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Warum spielen keine Austro-Türken mehr für Österreich?

9 Min
Viele Söhne türkischer Zuwanderer werden schon im Kindesalter regelrecht „gedrillt“.
© Illustration: WZ, Bildquelle: Adobe Stock

Korkmaz, Kavlak, Pehlivan: In den 2000er-Jahren wurden türkischstämmige Österreicher zu Fußball-Nationalhelden. Fast 300.000 leben hier – doch derzeit spielt kein einziger für das ÖFB-Team. Woran liegt das?


„Ü-Ü-Ü-Ümit“, hallte es durchs Wiener Ernst-Happel-Stadion. Sommer 2008, die EM im Land, 50.000 Fans mit rot-weiß-roten Hüten und bemalten Wangen jubelten einem Mann zu: Ümit Korkmaz, Sohn türkischer Einwanderer. Ein wieselflinker Tempodribbler. Sein Spezialgebiet: Haken, Übersteiger. Die Menge johlte: „Ü-Ü-Ü-Ümit“. Fans gierten nach Spielern dieser Art. Das österreichische Nationalteam war damals kein Straßenfeger. Es gab wenige Talente, fast keine Kicker in Topligen. Doch dann keimte Hoffnung auf im Land. Einwandererkinder drängten in die Nationalmannschaft und belebten das Spiel. Darunter viele Söhne türkischer Migranten: Veli Kavlak, Yasin Pehlivan, Ekrem Dag, Ramazan Özcan, Ümit Korkmaz, die beinahe gleichzeitig für Österreich aufliefen.


Über 300.000 Menschen mit türkischem Migrationshintergrund leben aktuell im Land – viele davon sind extrem fußballbegeistert. Im ÖFB dachte man: der Trend türkischstämmiger Top-Kicker werde sich fortsetzen und gar verstärken. Doch das Gegenteil trat ein: Im Nationalteam spielt derzeit kein einziger. Auch bei den Bundesliga-Topteams sieht es nicht besser aus. Warum schaffen es nur noch so wenige Türkischstämmige ganz nach oben?

Ümit und der Müllmann

Ümit Korkmaz, der Fan-Liebling von 2008, ist heute 38 Jahre alt und in Fußballerpension. Er schaffte es in die Deutsche Bundesliga, war Meister mit Rapid Wien – und einer der ersten türkischstämmigen Stars im Land. Korkmaz müsste es wissen: Wie gelingt einem Einwandererkind der Durchbruch? Er sei durch Zufall entdeckt worden, erzählt er im WZ-Gespräch. Von einem Müllmann. Dem fiel Ümit im Fußballkäfig auf, er brachte ihn zu einem kleinen Verein – wo Rapid auf ihn aufmerksam wurde. Er habe bloß aus Freude Fußball gespielt, ohne Druck der Eltern – und dann etwas Glück gehabt, als der Müllwagen am Fußballkäfig hielt. Seine Mutter war Putzfrau, der Vater Lagerarbeiter; zu Hause seien sie „in Tränen ausgebrochen, weil ich in einem Monat so viel verdient habe wie meine Eltern in einem Jahr“.

Die nächsten Weltstars und tobende Väter

Erfolgsgeschichten wie jene von Korkmaz haben aber auch etwas verändert. Die WZ hat sich in der Branche umgehört, mit Akademie-Leitern, Nachwuchstrainern und türkischstämmigen Fußball-Insidern gesprochen. Der Tenor: Viele Einwanderer aus der Türkei sähen nun im Fußballgeschäft die große Chance auf ein besseres Leben – und den Millionen-Jackpot. Schon früh stünden ihre Kinder deshalb „extrem unter Druck“, wird erzählt. Eltern würden dabei oftmals davon ausgehen „den nächsten Weltstar zu Hause zu haben“, erzählt der Nachwuchschef eines heimischen Topklubs. Das verursacht Probleme. Trainer berichten von Vätern, die ihnen im Kabinengang auflauern, „weil der Sohn ausgewechselt worden ist, und fast eine Schlägerei anzetteln“.

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Ein Akademieleiter erzählt von einem Jungen, der durch den Dauer-Druck des Vaters die Freude am Spielen verlor – und schlussendlich den Verein verließ. „Ich könnte viele solcher Geschichten erzählen“, sagt einer. Viele Burschen würden in einer Zwickmühle stecken: Einerseits wollen sie den Wünschen der Eltern gerecht werden, andererseits verlieren sie dadurch die Lust am Kicken.

Nachwuchsakademien großer Vereine reagierten darauf. Bevor sie einen Burschen aufnehmen, überprüfen sie das Elternhaus. „Wenn du zwischen zwei gleich guten Spielern wählen musst“, erzählt der Nachwuchsleiter eines großen österreichischen Vereins, „dann nimmst du denjenigen, wo du am Ende weißt, dass du weniger Probleme haben wirst.“ Konflikte mit Eltern am Spielfeldrand werden nicht gern gesehen. Und: „Spieler, die von zu Hause Stress bekommen, haben nie Ruhe, sie können sich schwer entwickeln und bringen dem Verein schlussendlich nichts.“

Viele Söhne türkischer Zuwanderer würden schon im Kindesalter regelrecht „gedrillt“, berichten mehrere Trainer gegenüber der WZ. Die Eltern engagieren Berater, bezahlen teure Privattrainingseinheiten, erstellen Instagram-Profile. Das Ziel: Ihre Kinder sollen millionenschwere Stars werden. Tatsächlich finden sich in Wien zahlreiche Angebote für Individualcoachings. Etwa das Wiener „Fußball-Labor“. Kinder ab dem siebten Lebensjahr will man hier „mit Hilfe unserer Erfahrung auf die große Fußballwelt vorbereiten“, heißt es. Die Gründer Jürgen Csandl und Sertan Günes sind Coaches – und im Hauptberuf – Scout und Spielerberater für SBE Management.

Weltkarriere?

So betreut Günes (neben vielen anderen türkischstämmigen Spielern) etwa den 20-jährigen Yusuf Demir. Dieser galt als größtes österreichisches Talent der letzten Jahre, eine weltweite Transferaktie, die in internationalen Gazetten als „Austrian Messi“ gepriesen wurde. Sein Werdegang hat die Ambitionen türkischer Einwanderer noch verstärkt. Yusuf war schon als kleiner Junge ein auffälliges Talent. Technisch stark, trickreich; einer, der aus dem Nichts den Ball ins Kreuzeck zirkelt. Sein Vater Hasan, gebürtiger Türke, kam nach jedem Nachwuchs-Spiel mit einem Packen Visitenkarten von Beratern nach Hause – da war Yusuf gerade 13 Jahre alt.

Ich habe mich in der Türkei fremd gefühlt und war froh wieder in Wien zu sein
Ümit Korkmaz, Ex-Fußballer.

Yusuf Demirs Eltern kamen vor 20 Jahren als Gastarbeiter ins Land. Vater Kellner, Mutter Supermarkt-Angestellte, ein Leben im Gemeindebau. Der junge Yusuf konnte seine Familie nun zu reichen Leuten machen. In einem Interview betonte er früh, einmal Weltfußballer werden zu wollen. Bei Rapid dagegen versuchte man, ihn langsam zu entwickeln. Er finde die Praxis verwerflich, „16-jährige Buben zu den größten Talenten aller Zeiten“ hochzustilisieren, „nur um sie teuer verkaufen zu können“, kritisierte Rapid-Sportchef Zoran Barisic. Mit 18 wurde Demir tatsächlich vom großen FC Barcelona ausgeliehen, kurz darauf spielte er erstmals für Österreich. Es sah nach Weltkarriere aus. Doch die Kaufoption zogen die Spanier nicht. Retour bei Rapid wirkte der junge Bursch desillusioniert. Am liebsten würde Demir ganzen Tag mit dem Ball tänzeln – ohne das ganze Drumherum, heißt es. Doch das Geschäft ist, wie es ist. Für sechs Millionen Euro kaufte ihn Galatasaray Istanbul. Aktuell ist er an den FC Basel verliehen – wo er erneut auf der Ersatzbank sitzt.

Auch bei den Bundesliga-Topklubs keine türkischstämmigen Österreicher

Auffällig ist: Auch bei den fünf heimischen Top-Klubs spielen fast keine türkischstämmigen Österreicher. In den Bundesliga-Kadern von Austria Wien, RB Salzburg, Sturm Graz und dem LASK findet sich kein einziger. Immerhin bei Rapid Wien gelang dem 19-jährigen Furkan Dursun zuletzt der Sprung ins erweiterte Aufgebot. Je niedriger die Altersstufe, desto mehr Spieler mit türkischen Wurzeln finden sich in den Kadern. Je näher es Richtung Profi-Betrieb geht, desto weniger. Das hat mehrere Gründe, die beinahe alle WZ-Gesprächspartner ähnlich erklären. Früher verfielen Nachwuchsleiter regelmäßig in Euphorie: Wenn wieder einmal ein 14-jähriger Austro-Türke seine Alterskollegen blass aussehen ließ. Dann aber machte sich Ernüchterung breit: Viele erfüllten in späteren Jahrgängen die Erwartungen nicht. Man suchte nach Erklärungen und stellte fest: Viele seien körperlich Frühentwickler und durch privates Spezialtraining in jungen Jahren im Vorteil gegenüber Gleichaltrigen. Mit den Jahren aber verschwinde dieser. Längerfristig seien sie „nicht so oft stabil“, erzählen mehrere Trainer. In einer Akademie, so verrät ein involvierter Coach, habe man sich deshalb genauer angesehen, „wie der Output bei gewissen Spielern ist und welche förderungswürdig sind und welche nicht“.

Rettungsanker Türkei

Schaffen sie es hier nicht, wechseln viele früh und überstürzt ins Ausland, etwa in die Türkei. Das Land wirbt offensiv um talentierte Auslands-Türken. Ümit Korkmaz rät im WZ-Gespräch davon ab, allzu früh in die Heimat seiner Eltern zu wechseln. Er selbst ging als gestandener Spieler zu Rizespor – und war „von den Sitten“ überrascht. „Ich habe mich fremd gefühlt“, erzählt er. Trotz seiner türkischen Wurzeln sei er dort ein Ausländer geblieben. Als er damals im Frühstücksraum zu essen begann, wurde es um ihn herum ganz still. „Dann habe ich erfahren: Bevor der Kapitän nicht da ist, wird nicht gegessen.“ „Am Ende", sagt er, „war ich froh, wieder in Wien zu sein.“ Junge Spieler seien vom rauen Umgang schnell verschreckt, erzählt man in der Branche. Sie kehren dann reuig zurück, klopfen erneut bei heimischen Klubs an – doch dort kennt man ungeduldige Familien und lässt immer öfter die Finger davon. Wer es nicht nach oben schafft, spielt im Unterhaus weiter. In Wien gibt es sogar türkische Vereine: den FC Besiktas Wiener Adler oder den SC Anatolia.

Straßenfußballer vs. Pressing-Monster

Sertan Günes, Spielerberater und Individualcoach, erzählt gegenüber der WZ, dass er mehrere Generationen türkischstämmiger Nachwuchsspieler betreue. „90 Prozent sind technisch sehr versiert“, sagt er. Klassische Edeltechniker und Spielmacher. Einst hoffte man im österreichischen Fußballbetrieb genau auf solche Migrantenkinder, die alte Tugenden zurückbrächten, wie sie einst Straßenkicker wie Herbert Prohaska ausgezeichnet hatten. Doch dann wandelten sich die Anforderungen an Profifußballer im Land.

Viele verlassen sich zu sehr auf ihr Talent, den Ball und ihre Technik.
Sertan Günes, Spielerberater

Es geht nun weniger ums Spielen, sondern ums Laufen: bei den Bundesliga-Topteams – und im Nationalteam. Vor wenigen Tagen traf Österreich auf die Türkei (die mit Ballzauberern von Real Madrid, Inter Mailand und Juventus Turin angereist war). Endstand: 6:1. Österreich spielte kraftvoll, aggressiv, mutig, erfolgreich – aber – fast ohne Migrationshintergrund. Konrad Laimer, Xaver Schlager, Christoph Baumgartner, Michael Gregoritsch und Nicolas Seiwald kämpften, grätschten, pressten – und siegten. „Ich erkläre es den Jungs täglich“, sagt Spielerberater Günes, „ohne Athletik, Kampf, Laufen, gegen den Ball arbeiten, geht es nicht mehr. Viele verlassen sich zu sehr auf ihr Talent, den Ball und ihre Technik. Das ist der Grund, warum es so wenige Türkischstämmige in die Bundesliga schaffen.“

Serbische Wurzeln statt türkische

Eine Handvoll Jung-Kicker mit türkischen Wurzeln spielt in den ÖFB-Nachwuchsnationalmannschaften. „Sie dürfen aber nicht zu früh denken, dass sie es geschafft haben und sich in den Schaukelstuhl setzen“, sagt Korkmaz. „David Alaba wurde nicht von Bayern München verpflichtet, weil er der Schönste ist. Der Herr hat Leistung gebracht.“ In Deutschland ist Ilkay Gündogan (der Ex-Manchester-City-Star und aktuelle Barcelona-Kicker) Kapitän der Nationalmannschaft. Davor war Mesut Özil das Role-Model. Österreichs Fußball bildet Migration weiterhin ab – aber aus anderen Herkunftsländern. Die großen Stars der Nationalmannschaft waren und sind oft Balkanspieler: Arnautovic, Dragovic, Junuzovic, Vastic. Derzeit spielen viele mit nigerianischen, ghanaischen, serbischen, indischen und rumänischen Wurzeln im ÖFB-Nationalteam – aber keiner mit türkischen.

Die größte Chance, der nächste Korkmaz im Nationalteam zu werden, hat immer noch Yusuf Demir. In Basel spielt er nicht. Aber als er letztens für die U21-Nationalmannschaft eingewechselt wurde, wirkte er spielfreudig, im fast leeren Mini-Stadion des SV Ried. Kurz nachdem er aufs Feld gelaufen war, erzielte er prompt ein Tor – per Freistoß, so wie er es am liebsten macht: ein Kunstschuss, direkt ins Kreuzeck.


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Infos und Quellen

Genese

In der WZ-Redaktion tauchte die Frage auf: Warum liefen in den 2000er-Jahren noch fünf türkischstämmige Spieler für die österreichische Nationalmannschaft auf – und aktuell kein einziger? Autor Gerald Gossmann ging auf Spurensuche. Er sprach mit über einem Dutzend Personen: Akademie-Leitern, Nachwuchstrainern, Spielerberatern, Fußball-Insidern und türkischstämmigen (Ex-)Fußballern.

Gesprächspartner

  • Ümit Korkmaz, Fußballer und ehemaliger österreichischer Nationalteamspieler

  • Muhammed Akagündüz, Ex-Fußballer, Nationalspieler und aktuell Trainer

  • Akademie-Leiter von österreichischen Bundesliga-Klubs, Nachwuchstrainer, Funktionäre, Scouts und Spielerberater, die allesamt anonym bleiben wollen

  • Sertan Günes, Spielerberater und Individualcoach

Daten und Fakten

Türkischstämmige Spieler im österreichischen Nationalteam: 2002 lief der erste auf. Teamchef Hans Krankl schickte damals Volkan Kahraman aufs Feld. Wenig später folgte Muhammed Akagündüz. Insgesamt spielten elf Männer mit türkischen Wurzeln für Österreich: Neben Kahraman und Akagündüz auch Ümit Korkmaz, Cem Atan, Yüksel Sariyar, Ekrem Dag, Yasin Pehlivan, Veli Kavlak, Ramazan Özcan, Yusuf Demir und Ercan Kara. Am öftesten davon lief Veli Kavlak (31-mal) für das ÖFB-Team auf.

Die aktuell größten Stars der ÖFB-Nationalmannschaft haben Migrationshintergrund – aber keinen türkischen. David Alaba hat nigerianische und philippinische Wurzeln, Marko Arnautovic serbische. Vor allem Spieler aus den Balkan-Ländern erlangten in Österreich Kultstatus: Neben Arnautovic (111 Länderspiele) waren das Aleksandar Dragovic (100), Zlatko Junuzovic (55) oder Ivica Vastic (50). Derzeit dominieren Teamspieler mit afrikanischem Hintergrund (acht im aktuellen Kader): Tobias Okiki Lawal (nigerianische Abstammung), Kevin Danso (Eltern aus Ghana), Philipp Mwene (kenianische Abstammung), Junior Adamu (in Nigeria geboren), Thierno Ballo (Mutter aus Guinea, Vater Elfenbeinküste), Muhammed Cam (gambische Abstammung), Samson Baidoo (ghanaische Abstammung), David Alaba (nigerianische Abstammung).

Auch bei den fünf größten Klubs der österreichischen Bundesliga spielen beinahe keine Türkischstämmigen. Bei Austria Wien, RB Salzburg, LASK und Sturm Graz findet sich kein einziger im Bundesliga-Kader. Bei Rapid Wien ist es einer.

Dazu ist auffällig: Nicht nur türkischstämmige Spieler sucht man bei heimischen Topklubs vergeblich – es gibt auch keine Chef-Trainer, Sportdirektoren oder Akademieleiter im Topbereich. Vereinzelt tauchen sie in Nebenrollen auf: Veli Kavlak wurde gerade Co-Trainer beim U19-Nationalteam. Mehmet Sütcü trainiert interimistisch den Zweitligisten Vienna FC. Muhammed Akagündüz trainierte einst die Rapid-Amateure. Kurz hätte man 2017 im Verein überlegt, ihn zum Cheftrainer der Profis zu befördern. „Doch dann war Unruhe im Klub und man hat sich nicht drübergetraut“, erzählt Akagündüz gegenüber der WZ. Heute trainiert er in Deutschland einen Fünftligisten. „Vielleicht ergibt sich hier etwas.“

Quellen

Das Thema in anderen Medien