Zum Hauptinhalt springen

Endspiel mit Netanjahu

11 Min
Benjamin Netanjahu hat sich in der Vergangenheit als Meister der Taktik erwiesen. Die Frage ist, ob ihn diese Begabung ein weiteres Mal an der Macht halten kann.
© Illustration WZ, Bildquelle: APA Picturedesk

Benjamin Netanjahu macht sich mehr Feinde als Freunde. Der israelische Ministerpräsident weiß, dass sein politisches Überleben davon abhängt, wie stark er sich als Sicherheitsgarant seines Landes positionieren kann.


Im Internet kursiert ein Foto, das den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu am Schachbrett mit dem israelischen Ex-Vizeweltmeister Boris Gelfand zeigt. Wie Gelfand, so ist Netanjahu ein Meister in der Kunst des Endspiels – vielleicht sogar am Brett, ganz bestimmt aber in der politischen Realität.

Netanjahu weiß, dass sich der Gaza-Konflikt dieser entscheidenden Phase nähert, vielleicht sogar schon in sie eingetreten ist: So ist durchgesickert, dass Eckpunkte eines von Netanjahu bisher abgelehnten erneuten Waffenstillstands vereinbart seien; außerdem hat Israel einen Teil seines Militärs aus dem Süden des Gazastreifens abgezogen.

Das bedeute nicht viel, sagt indessen Arye Shalicar, Sprecher der israelischen Armee: Es sei eine neue Phase des Kampfes. Die israelische Armee werde solang ihren Einsatz weiterführen, solang Geiseln in der Gewalt der Hamas seien.

US-Vorschlag für einen Waffenstillstand

Wenn es nicht doch zu einer Verhandlungslösung kommt. Denn so, wie die USA Druck auf Israel ausüben, dürften Ägypten und Katar auf die Hamas eingewirkt haben, dass diese nun doch zu einem Geiseldeal bereit sein könnte. Das Nachrichtenportal Axios berichtet von einem US-Vorschlag, demzufolge Israel einem sechswöchigen Waffenstillstand zustimmt, 900 palästinensische Häftlinge, darunter auch zu lebenslanger Haft verurteilte, freilässt und vertriebene Palästinenser:innen nach Nordgaza zurückkehren lässt. Im Gegenzug gibt die Hamas 40 Geiseln im Alter über 50 Jahre frei. Sollten nicht so viele Geiseln dem Kriterium entsprechen, solle die Zahl mit Menschen unter 50 Jahren erfüllt werden.

Verteidigungsminister Yoav Gallant erachtet den Zeitpunkt einer Verhandlungslösung für günstig. Netanjahu jedoch will an der Offensive gegen Rafah festhalten. Israel hatte wiederholt die Palästinenser:innen aufgefordert, sich vor den Militärschlägen durch eine Flucht in den Süden des Gazastreifens in Sicherheit zu bringen. Das Ergebnis ist, dass Rafah mittlerweile völlig übervölkert ist: Die Stadt hat normalerweise rund 153.000 Einwohner:innen. Derzeit beherbergt sie rund 1,5 Millionen Menschen.

Die letzte Offensive im Gazastreifen

Wohl wissend um die humanitäre Katastrophe, die ein militärisches Vorgehen gegen Rafah auslösen würde, hat US-Präsident Joe Biden diesen Einsatz zur roten Linie erklärt, die Netanjahu nicht überschreiten dürfe. Laut Netanjahu steht fest, wann der Einsatz gegen Rafah beginnt – nur seinem Verteidigungsminister dürfte er nichts davon gesagt haben, denn laut Gallant gibt es diesen Termin nicht. Ein Vorbote für die Offensive dürfte freilich sein, dass, Beobachter:innen zufolge, Ägypten auf der Sinai-Halbinsel ein großes Lager errichtet, das offenbar Zivilist:innen aus Rafah aufnehmen soll.

Immerhin scheint Israel jetzt also doch bereit, die Zivilbevölkerung mehr als bisher zu schützen. Der Wendepunkt des blutigen Spiels dürfte Anfang April der Tod von sieben Mitarbeiter:innen der US-Hilfsorganisation World Central Kitchen durch einen israelischen Luftangriff infolge einer falschen Identifizierung gewesen sein. Der israelischen Armee (IDF) blieb nur, den „schweren Fehler“ einzugestehen. Netanjahu, der sonst mit militanter Rhetorik den Krieg im Gazastreifen teils anheizt, teils rechtfertigt, musste ziemlich kleinlaut von einem „tragischen Zwischenfall“ sprechen. „So etwas geschieht in einem Krieg“, war der Kommentar des israelischen Ministerpräsidenten: Eine bemerkenswerte Aussage immerhin, denn bis zu diesem Zeitpunkt hatte er versichert, dass dergleichen der israelischen Armee eben nicht passiert und dass einzig und allein die Terrororganisation Hamas für den Tod von Zivilist:innen verantwortlich sei, indem sie Unbeteiligte als menschliche Schutzschilde missbraucht.

Jedenfalls haben Netanjahu und die IDF mit diesem Zwischenfall auch die treuesten Verbündeten verprellt. Zwar war es zweifellos die Hamas, die mit ihrem Terrorüberfall auf Israel am 7. Oktober 2023 den Krieg im Gazastreifen ausgelöst hat; doch zu deutlich symbolisiert der Tod der sieben Helfer, mit welcher sinnlosen Brutalität Netanjahu diesen Krieg führen lässt.

50.000 Israelis gegen Netanjahu

Während Netanjahu im Interview mit dem deutschen Kriegsreporter Paul Ronzheimer die Mehrheit der israelischen Bevölkerung noch hinter sich wähnt, nehmen immer mehr Israelis an Demonstrationen gegen die Regierung Netanjahu teil: Anfang April forderten rund 50.000 Menschen in Jerusalem, die vermutlich noch 100 am Leben befindlichen jüdischen Geiseln der Hamas endlich nach Hause zu bringen, und zwar mit allen Mitteln – einschließlich der Netanjahu so verhassten Verhandlungslösung.

Netanjahus innenpolitische Lage hat sich dabei in den letzten Wochen zusätzlich durch einen Vorgang verschärft, für den der Gazakrieg ein vernehmliches Hintergrundrauschen bildet. Jeschiwa-Studenten (ultraorthodoxe Studenten des Talmud) waren bisher vom Militärdienst ausgenommen. Zuletzt waren das rund 66.000 Männer. Gleichzeitig hat die israelische Armee mit einer Personalknappheit zu kämpfen. Doch nicht nur das: Während in den etwas mehr als sechs Monaten Krieg in Gaza rund 600 israelische Soldat:innen ihr Leben verloren haben, betrachten die Ultraorthodoxen das Geschehen aus relativ sicherer Entfernung. In großen Teilen der israelischen Bevölkerung kommt das nicht gut an.

Militärdienst für Ultraorthodoxe

Nachdem das israelische Oberste Gericht die Ausnahmeregelung für die Ultraorthodoxen schon längst für verfassungswidrig erklärt hat und sie nur durch Resolutionen der Regierung weiter Bestand hatte, soll nun eine gesetzliche Regelung gefunden werden, die Schritt für Schritt mehr und schließlich alle ultraorthodoxen Männer zum Militärdienst verpflichtet.

Netanjahus Koalition stützt sich allerdings auf Parteien von Ultraorthodoxen, die das vehement ablehnen. 2018 ist Netanjahus Regierungskoalition an der Frage des Militärdienstes für Ultraorthodoxe zerbrochen.

Benny Gantz betreibt Neuwahlen

Pikant an der Sache ist, wer jetzt als treibende Kraft hinter dem Gesetzesentwurf steht: Benny Gantz, seines Zeichens der schärfste Konkurrent Netanjahus. Der ehemalige Verteidigungsminister, der sich einmal mit Netanjahu das Amt des Ministerpräsidenten alternierend geteilt hat und derzeit Minister ohne Geschäftsbereich in Netanjahus Kriegskabinett ist, würde Neuwahlen, glaubt man den Umfragen, gewinnen – vor allem dann, wenn sie eher früher als später kommen. Die nächsten regulären Wahlen zur Knesset stehen 2026 an. Für Gantz kann das Kabinett Netanjahu also gar nicht schnell genug in die Brüche gehen.

Aus heutiger Sicht ist Netanjahus einzige Chance, trotz aller Widrigkeiten an der Macht zu bleiben, sich als alleiniger Sicherheitsgarant für Israel zu positionieren. Das schließt Absagen an die Pläne und Vorschläge Bidens ein, der mittlerweile öffentlich erklärt, Netanjahu mache im Gazastreifen einen Fehler; unter dem Aspekt der Sicherheit ist ebenfalls Netanjahus Absage an eine Zwei-Staaten-Lösung (im Ronzheimer-Interview) mit einem souveränen Staat der Palästinenser:innen zu verstehen, denn es dürfe keine Belohnung für das schlimmste Massaker an Jüdinnen und Juden seit der Schoa geben. So erklärt sich Netanjahus Festhalten an der militärischen Offensive, die der Hamas eben nicht die Augenhöhe mit Israel gewährt.

Benjamin Netanjahus Simultanpartie

Doch im Handumdrehen scheint Netanjahu die Sicherheit wieder weniger zu bedeuten als nahöstliche Geopolitik, wenn er mit seinen Präventivschlägen gegen die Hisbollah und gegen den Iran weitere gut gerüstete Gegner ans Schachbrett nötigt.

Gewiss hat sich Netanjahu in der Vergangenheit als ein Meister des Endspiels erwiesen, der selbst aus scheinbar verlorener Stellung noch den Sieg erzwang. Doch vielleicht sollte ihn Boris Gelfand an das offene Geheimnis des Spiels erinnern: In Simultanpartien gehen selbst Großmeistern einige Partien verloren.


Dir hat dieser Beitrag besonders gut gefallen oder du hast Hinweise für uns - sag uns deine Meinung unter feedback@wienerzeitung.at. Willst du uns helfen, unser gesamtes Produkt besser zu machen? Dann melde dich hier an.


Infos und Quellen

Daten und Fakten

  • World Central Kitchen (WCK) ist eine internationale regierungsunabhängige Hilfsorganisation, die in Krisengebieten in Zusammenarbeit mit lokalen Hilfsorganisationen die Bevölkerung mit Lebensmitteln und Mahlzeiten versorgt. WCK wurde 2010 durch den amerikanisch-spanischen Koch José Andrés und seine Frau Patricia Andrés nach dem verheerenden Erdbeben auf Haiti gegründet. Nach dem ersten Einsatz in Haiti war WCK bei mehreren Naturkatastrophen, bei der Versorgung von Geflüchteten und in Konflikten im Einsatz, etwa nach der russischen Invasion in der Ukraine. Nach dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 wurde WCK in Israel und anschließend im Krieg im Gazastreifen aktiv. Durch den israelischen Angriff am 2. April starben sieben WCK-Mitarbeiter:innen.

  • Arye Sharuz Shalicar, 1977 in Göttingen geboren, ist seit 2009 der offizielle Sprecher der israelischen Armee im Rang eines Majors. Zuvor war Shalicar Graffiti-Künstler und Hip-Hop-Musiker. Er studierte Sozialwissenschaften, Politikwissenschaft, Judaistik und Islamwissenschaft in Deutschland. 2001 wanderte er nach Israel aus und promovierte an der Hebräischen Universität Jerusalem in Politikwissenschaft. Sein autobiografischer Roman „Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude. Die Geschichte eines Deutsch-Iraners, der Israeli wurde“ wurde unter dem Titel „Ein nasser Hund“ (2021) verfilmt.

  • Yoav (geschrieben auch Jo’aw) Gallant, 1958 in Jaffa geboren, ist ein israelischer Politiker der nationalkonservativen Partei Likud, deren Vorsitzender der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu ist. Gallant ist ehemaliger Generalmajor der israelischen Armee. Von 2020 bis 2021 war er Bildungsminister. Seit Dezember 2022 ist er Verteidigungsminister.

  • Benjamin Gantz, 1959 in Kfar Haim geboren, international bekannt als Benny Gantz, ist ein israelischer Politiker der liberal-konservativen Partei Chosen LeJisra’el (Widerstandskraft für Israel). Gantz war von 2005 bis 2007 Oberbefehlshaber des israelischen Heeres und von 2011 bis 2015 Generalstabschef der israelischen Verteidigungsstreitkräfte. 2020 bis 2022 war er israelischer Verteidigungsminister. Als solcher gehörte er zuerst dem Kabinett Netanjahu-Gantz an und ab Juni 2021 dem Kabinett Bennett-Lapid. Im Kabinett Netanjahu-Gantz war er alternierender Ministerpräsident, im Kabinett Bennett-Lapid war er stellvertretender Ministerpräsident. Seit Oktober 2023 ist Gantz Minister ohne Geschäftsbereich im dreiköpfigen Kriegskabinett, das Netanjahu als Folge des Hamas-Überfalls gebildet hat. 2018 gründete Gantz die Partei Chosen LeJisra’el.

  • Paul Ronzheimer, 1985 geboren, ist ein deutscher Journalist und Kriegsreporter. Ronzheimer berichtete u.a. aus der Ukraine, aus Libyen (über den Sturz Muammar Gaddafis), aus der Türkei, aus Afghanistan, aus dem Irak und aus Syrien (über die Schlacht um Kobanê). Aufsehen erregte er 2019, als er, selbst offen homosexuell lebend, im Zug der Auslandsreise des damaligen deutschen Außenministers Heiko Maas auf einer Pressekonferenz den iranischen Außenminister Mohammed Dschawad Sarif zur Todesstrafe gegen homosexuelle Menschen im Iran befragte.

  • Israel hat eine Wehrpflicht für Frauen wie für Männer. Frauen müssen 24 Monate Militärdienst leisten, Männer 30 Monate. Zu den wenigen Sonderregelungen gehört, dass es Frauen gestattet ist, aus Gewissensgründen einen Wehrersatzdienst zu leisten, sowie, dass nicht-jüdische, schwangere oder verheiratete Frauen von der Wehrpflicht ebenso befreit sind wie arabische Israelis (diese können einen freiwilligen Wehrdienst leisten). Wollen Männer vom Wehrdienst im Sinn einer Totalverweigerung befreit werden, müssen sie sich einer Gewissensprüfung und mit relativer Sicherheit einem Gerichtsverfahren stellen, das eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren zur Folge haben kann. Es besteht allerdings die Möglichkeit, einen Wehrersatzdienst außerhalb der Kampfverbände zu leisten. Von der Wehrpflicht grundsätzlich befreit waren Jeschiwa-Studenten (das sind Studenten, die auf eigenen Akademien den Talmud studieren). Diese Regelung lief aufgrund eines Urteils des Obersten Gerichts bereits im Jahr 2012 aus. Daraufhin folgte eine Resolution der Regierung an die Armee, keine Jeschiwa-Studenten einzuberufen. Zuletzt waren 66.000 Jeschiwa-Studenten vom Militärdienst befreit – bei gleichzeitiger Personalknappheit in der israelischen Armee.

Quellen

Das Thema in der WZ

Das Thema in anderen Medien