Schreien, erniedrigen und herumschubsen. Vor allem in der Pflege, im Tourismus und in der Gastronomie gibt es zahlreiche Vorfälle von psychischer und physischer Gewalt. Ein Lehrling hat uns seine Geschichte erzählt.
„Er war schon immer unangenehm und aggressiv, aber das war das erste Mal, dass er mich körperlich angefasst hat“, erzählt Luka über seinen Küchenchef. „Mir ging in dem Moment nur durch den Kopf: Was, wenn er mich jetzt schlägt oder würgt, wie wehre ich mich dann?“, sagt der 15-jährige Wiener im Gespräch mit der WZ.
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Luka ist zierlich und hat große blaue Augen. Ein Kind, denke ich mir. Was faktisch auch so ist. Der 15-Jährige hat im August 2023 seine Lehre zum Koch in einem Hotel in Wien begonnen und arbeitet seither im Schichtbetrieb. Ihm wird bald klar, in diesem Betrieb lernt er nichts. Wegen des Chefs. „Als Lehrling macht man in dem Hotel die Drecksarbeit. Ich lerne nichts für die Zukunft“, sagt Luka. Auf den 15-Jährigen soll es der Küchenchef speziell abgesehen haben. Er habe Luka bis heute nichts in der Küche gezeigt oder erklärt. Der Bursch wird überwiegend im Frühstücksservice eingeteilt, räumt Tische ab und vakuumiert Lebensmittel. „Er verbietet mir Dinge, die andere Lehrlinge machen dürfen. Er hat mir gesagt, dass ich in der Hauptküche nichts zu suchen habe“, erzählt Luka. Man brauche ihn nicht, es gebe dort keine Arbeit für ihn. „Das stimmt aber nicht, er will mich nur loswerden.“
Jeder dritte Lehrling wird bloßgestellt oder bedroht
Ein Vorgesetzter, der schnell wütend wird und schreit. Bei Fehlern tobt. Seine Stimmung an den Mitarbeiter:innen auslässt. Das kennen viele in der Arbeitswelt. Vor allem in der Gastronomie ist der Ton rau. Viel Stress, wenig Personal. Und mittendrin die Lehrlinge. Schreien, Schimpfen und Auslachen muss aber niemand hinnehmen. Verhalten wie diese gehören zu psychischer Gewalt. Gewalt, vor der insbesondere Kinder und Jugendliche geschützt werden müssen. Jeder dritte Lehrling in Österreich wird aktuell aber im Betrieb beleidigt, belästigt, bedroht oder bloßgestellt. Sexuelle Belästigung und körperliche Gewalt sind seltener, kommen aber immer wieder vor. So auch bei Luka. Er wurde schon oft angeschrien und erniedrigt, vom Küchenchef als „schwach“ bezeichnet, aufgefordert, abends länger zu arbeiten, obwohl die Maximalarbeitszeit und die Ruhezeit damit verletzt werden.
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Ab und zu führt Luka Schmäh mit einem Kollegen bei der Arbeit. Bis an diesem einen Tag der Chef neben ihm auftaucht. Der Koch-Lehrling fürchtet sich vor der Reaktion und beschließt, zu gehen. Da packt ihn sein Vorgesetzter am Nacken. „Es war nicht sehr fest, aber seinen Daumen hat er seitlich in meinen Hals reingedrückt. Das war sehr unangenehm“, sagt Luka. Der Küchenchef dreht den Burschen zu seinem Kollegen und fragt: „Ist das dein bester Freund?“ Luka bejaht das. „Ich habe versucht, meinen Körper locker zu lassen und mich auf einen Punkt vor mir im Raum konzentriert“, erzählt der 15-Jährige. „Ich habe das Adrenalin gespürt und bekam Panik, mir ging alles mögliche durch den Kopf, aber ich habe versucht, ruhig zu bleiben und keinen Widerstand zu leisten, damit es nicht noch schlimmer wird.“ Der Küchenchef schüttelt Luka, dreht ihn dann in Richtung seines Arbeitsplatzes und schubst ihn dorthin mit den Worten: „Konzentriere dich auf dich selbst und deine Arbeit.“
Zuhause erzählt Luka seiner Mutter und seinem großen Bruder von dem Vorfall. Daraufhin recherchiert Lukas Bruder, was man als Lehrling unternehmen kann. Sie gehen zur Polizei. Die sagt aber, sie könne nichts tun, da keine körperlichen Verletzungen nachweisbar sind. Ein Kollege sagt Luka zwar nach dem Vorfall, dass sein Nacken rot sei, Fotos hat der Bursch aber keine – und damit fehlen Beweise. Die Arbeiterkammer rät dem Koch-Lehrling, die Lehre nicht abzubrechen, sondern zu versuchen, die Filiale zu wechseln. Die Familie schreibt dem Hoteldirektor und der Zentrale einen Brief. Dann kommt es zu einem Termin mit dem Küchenchef, dem Direktor, Luka und seiner Mutter. Das Ergebnis: keine Entschuldigung. Kein Gespräch über den Vorfall. Der Direktor rät Luka, in eine Kochschule zu gehen und nicht in einem Betrieb zu arbeiten. Aber das will Luka nicht. Man bekomme dort viel weniger Geld und lerne nichts, sagt der Bursch. Seine Lehrer:innen in der Berufsschule bestätigen das. Bloß nicht die Lehre abbrechen. Immerhin gibt es die Aussicht, die Filiale zu wechseln und so dem Vorgesetzten zu entkommen.
Junge Arbeitnehmer:innen sind auf die Hilfe des Umfelds angewiesen
Junge Arbeitnehmer:innen lassen sich vieles gefallen, sagt Admir Bajric. Nach neun Jahren Schulpflicht liegt das Mindestalter in Österreich, um eine Lehre zu beginnen, bei 14 Jahren. „Junge Menschen wissen nicht, was die Grenzen sind. Was ihre Rechte sind. Sie sind oft schüchtern und haben ein geringes Selbstbewusstsein. Deshalb sind sie stark auf ihr Umfeld angewiesen“, sagt der Rechtsberater der Arbeiterkammer (AK). Freund:innen und Familie müssen wach und aufmerksam sein, denn es sei wichtig, so früh wie möglich zu handeln, so Bajric. Mit den Eltern oder mit einer Bezugsperson über die Situation zu sprechen, sei ein erster wichtiger Schritt, denn Außenstehende haben oft einen anderen Blick auf die Lage. Die meisten Lehrlinge kommen zu spät in die Beratung. „Da ist dann bereits sehr viel vorgefallen oder die Lehre schon abgebrochen“, sagt Bajric. Da sei es dann zwar nicht zu spät für eine Klage auf Schadensersatz, aber auch das dürfe man nicht unterschätzen: „Gerichtsverfahren gibt es eher selten. Sie bedeuten für die Betroffenen außerdem großen psychischen Stress und Druck“, sagt Bajric. Der Fokus der jungen Menschen liege nach dem Abbruch auf der Suche nach einer neuen Lehrstelle oder sie haben schon eine und sind da sehr eingespannt. Meistens laufe es nach Interventionen der AK auf eine einvernehmliche oder außergerichtliche Lösung hinaus.
„Junge Menschen ohne Ausbildung, aber mit psychischen Schäden”
Wer Probleme in der Arbeit hat, sollte rasch Kontakt mit der AK aufnehmen, sagt Admir Bajric. Das ist auch anonym möglich. Es gehe darum, abzuklären, ob ein Verhalten oder ein Vorfall normal ist oder nicht, und was ein Lehrling tun kann und was seine Rechte sind. Sollte es Handlungsbedarf geben, wird das Unternehmen von der AK kontaktiert und aufgefordert, seiner Fürsorgepflicht nachzukommen. Eine Art Mobbing-Tagebuch sei ebenfalls hilfreich, sagt der Berater. Zu protokollieren, wer wann was gesagt oder getan hat und wer noch dabei war. Auch Screenshots von Messenger-Nachrichten oder E-Mails helfen für die Beweislage. Einfach aushalten und durchducken ist keine gute Strategie. Viele Lehrlinge halten schlechte Verhältnisse am Arbeitsplatz viel zu lang aus und entwickeln nach der Ausbildung psychische Probleme. „Das ist schon tragisch, am Ende stehen junge Menschen ohne Ausbildung da und haben psychisch Schaden genommen“, sagt Bajric. Panikattacken und Essstörungen seien häufig Probleme bei Lehrlingen mit Gewalterfahrungen, so Bajric.
Man hat immer Schuld, man ist immer der Trottel.Luka, Koch-Lehrling in Wien
Bis heute arbeitet Luka in demselben Hotel unter demselben Küchenchef, der ihn angeschrien hat, erniedrigte und schubste. „Ich werde behandelt, als wäre ich kein Mitarbeiter, kein Lehrling, kein Mensch“, sagt der Bursche. „Als Lehrling hat man immer Schuld, man ist immer der Trottel.“ Auf eine Bewerbung in einem anderen Hotel bekam der 15-Jährige eine Absage.
Luka steht allein da. Vorfälle von Aggression und Gewalt gab es zahlreiche in dem Betrieb unter dem Küchenchef, aber niemand hat sich bisher beschwert. „Das ist das Problem“, sagt Luka. „Alle haben Angst. Keiner macht den Mund auf. Wenn einem nicht geglaubt wird, ist man noch mehr Zielscheibe“, sagt der Koch-Lehrling. Eine Lehrlingskollegin wurde in der Vergangenheit ebenfalls vom Küchenchef schikaniert. Das Mädchen ging zur Direktionsassistentin und zum Direktor. Die Auszubildende hat aber nicht die Arbeiterkammer oder die Zentrale kontaktiert. Sie habe ihre Lehre abgebrochen, erzählt Luka. „Man kann in dem Betrieb niemandem vertrauen“, sagt der Bursch resigniert. „Entweder man ist dort Opfer, oder der Chef manipuliert die Leute so, dass man mitmacht und Mittäter wird. Es herrscht so ein Druck, dass man sich entscheiden muss.“
Die Entscheidung, Koch zu werden, bereut Luka aber nicht. „Kochen macht mir wirklich großen Spaß.“ Der Bursch zeigt mir Fotos von Essen auf seinem Smartphone, das er in der Berufsschule zubereitet hat. Nockerl mit Paprikahendl, Topfendessert auf Fruchtspiegel und sein Lieblingsrezept: Knödel mit Wurzelgemüse und Hühnergeschnetzeltem. Luka strahlt. Er ist stolz. Im Lehrbetrieb hat er bis heute aber noch nichts gekocht.
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Infos und Quellen
Genese
Die Zahl der Beschwerden von Lehrlingen in Österreich hat zugenommen. Vereinzelt wurden sogar Fälle von Gewalt gemeldet. Beschwerden über psychische Gewalt nehmen ebenfalls zu. Dazu gehören auch Diskriminierung und Mobbing. Die Arbeiterkammer hat kürzlich den fünften Lehrlingsmonitor, eine regelmäßige Befragung von Lehrlingen, präsentiert. Viele Lehrlinge trauen sich nicht, Hilfe zu suchen, und wissen nicht, wohin sie sich wenden können. Die Folge ist der Abbruch der Lehre oder der Wechsel der Lehrstelle. Das betrifft vor allem Branchen mit Fachkräftemangel. Das hat WZ-Redakteurin Anja Stegmaier dazu veranlasst, mit betroffenen Lehrlingen über ihre Erfahrungen zu sprechen.
Gesprächspartner
Luka: Der 15-jährige Wiener heißt anders, möchte aber anonym bleiben. Der Schüler macht in einer österreichweiten Hotelgruppe mit 15 Hotels in Wien eine Lehre zum Koch.
Admir Bajric: Der Jurist ist Arbeitsrechtsberater bei der Arbeiterkammer Wien mit dem Schwerpunkt Lehrlings- und Jugendschutz.
Daten und Fakten
147 Rat auf Draht, Tel.: 147 – ohne Vorwahl rund um die Uhr, zum Nulltarif, 147@rataufdraht.at
Tipps für Probleme in der LehreDie Arbeiterkammer bietet in allen Bundesländern telefonische und persönliche Beratung an
Die Gleichbehandlungsanwaltschaft berät und unterstützt bei Diskriminierung. Kostenfrei, vertraulich und mit Dolmetscher:in. Gebührenfreie Hotline Mo-Do von 9-15 Uhr, Freitag von 9-12 Uhr, Tel: 0800 206 119.
Was ist Mobbing?
Wenn Du von jemandem oder mehreren aus der Gruppe, der du angehörst, immer wieder und über einen längeren Zeitraum systematisch durch schikanöse Handlungen herabgewürdigt wirst. Wenn immer mehr aus der Gruppe diese Schikanen gut finden und wenn du dadurch langsam, aber sicher aus der Gruppe gedrängt wirst und Schaden nimmst. Und wenn du allein aus der Situation nicht herauskommst.Was ist Bossing?
Mobbing wird als Bossing bezeichnet, wenn es von einer vorgesetzten Person ausgeht. Bossing gibt es auf der Arbeitsebene und auf persönlicher Ebene. Auf der Arbeitsebene kann eine vorgesetzte Person zum Beispiel schikanieren, indem sie die Ergebnisse der Mitarbeiter:innen manipuliert, sinnlose oder nicht zu bewältigende Aufgaben gibt, unsachlich und öffentlich Kritik übt, ständig bei der Arbeit kontrolliert oder notwendige Informationen oder Privilegien, die andere Kolleg:innen erhalten, entzieht.
Verleumdet die vorgesetzte Person die Mitarbeitenden, grenzt sie aus dem Team aus, unterstellt falsche Tatsachen oder macht den Mitarbeitenden vor Arbeitskolleg:innen schlecht, handelt es sich um persönliches Bossing.Zu den allgemeinen Kinderrechten gehören auch das Recht auf Schutz vor körperlicher oder seelischer Gewalt, das Recht auf Schutz vor sexueller Ausbeutung und das Recht auf Schutz vor wirtschaftlicher Ausbeutung (z. B. Verbot von Kinderarbeit). Die Kinderrechtekonvention gilt für alle Mädchen und Burschen, die noch nicht 18 Jahre alt sind.
1989 wurde die Kinder- und Jugendanwaltschaft in Österreich eingeführt. Österreich war nach Schweden, Finnland und Norwegen das vierte Land weltweit, in dem „die Anwendung von Gewalt und die Zufügung körperlichen oder seelischen Leides“ für unzulässig erklärt wurde.
AK Arbeitsbedingungen für Lehrlinge und Jugendschutz:
Wenn Lehrlinge jünger als 18 Jahre sind, darf ihre wöchentliche Arbeitszeit nicht über 40 Wochenstunden und acht Stunden am Tag liegen. Die Berufsschulzeit ist in die Arbeitszeit einzurechnen. An Sonn- und Feiertagen und in der Nacht (von 20 bis 6 Uhr) dürfen Lehrlinge ebenfalls nicht arbeiten. Nach Arbeitsende müssen Lehrlinge bis 15 Jahre 14 Stunden und Lehrlinge bis 18 Jahre 12 Stunden ununterbrochene Ruhezeit bis zum nächsten Arbeitsbeginn bekommen. Für Lehrlinge über 18 gilt eine Ruhezeit von elf Stunden.Ausnahmen: In der Zeit von 20 Uhr abends bis sechs Uhr früh Jugendliche über 16 Jahre zum Beispiel im Gastgewerbe bis 23 Uhr beschäftigt werden. Lehrlinge über 18 dürfen unter Einhaltung der wöchentlichen Arbeitszeitregelungen bzw. sonstiger Schutzbestimmungen auch im Nachtdienst eingesetzt werden.
Österreichischer Lehrlingsmonitor 2024:
Weibliche und diverse Lehrlinge sowie Menschen mit Migrationshintergrund sind psychisch stärker belastet.Frauen sind mit 40 Prozent häufiger von psychischer und physischer Gewalt in der Lehre betroffen als Männer (29 Prozent). Es betrifft außerdem besonders die Bereiche Pflege/Gesundheit/Medizin, Tourismus/Gastgewerbe/Hotellerie und Genussmittel/Ernährung.
Rund 34 Prozent der Lehrlinge in Österreich sind zumindest einmal oder mehrfach im Betrieb bereits beleidigt, belästigt, bedroht oder bloßgestellt worden.
Am häufigsten wurden konkret „Ungerechtfertigte Kritik“ bzw. „Schreien, Schimpfen“ genannt (jeweils 62 Prozent). Auch „Lächerlich machen“ oder die Abwertung der Arbeitsergebnisse kommen häufiger vor.
Zwölf Prozent berichten von sexueller Belästigung, zehn Prozent von der Androhung von Gewalt. Auch hier zeigt sich ein starker Geschlechterunterschied – Frauen sind häufiger von sexueller Belästigung betroffen, Männer häufiger von Gewaltandrohungen.
Mobbing geht am häufigsten von Kolleg:innen oder Vorgesetzten aus, ist also betriebsintern verursacht. Kund:innen sind eher selten die Mobbenden.
Quellen
Arbeiterkammer und ÖGB: Österreichischer Lehrlingsmonitor – 2024 Heft 5
Gewerkschaftsumfrage: Hälfte der Lehrlinge leidet an Depressionen und Essstörungen
AK-Informationsbroschüren:
„Rechte und Pflichten als Lehrling"
„Dein Recht als Lehrling"
Jugendliche am Arbeitsplatz: Was wirklich wichtig istBundesminister Kocher: Zusätzliches Zeichen gegen Belästigung und Gewalt in der Arbeitswelt
Das Thema in der WZ
Das Thema in anderen Medien
awblog,at: Fachräftemangel im Gastgewerbe
awblog.at: Lehre unattraktiv wegen schlechter Arbeitsbedingungen
moment.at: Lehre in Österreich: Illegale Überstunden, wenig Plan
standard.at: Welche Sorgen und Probleme Lehrlinge haben
kurier.at: Lehrlinge mehr als Wurstsemmelholer
blick.ch: „Meine Lehre hat mich traumatisiert"