Flüchtlinge auf eine Rückkehr in ihre Heimat und zu ihrem Eigentum gemäß UN-Resolution 194 schützen und fördern.“ BDS steht als Abkürzung für Boycott, Divestment and Sanctions ─ Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen. Die Antisemitismusforschung ordnet die Ziele der Kampagne gemeinhin als antizionistisch (gegen einen jüdischen Staat gerichtet) ein, mitunter als antisemitisch. Die Parlamente von Österreich, Deutschland und Tschechien haben die BDS-Kampagne als antisemitisch eingestuft.

Quellen

Das Thema in der WZ

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