Der russische Angriff auf die Kinderklinik Okhmadyt ist für viele Ukrainer:innen einmal mehr eine Bestätigung dafür, dass es mit diesem Regime in Moskau keinen Ausgleich geben können wird. Ein Lokalaugenschien aus Kiew.
Abgesperrte Straßen, quergestellte Pickups, Polizisten, die den Verkehr regeln, Rettungswägen, Menschen mit Plastiksäcken voller Medikamente, Brot, Wasserflaschen – hunderte , wenn nicht tausende sind es, die hierhergekommen sind. Die Trümmer rauchen noch. Nach dem russischen Angriff auf die Kinderklinik Okhmadyt in Kiew am Rand des Stadtzentrums scheint sich die Fassungslosigkeit, die Wut ihren Weg in Tatendrang zu bahnen: „Diese Tiere...“, sagt eine füllige Frau um die 50 in grauem T-Shirt und Leggins. „Wer tut so etwas...“, sagt ein Mann Mitte 20 mit E-Zigarette und Plastiksäcken voller Lebensmittel. Er brüllt einen Polizisten an, ihn doch hineinzulassen, drückt ihm dann aber ganz einfach den Sack in die Hand. „Das sind keine Menschen, Menschen tun so etwas nicht“, sagt ein Mann mit rasiertem Kopf und braunem Hemd, der einen Sack voller Medikamente gebracht hat.
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Grausame Gewissheit
In Kiew waren gerade 33 Menschen gestorben. Seit den frühen Morgenstunden hatte es immer wieder Alarm gegeben an diesem Montag. Immer wieder waren Raketen, Drohen und Marschflugkörper in Richtung der Stadt, die einst sieben Millionen Einwohner:innen hatte, geflogen – geschätzte drei Millionen sind es noch. Eine grausame Routine: Alarm, dann das dumpfe Grollen der Abwehr, Vogelschwärme, die gestresst umherfliegen, immer wieder schwere Explosionen – und schließlich Rauchsäulen. Stille. Sirenen von Rettungswägen. Letztendlich die Nachricht, was getroffen wurde. An diesem Montag waren das drei Infrastruktur-Einrichtungen für die Versorgung mit Strom, eine Geburtsklinik auf dem linken Dnipro-Ufer und eine Kinderklinik. Und dann die Gewissheit: die Kinderklinik des Landes. Okhmadyt.
Am Nachmittag steht Yevhen Vember inmitten von Schutt und Massen an Helfer:innen. Yevhen Vember ist Chef der Okhmadyt-Stiftung. Ein schmaler Mann mit erschöpften Augen. Er sagt: „Ich kann nicht verstehen, wie Menschen so etwas tun können.“ Er könne noch irgendwie verstehen, dass Krieg grausam sei. Das passe noch irgendwie in seinen Schädel. Das sei eben die Lehre aus den Erfahrungen der letzten Jahre. „Aber“, sagt er, „eine Rakete in ein Kinderkrankenhaus zu feuern, geht weit darüber hinaus.“
Er macht eine Pause, blickt in die Szenerie: Schutt, überall Glassplitter, Helfer:innen.
Dann fragt Yevhen Vember mit starrem festem Blick: „Wie kann ein Staat, der sich selbst als Nation, als Kulturnation mit großer Geschichte, bezeichnet, so etwas tun?“ Lediglich Kreaturen seien die Ukrainer:innen in den Augen dieser Nation. „Kreaturen am Rand“, mit denen man anstellen könne, was man wolle. Er könne daraus nur den Schluss ziehen, dass Russland nichts zu bieten habe als Barbarei.
Okhmadyt ist nicht irgendeine Klinik. Okhmadyt ist kein gewöhnliches Kinderkrankenhaus. Okhmadyt ist eine Institution in der Ukraine. Denn wenn Kinder krank werden in diesem Land, wenn sie spezielle Hilfe benötigen, wenn sie aufgrund des russischen Beschusses schwere Wunden davongetragen haben, wenn sie Gliedmaßen verloren haben, oder Schrapnellsplitter an gefährlichen Stellen im Körper stecken und Spezialist:innen brauchen, dann kommen sie hierher – aus dem ganzen Land. Die Klinik ist eine der größten in Europa: 720 Betten, spezialisierte Abteilungen aller Fachrichtungen, modernste Ausrüstung. Hier werden besonders spezialisierte Behandlungen angeboten. Viele der Patient:innen sind Opfer des Krieges – jetzt hat er sie erneut eingeholt.
400 stationäre Patient:innen hätten jetzt in Folge des Angriffs auf umliegende Krankenhäuser verlegt werden müssen, sagt Yevhen Vember. In Zeiten, da das Gesundheitssystem des Landes ohnehin am Anschlag arbeitet, eine Herausforderung.
Okmadyt ist ein kleiner Stadtteil. Mehrere ältere Ziegel-Pavillons in blassem Gelb, Wege dazwischen, ein großer moderner Betten- und OP-Trakt. Zieht man von den einander gegenüberliegenden Ecken dieses Blocks Diagonalen, liegt im Kreuzungsmittelpunkt die Dialysestation. Diese Dialysestation ist heute nur mehr ein Schutthaufen. Denn genau hier schlug die Rakete ein. Komplett zerstört wurde auch die Abteilung für pränatale Chirurgie sowie die Onkologie und alle Operationssäle. Durch die Druckwelle ist im ganzen Spital kein Fenster heil geblieben. Fassadenteile hängen herab. Die technische Ausstattung ist kaputt.
Kein Wasser, kein Gas
Die Infrastruktur der Klinik ist zerstört. Sauerstoff gibt es keinen mehr – und damit keine Beatmung. In der gesamten Klinik gibt es weder Wasser noch Gas. Das Krankenhaus mit seinen 720 Betten ist damit zumindest für einige Zeit nicht zu benutzen. Um den angerichteten Schaden zu beheben, sagt Vember, werde es sehr viel Geld brauchen. Wie viel, war noch nicht einmal im Ansatz abzuschätzen. Kurz: Diese Klinik ist bis auf weiteres nicht operativ. Vorerst gelte es, einmal einen Plan auszuarbeiten, wie man weiter verfährt, meint Yevhen Vember.
Dabei erscheint es fast wie ein Wunder angesichts der Schäden, dass bei dem Angriff nur zwei Menschen getötet und 50 verletzt wurden. Das ist allein der Geistesgegenwärtigkeit des medizinischen Personals zu verdanken – und der bitteren Einsicht, dass für Russland alles ein Ziel ist in der Ukraine. Baumärkte, Nahrungsmittel-Lagerhäuser, und eben auch medizinische Einrichtungen. Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO gab es seit Beginn der großen Invasion Russlands im Februar 2022 mehr als 1.600 Angriffe auf medizinische Einrichtungen. Hunderte Spitäler wurden komplett zerstört.
Nicht zuletzt deshalb werden bei jedem einzelnen Luftalarm in den Spitälern des Landes alle Patient:innen in Schutzräume gebracht – am Montag gab es Alarme im Stakkato. Seit der Nacht waren die Kinder in den Kellern. Zum Zeitpunkt des Angriffs hatten sich 627 Kinder in dem Spital befunden. Getötet wurde eine Ärztin, die kontrolliert hatte, dass alle Räume auch tatsächlich leer sind, sowie der Vater eines Kindes. Ein Kind starb am Mittwoch nach der Verlegung in ein anderes Spital.
Wille zur kompletten Vernichtung
Kiew hat eine gewisse Routine mit Angriffen. Längst rennen bei einem Alarm nicht mehr alle panisch los. Auch daran, dass es immer wieder Einschläge gibt oder Trümmerteile abgeschossener Raketen herabfallen, hat man sich gewöhnt. Dass ein Kinderspital aber gezielt beschossen wird, das ist eine neue Dimension des Schreckens, der Grausamkeit. Und für viele ist dieser Angriff auch am Tag danach die Bestätigung dafür, dass es mit diesem Russland keine Einigung geben kann. Weil dieses Regime in Moskau alles tue und alles tun werde, um dieses Land auszulöschen – mit welchen Methoden auch immer, sind sich die Ukrainer:innen einig.
Zu dieser Einsicht mischen sich Verzweiflung über lahmende Hilfe aus dem Westen, die Angst, von westlichen Partner:innen im Stich gelassen zu werden, und zunehmend Unverständnis darüber, dass im Westen oft nicht gesehen werde, was hier tagtäglich passiert – mit all dem, was das mit sich bringt: Aufrufe, doch klein beizugeben, oder Beschränkungen, was den Einsatz westlicher Waffen angeht.
An diesem Tag aber ist der Beistand lauter. Yevhen Vember ringt um Worte, blickt auf sein Telefon, hebt ab. Es läutet schon den ganzen Tag. „Alle fragen, wie es uns geht“, sagt er. Es sind Anrufe aus aller Welt, die ihn erreichen. Auch Geld ist schon gespendet worden.
Tonnen an Schutt
Okhmadyt hat ein gigantisches Netzwerk internationaler Partner. Die Klinik ist ein Leuchtturmprojekt, in dem sich im Kleinen darstellt, wie die Ukraine aktuell im Zusammenspiel zwischen staatlichen Strukturen, Zivilgesellschaft und privaten und staatlichen internationalen Geldgeber:innen funktioniert. Yevhen Vember ist damit so etwas wie der Außenminister der Klinik. Ein weltgewandter Netzwerker – mit heute leicht zitternden Mundwinkeln, der um Räson ringt: Er wolle seine „tiefe Dankbarkeit zu unseren Partnern in Österreich, Deutschland, Frankreich oder Italien – überall in Europa – ausdrücken“, sagt er. Rund um ihn Helfer:innen, Feuerwehr, später Diplomat:innen, deren Leibwächter und Vertreter:innen internationaler Organisationen. Yevhen Vember schüttelt Hände, beantwortet Fragen von Helfer:innen und Spitalspersonal.
„Es sieht für mich so aus, dass Ukrainer in harten Zeiten zusammenhalten“, sagt er. Inspirierend sei das. Bis in den späten Abend und auch noch am Tag danach hält der Strom an Menschen an, die Wasser bringen oder Nahrung, die ihre Hilfe beim Wegräumen des Schutts anbieten. Tonnen an Schutt.
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Infos und Quellen
Genese
Autor Stefan Schocher hatte ursprünglich andere Pläne in Kiew - als die russische Rakete unvermittelt in das Kinderspital einschlug und er aus erster Hand berichten konnte.
Gesprächspartner:innen
Jene Männer und Frauen, die fassungslos vor den rauchenden Ruinen des Kinderspitals gestanden sind und die WZ-Autor Stefan Schocher ihre Eindrücke mitgeteilt haben.
Yevhen Vember, Chef der Okhmadyt-Stiftung.
Daten und Fakten
Gemäß dem humanitären Völkerrecht (HVR) dürfen Gesundheitseinrichtungen, darunter Spitäler, nicht angegriffen werden, wenn sie nicht militärisch genutzt werden. Dieser Schutz gilt auch für die Verwundeten und Kranken sowie das medizinische Personal und Transportmittel.
Seit dem 24. Februar 2022 führt Russland einen großangelegten Angriffskrieg gegen die benachbarte Ukraine. Seit Kriegsbeginn ist es Russland gelungen, Teile der Ostukraine unter seine Kontrolle zu bringen. Bereits 2014 annektierte Russland die ukrainische Halbinsel Krim und Gebiete im Donbass.
Der Internationale Strafgerichtshof will den russischen Präsidenten Wladimir Putin seit März 2023 wegen Kriegsverbrechen vor Gericht bringen. Es besteht der Verdacht, dass Putin für die Deportation ukrainischer Kinder nach Russland verantwortlich ist.