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Fehlgeburten: Ein Tabu, das Frauen isoliert

7 Min
Immer mehr Frauen fordern, das Schweigen über das tabuisierte Thema Fehlgeburt zu brechen.
© Illustration: WZ, Bildquelle: Getty Images

Fehlgeburten sind ein traumatisches Erlebnis, über das allerdings kaum gesprochen wird. Obwohl es sehr viele betrifft. Doch immer mehr Frauen fordern, dieses Schweigen zu brechen.


Es sind Worte, die eine Gänsehaut des Mitgefühls auslösen: „Ich stand in der Dusche im Schwimmbad und hatte unglaublich dolle Bauchschmerzen“, berichtet die deutsche TikTokerin Itsphoebely. Mit tränenerstickter Stimme lässt sie ihre Fehlgeburt Revue passieren. „Ich kucke runter und der Boden war voller Blut. (…) Dann kam eine Frau herein, sie hat mich einfach in den Arm genommen“, erzählt sie mit einem unfokussierten Blick ins Weite, der erahnen lässt, wie sehr sie mit diesem Verlust zu kämpfen hat. Itsphoebely spricht über eine Erfahrung, die für viele Frauen zur grausamen Realität wird – den Verlust ihres Kindes während der Schwangerschaft. Und doch bleibt diese Erfahrung häufig verborgen, sie wird verschwiegen. Ein Schweigen, das nicht nur Ausdruck des Schmerzes ist, sondern auch Ausdruck eines gesellschaftlichen Tabus.

Fehlgeburten sind nach wie vor ein Thema, das im öffentlichen Diskurs kaum eine Rolle spielt. Laut einer Lancet-Studie erleiden weltweit jährlich etwa 23 Millionen Frauen eine Fehlgeburt. Das entspricht einer von sieben Schwangerschaften. In Österreich spricht man von mindestens jeder zehnten Frau, doch die tatsächliche Zahl liegt eher bei jeder dritten Frau. Zuverlässige Daten über Abgänge in den ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft gibt es nicht. Fehlgeburten gehören zu den am häufigsten vorkommenden, aber gleichzeitig am seltensten besprochenen Ereignissen im Leben einer Frau. Dieses Schweigen hinterlässt Spuren. Es verstärkt das Gefühl der Isolation.

Einsamkeit in der Trauer

Für Frauen wie Itsphoebely ist das Gefühl der Einsamkeit nach einer Fehlgeburt ein wiederkehrendes Motiv. In den Kommentaren unter ihrem Video finden sich Tausende von Frauen, die ihre Erfahrungen teilen. „Mir ist es genauso ergangen“, „Ich habe auch mein Baby verloren“ – doch diese Worte kommen oft erst, wenn jemand den Mut hat, das Schweigen zu brechen. „Das Gefühl der Einsamkeit ist leider typisch für viele Frauen nach einer Fehlgeburt“, sagt Eva Lindner, Journalistin und Autorin des Buchs „Mutter ohne Kind“. „Es liegt vor allem daran, dass Fehlgeburten immer noch ein Tabuthema sind. Selbst unter Frauen wird selten darüber gesprochen“, sagt sie im Gespräch mit der WZ. Sie weiß, wovon sie spricht: Auch sie hat ein Kind durch eine Fehlgeburt verloren.

Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Mehr als 30 Prozent der Schwangerschaften enden mit einer Fehlgeburt, doch die öffentliche Wahrnehmung hinkt der Realität hinterher. „Viele Menschen schätzen, dass Fehlgeburten nur in etwa fünf Prozent der Fälle vorkommen“, sagt Lindner, basierend auf ihrer Recherche. Diese Diskrepanz zwischen Annahme und Realität verschärft die Einsamkeit der betroffenen Frauen zusätzlich. „Frauen, die eine Fehlgeburt erleben, glauben oft, sie seien die Ausnahme – dabei sind sie die Regel“, erklärt sie weiter.

Das Tabu des Scheiterns

Doch warum ist das Thema Fehlgeburt derart tabuisiert, gerade in einer Gesellschaft, die sich doch so offen und modern gibt? Die Antwort findet sich in der Struktur unserer modernen Kultur, die auf Erfolg und Perfektion ausgerichtet ist: „Wir leben in einer Leistungsgesellschaft“, sagt Lindner, „in der es um Erfolg, Optimierung und Kontrolle geht. Der Verlust eines ungeborenen Kindes wird in diesem Kontext als Scheitern empfunden – als das Versagen des eigenen Körpers.“

Diese Verbindung von Mutterschaft und Leistungsanspruch verstärkt das Gefühl der Scham, das viele Frauen nach einer Fehlgeburt erleben. „Sie passt nicht in das Bild der erfolgreichen, fruchtbaren Frau. Das Thema wird vermieden, weil es nicht zur glorifizierten Vorstellung von Schwangerschaft und Mutterschaft passt“, sagt Claudia Turek, dreifache Sternenkind-Mutter und Obfrau des Vereins Regenbogen, der Sternenkinder-Eltern unterstützt. (Als Sternenkinder werden Babys bezeichnet, die noch während der Schwangerschaft, bei oder nach der Geburt verstorben sind.) Diese gesellschaftlichen Normen hinterlassen ihre Spuren bei den Frauen, die nicht nur ihren Verlust verarbeiten müssen, sondern auch das Gefühl der Schuld und des Versagens.

Schuld und Scham – Die Bürde der Betroffenen

„Habe ich etwas falsch gemacht? War es meine Schuld?“, sind Fragen, die sich viele Frauen nach einer Fehlgeburt stellen. Diese Selbstzweifel sind oft tief verankert und beruhen auf gesellschaftlichen und kulturellen Erwartungen, die Frauen als alleinige Verantwortungsträgerinnen für die Schwangerschaft und das Wohl des ungeborenen Kindes betrachten. „In patriarchal geprägten Gesellschaften wird Frauen oft die Schuld für den Verlust eines Kindes zugeschoben – selbst wenn medizinische Gründe aufseiten des Partners vorliegen“, erklärt Turek. „Viele Frauen machen sich Vorwürfe, dass sie nicht genug auf ihren Körper geachtet haben, oder dass sie etwas hätten verhindern können. Diese Schuldgefühle sind Teil des Trauerprozesses, aber sie verstärken die Isolation und machen es noch schwerer, den Verlust zu verarbeiten.“

Die 12-Wochen-Regel: Schutz oder Falle?

Eine weitere Barriere, die zur Tabuisierung von Fehlgeburten beiträgt, ist die sogenannte 12-Wochen-Regel. Es wird Frauen traditionell geraten, erst nach dem dritten Monat der Schwangerschaft die frohe Nachricht zu verkünden – zu groß ist die Gefahr einer Fehlgeburt in den ersten zwölf Wochen. Doch diese Vorsicht hat ihren Preis: „Frauen, die in dieser Zeit eine Fehlgeburt erleiden, stehen oft allein da, weil sie niemandem von ihrer Schwangerschaft erzählt haben“, erklärt Lindner. „Sie berauben sich selbst eines sozialen Netzwerks, das sie auffangen könnte.“

Der vermeintliche Schutz, den die 12-Wochen-Regel bieten soll, kehrt sich in der Praxis häufig gegen die betroffenen Frauen. „Das führt dazu, dass Fehlgeburten in der Gesellschaft kaum wahrgenommen werden. Erst wenn Frauen ihre Erfahrungen teilen, erfahren sie, dass sie nicht allein sind“, sagt Turek. Doch diese Einsicht kommt oft zu spät – viele Frauen haben bereits Wochen, wenn nicht Monate, in isolierter Trauer verbracht.

Die Rolle der Hebammen: Unterstützung nach dem Verlust

In den letzten Jahren gibt es jedoch erste Anzeichen eines Bewusstseinswandels. Vor allem durch den Einsatz von Selbsthilfegruppen und Vereinen wie „Regenbogen“ oder „12 Wochen“ sowie Social-Media-Beiträge beginnen mehr Frauen, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Auch die Rolle der Hebammen in diesem Prozess hat sich gewandelt: Marianne Mayer ist Teil des Geschäftsführenden Ausschusses des Österreichischen Hebammengremiums und praktizierende Hebamme. Sie beschreibt die Unterstützung, die Frauen heute nach einer Fehlgeburt erhalten können, so: „Wir helfen dabei, die Frauen körperlich zu stabilisieren und psychisch mit unserem Netzwerk zu unterstützen. Es gibt spezielle Rückbildungsmaßnahmen, und wir sorgen dafür, dass sich die Frauen wieder auf ihren Körper verlassen können.“ Seit dem 1. September gibt es in Österreich zudem den Anspruch auf Hebammenhilfe nach einer Fehlgeburt, finanziert durch die Krankenkassen. „Viele Frauen wissen gar nicht, dass sie auch bei einer frühen Fehlgeburt Anspruch auf Hebammenhilfe haben“, berichtet Mayer. „Gerade in dieser Zeit ist es wichtig, dass Frauen jemanden an ihrer Seite haben, der sie unterstützt und ihnen zeigt, dass sie nicht allein sind.“

Wege aus dem Schweigen

Doch trotz der zunehmenden Unterstützung bleibt das Thema Fehlgeburt in der öffentlichen Diskussion unterrepräsentiert. „Es braucht mehr Anerkennung für das, was Frauen nach einer Fehlgeburt durchmachen“, fordert Lindner. „Die Gesellschaft muss verstehen, dass der Verlust eines Kindes, egal in welcher Schwangerschaftswoche, real ist, und dass Frauen das Recht haben, diesen Verlust zu betrauern.“ So wie Itsphoebely, die mit ihrem TikTok-Video eine Welle der Solidarität und des Mitgefühls ausgelöst hat. „Ein Baby ist ein Baby, egal wie früh es geht“, lautet eine häufig wiederholte Aussage in den Kommentaren unter Itsphoebelys Video. Dieser Satz fasst zusammen, was viele Frauen empfinden, aber nicht aussprechen.


Hilfe und Unterstützung als Betroffene oder als Angehörige zu diesem Thema findest du unter folgenden Websites:

www.aspetos.at, www.canacakis.de, www.hebammen.at, www.hebammenzentrum.at, www.kriseninterventionszentrum.at, www.lebensbewegung.at, www.nanaya.at, www.promami.at, www.selbsthilfe.at, www.shg-regenbogen.at, www.spuren-im-leben.at, www.trauerbegleiten.at, www.trauerhilfe.at, www.veid.de, www.verein-pusteblume.at, www.verwaisteeltern.at, www.zoe.at u. a.


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Infos und Quellen

Gesprächspartnerinnen

  • Eva Lindner, geboren 1983, arbeitet als Journalistin u. a. für Zeit Wissen, Die Zeit und die Süddeutsche Zeitung. Sie ist Absolventin der Axel-Springer-Akademie, erhielt für ihre Reportagen mehrere Auslandsstipendien und berichtete u. a. aus Indien, dem Iran und Israel. Nachdem sie selbst eine Fehlgeburt erlitt, begann sie sich mit der gesellschaftlichen Tabuisierung auseinanderzusetzen – u. a. in ihrem Buch „Mutter ohne Kind: Das Tabu Fehlgeburt und was sich ändern muss“. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Valencia, Spanien.

Foto von Eva Lindner
Eva Lindner
© Bildquelle: Anna McKay Photography
  • Claudia Turek ist dreifache Sternenkind-Mutter und Obfrau des Vereins Regenbogen in Wien.

  • Marianne Mayer ist Teil des Geschäftsführenden Ausschusses des Österreichischen Hebammengremiums, die gesetzliche Standesvertretung aller in Österreich tätigen Hebammen. Sie ist außerdem leitende Hebamme in der Privatklinik Goldenes Kreuz.

Foto von Marianne Mayer
Marianne Mayer
© Bildquelle: ÖHG/Fotografie Starmayr

Daten und Fakten

  • Begriffsbestimmungen (§ 8 Abs. 1 Hebammengesetz):

Lebendgeburt: Als „lebend geboren“ gilt unabhängig von der Schwangerschaftsdauer eine Leibesfrucht dann, wenn nach dem vollständigen Austritt aus dem Mutterleib entweder die Atmung eingesetzt hat oder irgendein anderes Lebenszeichen erkennbar ist, wie Herzschlag, Pulsation der Nabelschnur oder deutliche Bewegungen willkürlicher Muskeln, gleichgültig, ob die Nabelschnur durchschnitten ist oder nicht und ob die Plazenta ausgestoßen ist oder nicht.

Totgeburt: Als „tot geboren“ oder in der Geburt verstorben gilt eine Leibesfrucht dann, wenn keines der oben genannten Zeichen erkennbar ist und sie ein Geburtsgewicht von mindestens 500 Gramm aufweist.

Fehlgeburt: Eine Fehlgeburt liegt vor, wenn bei einer Leibesfrucht kein Zeichen einer Lebendgeburt vorhanden ist und die Leibesfrucht ein Geburtsgewicht von weniger als 500 Gramm aufweist.

Mutterschutz: Sowohl im Fall einer Totgeburt wie auch dann, wenn das Kind unmittelbar nach der Geburt gestorben ist, darf die Arbeitnehmerin grundsätzlich während acht Wochen nach der Entbindung nicht beschäftigt werden (absolutes Beschäftigungsverbot oder Schutzfrist), bei Frühgeburten, Mehrlingsgeburten oder Kaiserschnittentbindungen erhöht sich dieser Zeitraum auf zwölf Wochen.

  • § 5 Abs. 1 Mutterschutzgesetz: Ist eine Verkürzung der Achtwochenfrist vor der Entbindung eingetreten, so verlängert sich die Schutzfrist nach der Entbindung im Ausmaß der Verkürzung, höchstens auf insgesamt 16 Wochen. Nach einer Fehlgeburt besteht kein Beschäftigungsverbot. Während der gesundheitlichen Beeinträchtigung nach einer Fehlgeburt besteht die Möglichkeit eines Krankenstandes.

  • Die Aufgabe der Hebamme besteht darin, dich in dieser Zeit zu begleiten, zuzuhören, und den Wochenbettverlauf zu kontrollieren. Die Hebamme kann somit deine erste Ansprechpartnerin für zu Hause sein. Hebammenhilfe ist nicht kostenlos, aber eine Leistung der Sozialversicherungsträger. Wenn du die Leistungen einer Hebamme mit Kassenvertrag in Anspruch nimmst, werden die Kosten für eine bestimmte Anzahl von Hausbesuchen übernommen. Bei einer Wahlhebamme bekommt man einen Teil des zu bezahlenden Betrags rückerstattet. Diese Regelung gilt nur bei einem tot geborenen Kind oder beim Tod bald nach der Geburt.

  • Seit 1. September 2024 erhalten Frauen, die nach der 18. Schwangerschaftswoche eine Fehlgeburt erleiden, einen Anspruch auf Hebammenhilfe, die von den Sozialversicherungsträgern getragen wird. Es gibt im zuständigen Ministerium eine Arbeitsgruppe, die sich bemüht, die Möglichkeiten für ein Wochengeld zu untersuchen.

Quellen

Das Thema in anderen Medien