Jeden Monat schaue ich in dieser Kolumne in andere europäische Staaten – und stelle einen Leuchtturm vor, der weit über die Grenzen des Landes strahlt. Warum macht die dortige Regierung das, was kostet es – und könnte Österreich das kopieren?
Während Österreich in den vergangenen Monaten an der (eher holprigen) Umstellung von der Handy-Signatur zur „ID Austria“ laborierte, ist man in Estland schon ein paar Schritte weiter – und das ist eine Untertreibung. In dem nördlichsten der drei baltischen Staaten, in dem rund 1,3 Millionen Menschen leben, kann man seit neun Jahren eine „e-Residency“ begründen – und damit eine amtliche und sichere digitale Identifikation innerhalb der EU bekommen, ohne den Staat oder die Union jemals betreten zu haben. Denn „e-Residency” ermöglicht, unbürokratisch, günstig und zu niedrigen Steuern von zuhause ein Unternehmen im Unions-Markt zu gründen – und Estland profitiert, weil es diese Steuern kassiert.
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Aber von Anfang an: Estland hat in den vergangenen Jahrzehnten hart daran gearbeitet, seine öffentliche digitale Infrastruktur zu stärken – erklärtes Ziel: „das Silicon Valley Europas“ zu werden. Diese Strategie geht weit zurück – schon in den späten 1990er-Jahren, kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer damit wiedererlangten Unabhängigkeit, haben die Esten begonnen, massiv in IT-Infrastruktur zu investieren und die Informationstechnologie in Lehrplänen zu verankern. Estland war eines der ersten Länder, das flächendeckendes Internet anbot und digitale Dienstleistungen in den Alltag seiner Bürger:innen integrierte. „Heute sind Heirat und Scheidung die einzigen Amtswege, die man in Estland nicht digital erledigen kann“, erklärt eine Sprecherin der dortigen Regierung nicht ohne Stolz.
Das digitalste Land der Welt
Ideen wie die digitale Signatur für Amtswege und Geschäftsverkehr gab und gibt es in vielen Staaten, – aber Estland hat das Konzept weitergedacht. 2014 hat die Republik die „e-Residency“ eingeführt – die Möglichkeit, „eine amtliche digitale Identität zu erlangen, die globalen Unternehmern Zugang zum digitalsten Staat der Welt verschafft“, wie es auf der Website der estnischen Regierung heißt.
„Die e-Residency wurde eingeführt, um Menschen, die keinen Wohnsitz in Estland haben, sicheren Zugang zu den öffentlichen E-Services Estlands zu bieten und grenzüberschreitendes Unternehmertum zu fördern“, sagt Katrin Vaga, Sprecherin des Programms bei der estnischen Regierung. Der Prozess dauert ein paar Wochen. Danach stehen einem alle estnischen Amtswege offen – besonders die Unternehmensgründung, die in weniger als einer Stunde zu erledigen ist. Ein estnisches Unternehmen – besonders eine ÖU, das dortige Pendant zur GmbH – zu gründen, ist der Hauptzweck der e-Residency, – Estland, das sich dadurch Steuereinnahmen erhofft, aber auch für die „e-Residents“, die so Zugang zu einer Firma im europäischen Binnenmarkt bekommen.
Unkomplizierte Unternehmensgründung
Das Programm hat weltweit Anklang gefunden. Über 108.000 e-Residents aus mehr als 180 Ländern nutzen inzwischen diese Möglichkeit. Am häufigsten verfügen Ukrainer:innen über eine estnische e-residency, gefolgt von Deutschen, Finn:innen und Russ:innen. Rund die Hälfe der Residents kommt aus anderen EU-Staaten. „Als wir die e-Residency eingeführt haben, haben wir erwartet, dass der Zugang zum EU-Markt der wichtigste Treiber sein würde“, erzählt Vaga, „die Nachfrage aus anderen EU-Staaten hat uns überrascht.“ Die Motivation für Residents aus der Union liege darin, dass es in Estland weit unkomplizierter sei, Unternehmen zu gründen, als in den meisten anderen Staaten, das spare Gründer:innen Zeit und Geld.
Apropos Geld: Als Steuerflucht-Schema taugt die e-Residency nur sehr bedingt. Sie ermöglicht zwar die Gründung und Verwaltung eines Unternehmens in Estland, aber, wie die dortige Regierung betont, die steuerliche Verpflichtung richtet sich weiterhin nach dem Ort der wirtschaftlichen Tätigkeit: „e-Residency does not equal tax residency.” Wer also beispielsweise als selbstständiger Programmierer seinen digitalen Unternehmensstandort in Estland hat, aber nur von Österreich aus und in Österreich Kund:innen betreut, wird auch weiterhin hierzulande Umsatz- und Einkommensteuer zahlen müssen.
Zielgruppe: Digitale Nomad:innen
Attraktiv ist die Gründung einer estnischen Gesellschaft aber potenziell für Unternehmer:innen, die keinen fixen Stand- und Leistungsort haben – „digitale Nomad:innen“ zum Beispiel, die in der EU arbeiten. Sie können von der günstigen estnischen Körperschaftsbesteuerung (keine jährliche Steuererklärung, keine Besteuerung laufender Einkommen – nur 20 Prozent flat auf die Ausschüttung von Erträgen) profitieren. Wobei die Est:innen darauf verweisen, dass aufgrund von zahlreichen Doppelbesteuerungsabkommen und den Vagheiten internationalen Steuerrechts immer eine individuelle Beratung empfehlenswert sei. Dementsprechend sind auch die von den e-Residents gegründeten Unternehmen am häufigsten in örtlich flexiblen Branchen zu finden: IT-Technik findet sich in der Statistik vor Beratung und (Online-)Einzelhandel.
Ganz ohne Risiko ist das nicht: Der Geldwäsche-Ausschuss des Europarats warnt in seinem Länderreport zu Estland (der sich auf Evaluierung innerhalb der estnischen Behörden beruft) vor Missbrauch. Der Staat habe bei Nicht-EU-Residents keine Möglichkeiten, verlässliche Informationen über Personen zu erhalten oder eventuelle Straftaten zu verfolgen. Außerdem sei nicht überprüfbar, wenn die physische Karte einfach an jemand anderen weitergegeben würde. Die estnische Regierung verweist dagegen darauf, dass die Hintergrundchecks vor Gewährung der e-Residency umfassend seien.
Vorreiter für andere Staaten
Für Estland selbst hat das Programm bisher erhebliche wirtschaftliche Vorteile gebracht. „Für jeden Euro, den die estnische Regierung in das e-Residency-Programm investiert, erhalten wir 7,60 Euro zurück“, sagt Vaga. Seit dem Start des Programms 2014 haben e-Residents bzw. ihre Unternehmen rund 200 Millionen Euro an Steuern gezahlt; allein im ersten Halbjahr 2023 sind rund 38 Millionen Euro dazugekommen. Das habe die 2014 getroffenen Prognosen übertroffen, heißt es aus der estnischen Regierung – man will das System weiterentwickeln, etwa in Richtung der Abschaffung der physischen Schlüsselkarten.
Lässt sich das estnische Modell auch in anderen Staaten kopieren? Litauen hat inzwischen nachgezogen, fordert aber, zumindest einmal persönlich anzureisen, um sich zu registrieren; Portugal will mit einer e-Residency nachziehen, ist aber vorerst noch in der Planungsphase.
Und Österreich? Hierzulande gibt es vorerst keine Pläne, eine rein digitale Niederlassung einzuführen; die „ID Austria“, die Zugang zu staatlichen Services ermöglicht, kann man zwar auch an österreichischen Vertretungen im Ausland erstellen, es braucht aber immer einen „Inlandsbezug“ – etwa die Staatsbürgerschaft, einen Wohnsitz oder eine bereits bestehende Geschäftstätigkeit in Österreich. Hat man bereits eine ID, geht die Gründung von Einzelunternehmen in Österreich (das sich in Sachen digitaler Verwaltung nicht verstecken muss) ebenfalls schon online. Aber eben nur für Hauptwohnsitzer:innen. Eine Änderung ist vorerst nicht angedacht.
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Infos und Quellen
Gesprächspartner:innen
Katrin Vaga, Head of international communications e-Residency
Vincenz Kriegs-Au, Sprecher von Digitalstaatssekretär Florian Tursky
Daten und Fakten
Estland, nördlichster der drei baltischen Staaten, ist seit 1991 nach Jahrzehnten sowjetischer Einverleibung wieder unabhängig. Das 1,3-Millionen-Einwohner-Land ist EU- und Nato-Mitglied, es grenzt an Lettland und Russland und unterhält enge Beziehungen zu Finnland.
Seit mehr als zwei Jahrzehnten hat die estnische Politik auf Digitalisierung gesetzt, die Regierung bezeichnet Estland als „digitalstes Land der Welt“. Aus dieser Ideologie ist etwa die e-Residency entsprungen, eine digitale Identifikation, die es Menschen aus der ganzen Welt ermöglicht, digitale Amtswege in Estland zu gehen und dort Unternehmen zu gründen, ohne das Land je bereist zu haben. Bis dato verzeichnet Estland mehr als 108.000 e-Residents und mehr als 28.000 von diesen gegründete Unternehmen.
Wie funktioniert die „e-Residency“?
Die „e-Residency“ verschafft Menschen aus der ganzen Welt zunächst einmal ein digitales Identitätszertifikat. Dazu gibt es einen mehrstufigen Prozess: Nach einem Online-Antrag mit eingescanntem Personalausweis oder Reisepass führt die estnische Polizei zunächst einmal einen Hintergrundcheck durch.
Danach wird ein „e-residency-kit“, – eine physische Chipkarte samt USB-Reader, mit dem man sich an jedem Computer eindeutig gegenüber der estnischen Regierung identifizieren kann, an eine von 50 Abholstationen – Botschaften und Konsulate Estlands – in der ganzen Welt ausgeliefert. Wobei „in der ganzen Welt“ relativ ist: Während Europa und Asien relativ breit abgedeckt sind, gibt es in Afrika genau einen Abholort (Kairo), in Südamerika überhaupt keinen. Die persönliche Anreise an eine dieser Botschaften ist aber nötig, weil bei der Übergabe der Chipkarte auch Fingerabdrücke abgenommen werden.
Quellen
Republic of Estonia: e-Residency
‘Making Estonia Bigger’: What E-Residency in E-Estonia Can Do for You, What It Can Do for Estonia
Estnisches Finanzministerium: Analysis of risks related to the e-Residency programme
Report des Europarats 2022 zu Estland: Anti-money laundering and counter-terrorist financing measures
EU-Kommission regional report: Estonia leads the way with advanced e-services for citizens
Das Thema in anderen Medien
The Economist: Estonia is trying to convert the EU to its digital creed
NZZ: Die gläserne Bürgerin – oder: In Estland bist du ohne digitale Identität niemand
NZZ: Estland, der digitale Staat: Ein Land verschiebt sich in die virtuelle Welt