Zum Hauptinhalt springen

Frauen: eine soziale Gruppe

4 Min
Beatrice Frasl schreibt alle zwei Wochen eine feministische Kolumne zu einem aktuellen politischen Thema für die WZ.
© Illustration: WZ

Der EuGH kam Mitte Jänner zu einer erstaunlichen Erkenntnis: Frauen existieren.


Der Europäische Gerichtshof stellte Mitte Jänner etwas Bemerkenswertes fest: Frauen sind eine soziale Gruppe. Als eine solche soziale Gruppe haben sie spezifische Bedürfnisse und sind spezifischen Risiken und Gefährdungen ausgesetzt, denen andere Menschen (sprich: Männer) nicht ausgesetzt sind. Ihr fragt euch vielleicht, warum es bis 2024 dauert, bis ein hoher Gerichtshof auf die Idee kommt, Frauen als Gruppe zu verstehen, und wie es passieren konnte, dass Jahrhunderte an Frauenbewegung so spurlos an ihm vorübergezogen sind, aber ich fürchte, 2024 befinden wir uns in einem historischen Kontext, in dem wir uns inmitten eines Backlashes von allen Seiten freuen müssen, wenn politische und juristische Instanzen nicht überhaupt vergessen, dass Frauen existieren. Ja, es ist wahr, Frauen existieren und das in gar nicht so geringen Zahlen, wie es den Anschein erwecken mag, wenn man sich ansieht, wie wenige von ihnen in politischen und juristischen Machtpositionen vertreten sind: Frauen machen nämlich 49,5 Prozent der Weltbevölkerung aus, um genau zu sein.

Spezifischer Schutz für Frauen nötig

Diese 49,5 Prozent sind jene Gruppe, die unverhältnismäßig oft von sexueller/sexualisierter Gewalt, häuslicher Gewalt, sogenannten „Ehrenmorden“ und Menschenhandel betroffen ist. Es ist jene Gruppe, die in Afghanistan keine Schule oder Universität besuchen darf, die im Iran ohne Kopftuch das Haus nicht verlassen darf. Es ist jene Gruppe, von der jede Fünfte, das sind 640 Millionen weltweit, bereits als Kind zwangsverheiratet wurde, und 200 Millionen an ihren Genitalien verstümmelt wurden. Jene Gruppe, die weltweit zu über 70 Prozent von Armut bedroht ist und die drei Viertel der unbezahlten Arbeit leistet. Jene Gruppe, die in Kriegen routinemäßig massenvergewaltigt wird. Jene Gruppe, von der in Deutschland jeden dritten Tag eine von ihrem Partner oder Ex-Partner ermordet wird. Jene Gruppe, die in Österreich 40,55 Prozent weniger Pension erhält als Männer und die keinen Zugang zu legaler Abtreibung hat.

Ja, Frauen sind eine soziale Gruppe. Sie sind jene soziale Gruppe, die weltweit am häufigsten Gewalt, Verfolgung und Unterdrückung ausgesetzt ist. Frauen sind von einer ganzen Reihe geschlechtsspezifischer Formen von Gewalt betroffen, und benötigen deshalb spezifischen Schutz, auch von Seiten von Asylbehörden und als Geflüchtete.

Geschlechtsspezifische Gewalt als Fluchtgrund

Im konkreten Fall, zu dem der EuGH nun urteilte, suchte eine Kurdin mit türkischer Staatsbürgerschaft in Bulgarien um internationalen Schutz an. Sie war zwangsverheiratet worden und hatte sich scheiden lassen. In Folge der Trennung wurde sie von ihrem Ex-Mann und ihrer Herkunftsfamilie mit dem Tod bedroht. Sie fürchtete, Opfer eines Femizids bzw. eines sogenannten „Ehrenmordes“ zu werden. Der EuGH entschied an ihrem Beispiel, dass Frauen eine soziale Gruppe darstellen und ihnen deshalb spezifische Gewalterfahrungen als Flüchtlingsgründe oder als Gründe für subsidiären Schutz anerkannt werden müssen: Zwangsverheiratung, Genitalverstümmelung, „Ehrenmord“ und häusliche Gewalt.

„Folglich kann ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt werden, wenn sie in ihrem Herkunftsland aufgrund ihres Geschlechts physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt und häuslicher Gewalt, ausgesetzt sind“, urteilte der Europäische Gerichtshof.

Wenn einer Frau von Angehörigen, Familienmitgliedern oder Mitgliedern einer Gemeinschaft mit dem Tod gedroht wird, etwa wegen eines „Verstoßes“ gegen kulturelle, religiöse Geschlechternormen oder Verhaltensregeln, die für Frauen im jeweiligen Kontext gültig sind, oder wenn sie von anderen Gewalttaten oder erniedrigenden Handlungen bedroht sind, gilt das nun als Fluchtgrund oder als Grund für subsidiären Schutz.

Gewalt als Form der Verfolgung

In seiner Begründung verweist der EuGH auf das 13 Jahre alte Übereinkommen des Europarates „zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“. Die sogenannte Istanbul Konvention ist für die EU an und für sich bindend, wenngleich viele EU-Staaten, so auch Österreich, wo die Konvention 2014, also vor zehn Jahren, in Kraft trat, äußerst säumig in ihrer Umsetzung sind. In dem Übereinkommen wird Gewalt gegen Frauen als eine Form der Verfolgung anerkannt.

Das Urteil des EuGH folgt mit 13 Jahren Verzögerung nun reichlich spät.

Dammbruch?

Und wie wurde in Österreich auf das längst überfällige Erkenntnis reagiert?

Nun, die FPÖ schwadronierte von einem „Dammbruch“, der die „illegale Masseneinwanderung anheizt“, denn schließlich könne man nicht „allen Menschen auf dieser Welt, die in ihrer Heimat von Zwangsehen oder anderen Auswüchsen archaischer Kulturen betroffen sind, das Recht auf Asyleinwanderung zu uns“ gewähren. Scheinbar gibt es für die FPÖ wenig Beängstigenderes als die Vorstellung von gewaltbetroffenen Frauen, die ins Land kommen. Aber vielleicht hat die FPÖ ja vor Frauen insgesamt Angst, so geht es Männern in archaischen Kulturen ja oft.


Beatrice Frasl schreibt alle zwei Wochen eine Kolumne zum Thema Feminismus. Alle Texte findet ihr auch in ihrem Autor:innenprofil.


Dir hat dieser Beitrag besonders gut gefallen, dir ist ein Fehler aufgefallen oder du hast Hinweise für uns - sag uns deine Meinung unter feedback@wienerzeitung.at. Willst du uns helfen, unser gesamtes Produkt besser zu machen? Dann melde dich hier an.


Infos und Quellen

Quellen

In anderen Medien