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Erste Hilfe für die Seele: Richtig helfen in der Krise

5 Min
Kaum jemand weiß, dass es Erste-Hilfe-Kurse für die Seele gibt.
© Fotocredit: Moment via Getty Images

Wenn ein Mitmensch in Ohnmacht fällt, wissen wir, was zu tun ist: Beine hochlagern, um den Kreislauf zu unterstützen. Aber wie helfen wir bei psychischer Not? „Erste Hilfe für die Seele“ zeigt, wie wir anderen in Krisen zur Seite stehen können.


Der Kursraum der pro mente Akademie in Wien ist mit Glas überdacht, das Tageslicht des Nachmittags fällt auf die Teilnehmenden, die in U-Form sitzen. Am anderen Ende des Raums steht der große Bildschirm, auf dem die erste Folie der Präsentation des Seminars „Erste Hilfe für die Seele“ zu sehen ist.

Alexis Thibaut, Psychologe und Trainer des Seminars, erklärt zu Beginn: „Menschen, die Erste Hilfe für die Seele leisten, unterstützen Personen in akuten Krisen. Der Fokus des Kurses liegt dabei auf Familie, Freund:innen und dem erweiterten Umfeld, da diese oft die ersten sind, die mit der betroffenen Person in Kontakt treten und ihr in einer schwierigen Situation beistehen können.“

Als Ersthelfer:in sei es wichtig, empathisch zu sein, eine Beziehung zum Gegenüber aufzubauen und Hoffnung zu vermitteln, dass die Situation besser wird. Dabei helfen die fünf Schritte des ROGER-Prinzips: „Als Erstes reagiere ich, indem ich die Person direkt anspreche, einschätze, wie es ihr geht, und ihr beistehe. Ich höre offen und unvoreingenommen zu. Ich gebe Informationen, wie etwa Kontaktdaten für Anlaufstellen. Ich ermutige meine:n Gesprächspartner:in, sich professionelle Hilfe zu holen. Und das letzte R sind die Ressourcen, die ich reaktiviere. Eine wichtige Ressource bin natürlich ich als Freund:in oder Bekannte:r.“

Erste Hilfe für die Seele sei notwendig, wenn Menschen ihre gewohnten Bewältigungsstrategien nicht mehr nutzen können. In einer psychischen Krise befänden sie sich in einer Ausnahmesituation, in der sie aktive Unterstützung brauchen, erklärt Thibaut.

Die Anzeichen einer Krise

Doch wie erkennt man, dass sich eine mir nahestehende Person in einer schwierigen Lebensphase befindet, die mit emotionalen, psychischen oder sozialen Herausforderungen verbunden ist? Gerald Tomandl ist Psychotherapeut im Kriseninterventionszentrum in Wien. Er erklärt: „Eine mir nahestehende Person könnte in einer psychosozialen Krise sein, wenn sie keine Zuversicht oder Lebensfreude mehr ausstrahlt. Oft zieht sich die Person zurück, teilt sich nicht mehr mit oder wirkt verändert. Ihre Körperhaltung kann zusammengesunken sein und sie wirkt unsicher oder überfordert und äußert Gedanken nicht mehr Leben zu wollen.“

Auch Scham spielt bei psychischen Belastungen nach wie vor eine Rolle: Viele Menschen trauen sich nicht, über traumatische Erlebnisse oder Suizidgedanken zu sprechen. Dabei könne es sehr entlastend sein, sich jemandem anzuvertrauen, sagt Tomandl.

Während grundsätzlich jede Person im Lauf ihres Lebens einmal oder mehrfach in eine psychosoziale Krise geraten kann, gibt es Menschen, die besonders vulnerabel sind. Frühe Beziehungserfahrungen und Traumatisierungen beeinflussen maßgeblich, wie Krisen im späteren Leben wahrgenommen und verarbeitet werden.

Besonders die jüngere Generation ist seit der Corona-Pandemie psychisch belastet. Der Anteil junger Menschen von 18 bis 30 Jahren, die sich an das Kriseninterventionszentrum wenden ist von 28 Prozent (2019) auf 31,6 Prozent (2022) gestiegen und derzeit auf diesem Niveau stabil. Zu den Themen, die junge Menschen beschäftigen, zählen der Erfahrung von Gerald Tomandl nach Beziehungsprobleme, Schwierigkeiten bei der Ablösung von den Eltern sowie Sorgen um kranke Angehörige. Zudem spielen soziale und finanzielle Belastungen eine große Rolle, insbesondere der steigende Druck durch hohe Wohnungskosten und die Inflation, die die Lebenssituation vieler junger Menschen weiter erschwert.

Erste Hilfe üben: Was zu beachten ist

Die Angebote der „Ersten Hilfe für die Seele“ von pro mente austria sind weder als Therapie noch als Ersatz für eine Selbsthilfegruppe gedacht. Vielmehr bekommen Teilnehmer:innen Basiswissen über psychische Erkrankungen und lernen praktische Erste-Hilfe-Maßnahmen für psychische Krisen. Die Gesprächssituationen werden dabei mit Rollenspielen geübt, um das Gelernte anzuwenden.

Nichts zu tun, ist immer die falsche Entscheidung.
Alexis Thibaut, Psychologe

Die Hemmung in einer Krisensituation, etwas Falsches zu sagen, sei verständlich, erklärt Thibaut und fügt hinzu: „Selbst wenn sich eine Reaktion später als unpassend herausstellt, ist es nicht die Schuld der Person, die Erste Hilfe geleistet hat. Denn: Nichts zu tun, ist immer die falsche Entscheidung.“

Dabei ist es für Ersthelfer:innen wichtig, auch die eigenen Grenzen zu kennen. Wenn eine Situation zu belastend wird, sollten sie auf sich selbst achten und für ihr eigenes Wohlbefinden sorgen, um nicht überfordert zu werden.

Thibaut weist darauf hin, dass Ersthelfer:innen manchmal in bestimmte Fallen tappen können. So könne es trotz guter Absichten passieren, dass man eine Situation im Gespräch unbewusst vorverurteilt oder auf Basis von Beobachtungen eine Diagnose stellt. Auch Ratschläge sollten mit Bedacht gegeben werden. Ein Beispiel ist der Vorschlag, „gegen die Depression joggen zu gehen“. Solche Äußerungen können den Eindruck erwecken, dass ich den/die Betroffene:n nicht wirklich verstehe, erklärt er.

Es sei auch nicht notwendig, für jedes Problem sofort eine Lösung zu finden. Oft kann es bereits helfen, die Gefühle des Gegenübers zu spiegeln und anzuerkennen, dass die Situation für sie sehr belastend sein muss. Mit jedem Erstgespräch lernen die Ersthelfer:innen dazu, betont Thibaut.

Eigene Erfahrungen als Stärke

Ein großes Potenzial in der Ersten Hilfe für die Seele bieten die sogenannten Peers. Das sind Personen, die selbst schon einmal eine psychosoziale Krise bewältigt haben oder mit einer psychischen Erkrankung leben. Für Betroffene ist es dadurch leichter, sich zu öffnen, da sie mit jemandem sprechen können, der ähnliche Erfahrungen gemacht hat.

„Ich wünsche mir, dass jede:r, der oder die den Weg von psychischer Gesundheit zu psychischer Krankheit geht, irgendwann einer Person begegnet, die sich mit dem Thema auskennt und den Mut hat, es anzusprechen oder zumindest auf Unterstützungsangebote hinzuweisen“, betont Thibaut abschließend.


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Infos und Quellen

Genese

Kaum jemand weiß, dass es Erste-Hilfe-Kurse für die Seele gibt. Nadja Riahi wollte wissen, was Teilnehmer:innen im Seminar ‚Erste Hilfe für die Seele‘ lernen und wie wir Menschen in seelischen Krisen unterstützen können.

Gesprächspartner

  • Alexis Thibaut ist Psychologe und absolviert aktuell die Ausbildung zum Klinischen und Gesundheitspsychologen. Bei pro mente austria leitet er den Kurs „Erste Hilfe für die Seele“.

  • Gerald Tomandl ist Klinischer und Gesundheitspsychologe sowie Psychotherapeut und unter anderem im Kriseninterventionszentrum tätig.

Daten und Fakten

  • Das Kriseninterventionszentrum existiert seit 1977 und bietet ein Ambulatorium zur Betreuung von Menschen in psychosozialen Krisen. Es richtet sich an alle Menschen ab 18 Jahren, die in Wien leben. Die Beratung kann persönlich, telefonisch oder per E-Mail in Anspruch genommen werden und ist für die Klient:innen kostenlos. Die Kosten für die Beratung werden über die Krankenkasse abgerechnet. Auch Personen, die nicht versichert sind, erhalten eine umfassende Betreuung.

  • Im Jahr 2023 hatte das Kriseninterventionszentrum 15.386 Klient:innen-Kontakte. 64 Prozent der Menschen, die betreut wurden, waren Frauen, 35,0 Prozent Männer und 0,2 Prozent divers. Suizidalität ist bei einem Viertel der Klient:innen ein Thema. Mehr als 25 Prozent der Klient:innen sind von Gewaltdrohungen oder -handlungen betroffen.

  • pro mente austria bietet als einzige Organisation in Österreich das lizenzierte „Mental Health First Aid“-Programm (MHFA) von MHFA Australia an. Das Programm wurde 2000 von Betty Kitchener und Tony Jorm in Australien ins Leben gerufen, um die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung zu stärken – ähnlich wie die physischen Erste-Hilfe-Kurse. Bis heute wurden weltweit mehr als fünf Millionen Menschen geschult. MHFA-Seminare sind evidenzbasiert und gehören zu den am besten beforschten und belegten Programmen im Bereich psychische Gesundheit.

  • Mehr über den Unterschied zwischen psychiatrischen und psychosozialen Krisen liest du hier.

  • Das ROGER Prinzip bedeutet: Reagiere: ansprechen, einschätzen, beistehen. Offen und unvoreingenommen zuhören und kommunizieren. Gib Unterstützung und Information. Ermutige zu professioneller Hilfe. Reaktiviere Ressourcen.

Quellen

Das Thema in anderen Medien