Die Kosten für eine Beseitigung der Schäden liegen bei weit über 18 Milliarden US-Dollar. Im Interview spricht Rami Al-Azzeh von UNDAC, dem spezialisierten Katastrophenerkundungs- und Koordinierungsteam der UNO, über mögliche Nachkriegsszenarien.
Wie wirkt sich mehr als ein halbes Jahr Krieg auf den Alltag der Menschen und die Wirtschaft in Gaza aus?
Die Wirtschaft in Gaza ist zusammengebrochen. Was noch übrig ist, entspricht etwa zwanzig Prozent dessen, was es vor Beginn der israelischen Militäroperation gab. Die Menschen hungern. Das wenige, das es im Norden und Süden des Gazastreifens noch zu kaufen gibt, ist extrem teuer. Rund 80 Prozent der Bevölkerung in Gaza sind arbeitslos, mit Ausnahme jener, die in den verbliebenen Krankenhäusern und für humanitäre NGOs arbeiten.
Seit 2008 gab es eine Reihe von Militäroperationen der israelischen Armee in Gaza. Wie sehen Sie das Ausmaß früherer Zerstörungen im Vergleich zum aktuellen Krieg?
Bei der israelischen Militäroperation in Gaza 2014 wurden insgesamt rund 23.000 Gebäude beschädigt oder zerstört. Um das Ausmaß der Zerstörung im aktuellen Krieg zu erfassen, vergleicht die UN-Satellitenbilder von der jetzigen Situation in Gaza mit jenen aus der Zeit vor Beginn der Militäroperation. Die Aufnahmen zeigen, dass Ende Februar 2024 rund 90.000 Gebäude zerstört waren – etwa viermal so viele wie bei der Militäroperation 2014. Das entspricht 35 Prozent aller Gebäude im Gazastreifen. Und diese Zerstörung schreitet voran: jeden Tag, jede Stunde, jede Minute. Das Ausmaß der Zerstörung in Gaza ist also beispiellos.
Angesichts der massiven Zerstörungen, wie schätzen Sie die Kosten eines Wiederaufbaus des Gazastreifens ein?
Laut Schätzungen der Weltbank und der UN betragen die Kosten für den Wiederaufbau rund 18,5 Milliarden US-Dollar. Diese Zahl bezieht sich auf den Stand der Zerstörung Ende Jänner 2024. Die Verwüstung des Gazastreifens ist seitdem vorangeschritten. Die Zahl inkludiert auch nicht die Kosten für humanitäre Hilfe, die die Bewohner über Jahre hinweg erhalten müssen, bis in Gaza der Stand von vor Oktober 2023 wieder erreicht ist.
Es gibt Vorschläge für einen „Marshall-Plan“ zum Wiederaufbau Gazas. Wer könnte das finanzieren? Einige potenzielle Geldgeber zeigen sich ja noch zurückhaltend.
In Anbetracht dessen, dass Gaza in den vergangenen 17 Jahren in einem Teufelskreis aus Zerstörung und teilweisem Wiederaufbau gefangen war, ist es natürlich nachvollziehbar, dass Geldgeber zurückhaltend sind. Niemand will Geld nach Gaza pumpen, wenn in einigen Jahren erneut alles zerstört wird. Es braucht daher eine politische Lösung mit der Garantie, dass sich so etwas nicht wiederholt.
Welche Rahmenbedingungen müssen geschaffen werden, damit der Wiederaufbau beginnen kann?
Als allererstes braucht es einen dauerhaften Waffenstillstand, gefolgt von einem Abkommen, das Stabilität in der Region garantiert. Die internationale Gemeinschaft sollte daher einen politischen Prozess anstoßen, an dessen Ende die Zwei-Staaten-Lösung oder ein anderes Abkommen steht.
Als drittes muss die Blockade des Gazastreifens durch Israel aufgehoben werden, das aktuell auch die Einfuhr von Gütern aus Ägypten kontrolliert. Denn würde der Wiederaufbau so ablaufen, wie es nach dem Krieg 2014 der Fall war, mit all den Einschränkungen für die Einfuhr von Baumaterial, würde es Jahrzehnte dauern.
Weiters braucht es die Vereinigung des Westjordanlands und des Gazastreifens unter einer einzigen Verwaltung. Denn ohne starke Institutionen im Gazastreifen würde der Wiederaufbau nur langsam und ineffizient vonstatten gehen – was auch eine der Hauptsorgen potenzieller Geldgeber ist. Wenn diese Vorbedingungen erfüllt sind, gibt es durchaus Perspektiven für Gaza, wie die UN in einem Bericht von 2019 darlegte. Der Gazastreifen verfügt über ein großes Potenzial an Humankapital und küstennahe Ölvorkommen. Um das nutzen zu können, braucht es aber politische Stabilität und andauernden Frieden.
Wie lang könnte der Wiederaufbau Gazas dauern?
Es gibt zwei mögliche Szenarien: Im Best-Case-Szenario wächst Gazas Wirtschaft durchschnittlich um jährlich zehn Prozent. Dann könnte der Wiederaufbau bis zum Jahr 2037 abgeschlossen sein. Es würde also 13 Jahre dauern, bis Gaza wieder da ist, wo es vor der Militäroperation war. Und es ist schwer, ein Zehn-Prozent-Wachstum über Jahre hinweg aufrechtzuerhalten.
Im Worst-Case-Szenario machen wir dort weiter, wo wir vor der Militäroperation vom Oktober 2023 aufgehört haben: Gaza verharrt in einem Zyklus von Zerstörung und unzureichendem Wiederaufbau mit einer durchschnittlichen Wachstumsrate von 0,4 Prozent, wie wir es zwischen 2007 und 2022 hatten. Dann würde es bis zum Jahr 2092 dauern, bis Gaza wieder dort steht, wo es 2022 war. Wir sprechen hier von sieben Jahrzehnten.
Ich vermute, dass es irgendwo dazwischen liegen wird. Denn selbst wenn die Vorbedingungen erfüllt sind – ein dauerhafter Waffenstillstand, eine politische Lösung, das Ende der Blockade und eine gemeinsame Verwaltung –, wird es schwer sein, das skizzierte Best-Case Szenario zu erreichen.
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Infos und Quellen
Genese
UNDAC ist das Katastrophenerkundungs- und Koordinierungsteam der Vereinten Nationen. Mithilfe von Satellitenbildern, die den Gazastreifen vor und nach Beginn des Krieges zeigen, analysiert UNDAC das Ausmaß der Zerstörung. Für einen Artikel über die Auswirkungen des Krieges bot es sich daher für Autor Markus Schauta an, mit einem Mitarbeiter der UN-Organisation zu sprechen.
Gesprächspartner
Rami Al-Azzeh ist Referent für wirtschaftliche Angelegenheiten bei UNDAC. Er ist Co-Autor des im Jänner 2024 veröffentlichten UN-Reports über das Ausmaß der Zerstörung in Gaza.
Daten und Fakten
Israel hält den Gazastreifen seit Juni 1967 besetzt. 2005 löste Israel zwar seine Siedlungen auf und zog seine Armee ab, behielt aber dennoch die Kontrolle über den Luftraum des Gazastreifens und alle Land- und Seegrenzen, mit Ausnahme der zwölf Kilometer langen Grenze zu Ägypten.
Nach dem Angriff der Hamas auf Israel im Oktober 2023 griff die israelische Armee den Gazastreifen an. Im Krieg starben bisher mehr als 33.000 Palästinenser:innen, zwei Drittel davon Zivilist:innen. Ein Großteil der 2,2 Millionen Einwohner:innen des Küstenstreifens wurde nach UN-Angaben zu Binnenvertriebenen.
1,2 Millionen Flüchtlinge befinden sich zurzeit in der Stadt Rafah an der Grenze zu Ägypten. Für die Menschen ist es eine Sackgasse. Nach Ägypten ausreisen können sie nicht. Gleichzeitig bereitet die israelische Regierung eine Bodenoffensive in Rafah vor.