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Für die Alpengletscher besteht noch Hoffnung

10 Min
Glaziologin Andrea Fischer bei der Vermessungsarbeit am Gletscher.
© Fotocredit: Daniel Hinterramskogler

Es wird noch einige Jahrzehnte schlechter, bevor es wieder besser werden kann, meint Österreichs Wissenschaftlerin des Jahres, die Glaziologin Andrea Fischer. Wenn wir den Klimawandel aufhalten.


Die Gletscherforscherin Andrea Fischer ist Österreichs Wissenschaftlerin des Jahres. Diese Auszeichnung wird jedes Jahr vom Klub der Bildungs- und WissenschaftsjournalistInnen verliehen. Im Interview spricht die die Glaziologin mit der WZ darüber, was die Gletscherschmelze in den Alpen für diesen Lebensraum bedeutet, was sie als Wissenschaftlerin von Klimaaktivismus hält – und warum wir trotz allem nicht die Hoffnung aufgeben sollten.

WZ | Mathias Ziegler

Wie schlimm ist die Lage auf den Gletschern wirklich?

Andrea Fischer

Unsere Gletscher stehen vor dem Ende. In der Glaziologie der vergangenen Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte war so ein großflächiger Zerfall noch nie da. Uns schmilzt tatsächlich das Forschungsgebiet weg. Früher wusste man, dass es bei diesem oder jenem Gletscher einen außergewöhnlichen Prozess gibt – aber momentan passieren überall Dinge, mit denen man nicht gerechnet hätte. Schon der Sommer 2022 war schlimm, da sind teils binnen weniger Tage ganze Gletscherteile zerfallen. Im Sommer 2023 war zwar die Schmelze nicht so dramatisch wie im Jahr davor, aber durch die große Ausdünnung der vergangenen Jahre sind manche der 900 Gletscher, die wir in Österreich haben, in kürzester Zeit einfach verschwunden. Das sind rasante Prozesse, die in den Computermodellen noch nicht implementiert wurden.

WZ | Mathias Ziegler

Was bedeutet die Gletscherschmelze für die Alpen insgesamt?

Andrea Fischer

Die Auswirkungen auf das besiedelte Gebiet sind Gott sei Dank relativ gering. Direkt im Nahbereich der Gletscher kommt es momentan zu einer Häufung von Felsstürzen oder auch Murenabgängen. In gewissen vergletscherten Regionen dürfte sich großflächiger Steinschlag ereignen.

WZ | Mathias Ziegler

Was heißt das für den Alpintourismus?

Andrea Fischer

Da wird man sicherlich einige Wanderwege verlegen müssen. Ich denke, es wird auch gewisse Maßnahmen brauchen, vergleichbar mit dem Lawinenwarndienst. Hier geht es meist um wenige Wochen im Frühjahr, im Zuge der Schneeschmelze, und im Herbst, wenn es lange warm bleibt. In den nächsten Jahren sind instabilere Verhältnisse zu erwarten, die sich aber später wieder konsolidieren sollten.

Glaziologin Andrea Fischer hält einen Eiskristall.
„Uns schmilzt tatsächlich das Forschungsgebiet weg“, sagt Gletscherforscherin Andrea Fischer.
© Fotocredit: Andrea Fischer
WZ | Mathias Ziegler

Und die Hütten, deren Wasserversorgung von Gletschern abhängt?

Andrea Fischer

Prinzipiell liegen nur wenige Hütten in der unmittelbaren Umgebung der Gletscher. Das Niederschlagwasserthema ist natürlich für alle relevant, weil wir leider in den letzten beiden Jahren sehr wenige Winterniederschläge hatten. Gerade am Alpennordrand war es im Kalk schon immer ein Thema, dass einzelne trockene Jahre Probleme mit der Wasserversorgung gebracht haben. Am Alpenhauptkamm bei den sehr hoch gelegenen Hütten wird es in den nächsten Jahren noch sehr spannend werden.

WZ | Mathias Ziegler

Was bedeutet die Gletscherschmelze für Flora und Fauna?

Andrea Fischer

Glücklicherweise wird das eisfrei gewordene Terrain relativ rasch durch Pflanzen besiedelt. Wir haben schon nach drei Jahren fast zwanzig verschiedene Arten, und sogar in Gipfelnähe wachsen Blumen, das geht unglaublich schnell. Das hilft auch, den Boden etwas zu festigen und die Murengefahr etwas einzudämmen. Auch bei den Bäumen rechne ich damit, dass in zehn bis zwanzig Jahren dort wirklich wieder eine wunderbare Hochgebirgslandschaft entstehen kann. Gut sichtbar ist auch die Neubildung von Gletscherseen. Die weniger gut sichtbaren Effekte sind etwa eine Änderung der chemischen Vorgänge und der Ökologie in den Gewässern. Das erforschen wir gerade intensiver, weil das der Beginn der Nahrungskette ist und im Oberlauf von Fließgewässern freigesetzte Schwermetalle ebenso wie Änderungen im Temperaturregime und beim Nahrungsangebot sofort Auswirkungen auf den Unterlauf haben. Klimawandelbedingte Starkniederschläge oder Hochwasser werden uns als Menschen aber sicher stärker beschäftigen als der Gletscherschwund.

WZ | Mathias Ziegler

Trotzdem klingt neue Vegetation auf eisfreiem Terrain eigentlich nicht so schlecht.

Andrea Fischer

Prinzipiell ist es sehr erfreulich, dass unsere Ökosysteme in der Lage sind, sich rasch umzustellen. Man darf nicht vergessen, dass die Natur kein statisches Gleichgewicht kennt wie ein Gebäude, das man einmal betoniert, und dann steht es Jahrzehnte oder Jahrhunderte da, sondern sie lebt in einer Art Balance. Wärmeliebende Pflanzen verdrängen Kälteliebhaber nach oben, und die finden auf den einstigen Gletscherflächen Refugien, in denen sie sich wieder sehr rasch ausbreiten können. Allerdings schreitet der Klimawandel und damit die Erwärmung aktuell viel stärker voran, als es in den Modellen erwartet wurde, und die klimatologische Welt fragt sich: Ist das jetzt ein Ausreißer oder tatsächlich eine Art Klimasprung, wie es in der Vergangenheit schon mehrere gegeben hat? Und die große Frage ist, wie schnell sich ein funktionierendes Ökosystem darauf einstellen kann.

Glücklicherweise wird das eisfrei gewordene Terrain relativ rasch durch Pflanzen besiedelt.
Glaziologin Andrea Fischer, Österreichs Wissenschaftlerin des Jahres
WZ | Mathias Ziegler

Wenn Arten immer weiter nach oben verdrängt werden, ist dann irgendwann kein Raum mehr da, sodass Arten verloren gehen?

Andrea Fischer

Das ist denkbar. Aber das Schöne an den Gebirgen ist, dass sie ein Hotspot der Biodiversität mit sehr vielen Nischen sind. Irgendwo nordseitig gibt es immer noch kalte Schattenplätze, auch in einem sechs bis acht Grad wärmeren Szenario. Beim Bergsteigen kommt man von sehr kalten Stellen bis zu sehr heißen, wo die Bodentemperaturen von null Grad im Schneefeld bis zu 80 Grad auf dunklen Felsen divergieren. Diese Vielfalt wird uns helfen, mit dem Klimawandel umzugehen.

WZ | Mathias Ziegler

Sie geben die Hoffnung also noch nicht ganz auf? Sind unsere Gletscher denn noch zu retten? Könnten sie womöglich auch wieder wachsen?

Andrea Fischer

Ja, wenn wir das 1,5-Grad-Limit schaffen würden, wäre gegen Ende des Jahrhunderts eine Abkühlung möglich. Das würde aber bedeuten, dass sie verschwinden und sich dann wieder neu bilden. Es wird jetzt auf jeden Fall für mindestens dreißig Jahre schlechter, dann sind in den Ostalpen keine Gletscher mehr vorhanden. Gleichzeitig hofft man natürlich, dass sich die CO₂-Emissionen reduzieren und schön langsam eine Abkühlung in Gang kommt. Es ist noch nicht ganz klar, wie schnell die Neubildung von Eis vor sich gehen kann. Vor kurzem hat ein Kollege in Rom ein vergangenes Szenario präsentiert, wo sich innerhalb von sechzig bis achtzig Jahren die Gletscher neu gebildet haben und bis in die Täler herunter vorgestoßen sind.

WZ | Mathias Ziegler

Dazu müsste aber beim Klimaschutz mehr weitergehen, oder?

Andrea Fischer

Ich sehe es gar nicht so negativ. Der Gletscher denkt nicht in Jahren, eher in Jahrzehnten. Änderungen dauern Jahrtausende. Man darf jetzt nicht sofort die Geduld verlieren. Eine Transformation hin zu einer klimafreundlichen Gesellschaft muss nachhaltig sein – wir müssen alle Bevölkerungsteile mitnehmen, es muss einen Konsens über die Maßnahmen geben, der unseren Werten entspricht. Sie müssen gesellschaftlich, politisch, ökonomisch und sozial verträglich sein. Sonst haben wir schnelle Maßnahmen, die einschneidend sind, und das führt zu Widerstand, der letztlich die Maßnahmen wieder kippt, und das bringt uns nichts. Ich sehe, dass die Zeit drängt, weil das Klimasystem nicht ewig Luft hat, aber schon jedes halbe Grad, das man an Erwärmung spart, macht einen Riesenunterschied. Statt uns vor den Risiken zu fürchten, sollten wir uns auf die Chancen fokussieren.

Glaziologin Andrea Fischer sitzt in einer Eishöhle im Gletscher Außerfern.
Andrea Fischer an ihrem Arbeitsplatz.
© Fotocredit: Andrea Fischer
WZ | Mathias Ziegler

Wie stehen Sie als Wissenschaftlerin zu den Klimaklebern?

Andrea Fischer

Ich verstehe die Sorge und die Wut der jungen Menschen, die sich ihrer Zukunftschancen beraubt fühlen. Aber eigentlich brauchen wir Bewegung in eine positive Richtung und nicht Blockaden. Ich verstehe den Zugang der Klimakleber, aber ich glaube, es wird nicht der sein, der uns am meisten weiterbringt.

WZ | Mathias Ziegler

Wie kann man sich eigentlich einen typischen Arbeitstag im Gletscher vorstellen?

Andrea Fischer

Wir haben Routinearbeiten, wo wir um sechs Uhr früh losfahren für Massebilanzmessungen, also Pegel ins Eis reinbohren, verschiedene Pegel ablesen, über die gesamte Eisfläche gehen und am Abend wieder heimfahren. Dann gibt es Tage, wo wir Eiskerne bohren, wo wir mehrere Tage auf dem Eis campieren. Der Gletscher ist sehr selbstbestimmt, der gibt oft einmal vor, was gemacht wird. In den vergangenen zwei Jahren war es sehr oft der Fall, dass wir hingekommen sind und festgestellt haben: Aha, der Pegel ist gar nimmer da, sondern schon ausgeschmolzen; und dort drüben ist ein Teil kollabiert, da kann man jetzt gar nichts anderes mehr machen als einen Drohnenflug. Es wird zunehmend turbulent. Alltag gibt es keinen mehr, das war in den Neunzigerjahren – jetzt sind wir jeden Tag angehalten, uns neu zu erfinden und zu dokumentieren, was hier passiert.

WZ | Mathias Ziegler

Wie gefährlich ist die Arbeit im Gletscher?

Andrea Fischer

Wir sind sehr gut ausgebildet, und das Wissen hilft, mit potenziellen Risiken umzugehen. Es ist fast alles vorhersehbar; wie überall in den Bergen gibt es ein gewisses Restrisiko durch Unvorhersehbares, zum Beispiel Steinschlag. Vor dem Gletscher selbst fürchte ich mich nicht, weil ich da eine gewisse Nahbeziehung habe: Wir wissen gegenseitig, was wir vorhaben. Ich bin die letzten dreißig Jahre nie mehr in eine Gletscherspalte gefallen.

WZ | Mathias Ziegler

Das heißt, davor schon?

Andrea Fischer

Natürlich, ganz am Anfang, wenn man so jung auf den Gletscher geht, hat man noch nicht so das Gefühl oder das Wissen, um die Gegebenheiten einzuschätzen. Es ist aber auch nicht tragisch, in eine Gletscherspalte zu fallen, wenn man in einer gut ausgebildeten Seilschaft unterwegs ist.

WZ | Mathias Ziegler

Auf den Gletschern sind auch viele Skifahrer unterwegs. Damit gehen Eingriffe in die Landschaft einher. Wie schlimm ist das für die Gletscher?

Andrea Fischer

Nur 1,5 Prozent der österreichischen Gletscherfläche werden als Skigebiete genutzt, das ist also ein sehr geringer Anteil. Messungen haben gezeigt, dass die Befahrung ihnen nicht schadet. Der Schnee wird durch die Präparierung verfestigt und dadurch vom Wind nicht so leicht verblasen. Das heißt, mit den Pisten liegt sogar etwas mehr Schnee als ohne.

WZ | Mathias Ziegler

Das klingt ja sehr positiv.

Andrea Fischer

Naja, das Problem ist halt: Irgendwie muss man zum Gletscher hinkommen. Bei allen Arten von Tourismus ist die Anreise der Faktor mit der negativsten CO₂-Bilanz. Wenn wir zum Gletscher oder in ein anderes Skigebiet mit den Öffis anreisen, ist das fürs Klima günstiger, als mit dem Auto auf Skitour zu fahren und selbst hochzugehen. In den Skigebieten gibt es auch eine sehr gute Besucherlenkung, mit Sanitäranlagen und ausgebautem Skibusverkehr. Insofern ist für mich nicht ganz nachvollziehbar, warum die Gletscherskigebiete jetzt so in Verruf geraten sind. Sich jetzt in Sack und Asche zu hüllen und nie wieder auf Urlaub zu fahren, wird das Klimaproblem auch nicht lösen. Man kann selbst sehr viel tun, um die Bilanz zu verbessern. Zum Beispiel lieber einen längeren Urlaub als mehrere kurze, weil man da weniger Anreisen hat. Ich sehe in der Tourismusbranche, wie auch insgesamt in der ganzen Gesellschaft, das Bestreben zu mehr Nachhaltigkeit. Die Haupttreiber des Klimawandels sehe ich aber ohnehin weniger im Tourismus, sondern im Konsum und in der Vielzahl von Waren, die wir produzieren.

Ich sehe in der Tourismusbranche das Bestreben zu mehr Nachhaltigkeit.
Glaziologin Andrea Fischer
WZ | Mathias Ziegler

Fahren Sie selbst Ski?

Andrea Fischer

Ja. Ich bin sehr lange ausschließlich Skitouren gegangen, mit den Kindern jetzt eher Alpinski auf der Piste. Ich wohne direkt im Skigebiet, das macht es für mich relativ einfach.

WZ | Mathias Ziegler

Und wo machen Sie Urlaub: in den Bergen oder doch lieber am Meer?

Andrea Fischer

Ich war in den vergangenen Jahren immer in Österreich in den Bergen auf Urlaub, einfach weil ich keine Lust hatte, mich mit Urlaubsreiseverkehr herumzuschlagen. An und für sich fahre ich aber schon ganz gern ans Meer – das werde ich auch wieder tun, weil es als Glaziologin eine schöne Erholung ist. Aber ich genieße auch die Zeit in den Bergen.


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Infos und Quellen

Gesprächspartnerin

Seit 1994 verleiht der Klub der Bildungs- und WissenschaftsjournalistInnen die Ehrung „Österreichs Wissenschaftler:in des Jahres“. Der Preis wird an Forscher:innen vergeben für ihr Bemühen, ihr Fachgebiet einer breiten Öffentlichkeit verständlich zu machen. Heuer, zum 30-jährigen Jubiläum, ehrt das Gremium die 50-jährige Glaziologin Andrea Fischer. Geboren am 3. September 1973 in St. Johann in Tirol, wuchs sie in Salzburg auf und kam mit 17 Jahren – aus ihrer Sicht relativ spät – zum ersten Mal mit Gletschern in Berührung. Es war ein faszinierender Moment, der bei ihr stark nachwirkte. Seither, sagt sie, erlebt sie jedes Jahr viele solcher Momente bei ihrer Arbeit. Nach dem Studium der Physik und der Umweltsystemwissenschaften in Graz entdeckte sie den Beruf der Glaziologin, den sie als „faszinierende Schnittstelle zwischen Physik und Meteorologie und auch dem Bergsteigen“ beschreibt, bei dem anders als im Physiklabor „nicht irgendein Messgerät dazwischengeschaltet ist“. Es ist aber auch „ein totales Exotenfach“, für das es in ganz Österreich keinen einzigen Lehrstuhl gibt, und das man auch nicht studieren kann. Nach Tätigkeiten an den Universitäten Graz und Innsbruck ist sie nun Vizedirektorin des Instituts für Interdisziplinäre Gebirgsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, die es als eine ihrer Aufgaben sieht, gerade jenen Fächern eine Nische zu bieten, die das universitären System nicht abdeckt. Fischer selbst sieht es als ihren Auftrag, die Vorgänge rund um die Gletscher, die zuvor niemand beobachtet hat, einer breiten Bevölkerung zu vermitteln. Die nunmehrige Auszeichnung als Wissenschaftlerin des Jahres empfindet sie als Bestätigung, dass sie „auf dem richtigen Weg ist“.

Glaziologin Andrea Fischer erhält von Eva Stanzl, der Vorstandsvorsitzenden des Klubs der Bildungs- und WissenschaftsjournalistInnen Österreichs, die Auszeichnung als Wissenschaftlerin des Jahres.
Andrea Fischer (l.), Österreichs Wissenschaftlerin des Jahres, mit WZ-Redakteurin Eva Stanzl, der Vorstandsvorsitzenden des Klubs der Bildungs- und WissenschaftsjournalistInnen.
© Roland Ferrigato

Quellen

Das Thema in der Wiener Zeitung

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