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Die Zukunft wird indischer

4 Min
Elend und Fortschritt: In Indien stoßen Welten aufeinander.
© Illustration: WZ, Bildquelle: Getty Images

Auf dem Subkontinent schießen Innovationszentren aus der Erde, während gleichzeitig Millionen Menschen weiterhin in bitterster Armut leben.


Indien: Das ist ein Land, in dem die Kühe auch 2024 heilig sind. Wo sich Millionen Rikschas, Tuk-Tuks, Mofas und Fahrräder über holprige, unasphaltierte Straßen quälen. Die Züge sind überfüllt, Passagier:innen fahren auf dem Dach mit.

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Von den insgesamt 1,4 Milliarden Inder:innen sind immer noch 230 Millionen bitterarm. Das ist unübersehbar auf dem Land, aber auch in Zentren wie der Hauptstadt Neu-Delhi. In die Mittelschicht hat man es schon mit einem Jahreseinkommen von 1.000 Euro geschafft. Die Arbeitslosigkeit ist enorm, zuletzt haben sich zwölf Millionen Menschen für 35.000 Stellen bei der Bahn beworben. Daran dürfte sich auch in den kommenden Jahren nichts ändern.

Überbordende Bürokratie lähmt weite Bereiche des Geschäftslebens, die Korruption blüht. Alte Traditionen wiegen schwer, nur 20 Prozent der Inderinnen arbeiten, in China tun das 60 Prozent der Frauen. 2022 wurden die meisten Asylanträge in Österreich von Inderinnen gestellt, die aus Mangel an Perspektiven ihr Land verlassen haben.

Digitaler Alltag

Indien, das ist gleichzeitig ein Land mit einem Wirtschaftswachstum, das weltweit im Spitzenfeld rangiert. Der Subkontinent punktet im Dienstleistungsbereich, in der IT, bei Software, Finanzen und im Pharmabereich. Fast 53 Prozent der Bevölkerung sind unter 30 Jahre alt, jeder fünfte Erdenbürger unter 25 ist Inder:in. Die Jungen sind der Wirtschaftsmotor, in Städten wie Hyderabad schießen Innovationszentren und Start-ups nur so aus dem Boden.

Digitale Transaktionen sind längst überall üblich, dank „Unified Payment Interface“ (UPI) bezahlt man von der Tuk-Tuk-Fahrt bis zum Essen an der Straßen-Garküche alles mit dem Handy. Hier gibt es Multimilliardäre, manche werfen mit Geld auf beinahe obszöne Art um sich. Indien ist das Hoffnungsland vieler westlicher Wirtschaftstreibender, US-Ökonom:innen haben 2020 gar ein „indisches Jahrhundert“ prognostiziert.

Das Feuerwerk des Erfolgs und des Fortschritts wird durch die massive soziale Ungleichheit ausgetreten. Indien bestehe aus US-kalifornischen Inseln in einem Meer aus Subsahara-Afrika, schreiben die Experten Jean Dreze und Amartyna Sen in ihrem lesenswerten Buch „An Uncertain Glory: India and it's Contradictions". Der Befund ist jetzt zehn Jahre alt, doch hat sich die Lage nicht grundlegend verändert.

Griff nach den Sternen

Trotzdem strotzt Indien vor Selbstvertrauen. Den ehemaligen Kolonialherrn Großbritannien hat man wirtschaftlich längst überholt. Jetzt will der Hindu-nationalistische Premier Narendra Modi, der die Wahl aller Voraussicht nach gewinnen wird, das Land rasch als neue Supermacht hinter den USA und China zur drittgrößten Volkswirtschaft der Erde machen. Noch muss man sich mit Platz fünf hinter Deutschland und Japan begnügen.

Indiens Demokratie hat unter Modi eindeutig autoritäre Züge angenommen. Die Meinungsfreiheit ist massiv eingeschränkt, Medien stehen unter Druck. Die Zugehörigkeit zur Nation wird mit dem Hinduismus identifiziert, die 200 Millionen Muslim:innen im Land sehen sich an den Rand gedrängt.

Trotzdem wird Indien vom Westen hofiert. Hier will man ein strategisches Gegengewicht zu China schaffen, das in Washington und Brüssel als Konkurrent im globalen Spiel der Kräfte wahrgenommen wird. Indien blickt auf eine lange Tradition als blockfreier Staat zurück und lässt sich bis heute nicht vereinnahmen. So hat die Regierung in Mumbai den russischen Angriff auf die Ukraine nicht verurteilt.

Auch wenn der Aufstieg Indiens künftig kein kometenhafter ist: Sicher ist, dass die globale Zukunft mit Sicherheit indischer sein wird.


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Infos und Quellen

Genese

Fast eine Milliarde Inder:innen sind ab dem 19. April aufgerufen, ein neues Parlament zu wählen. Der Urnengang wird rund eineinhalb Monate dauern, anders wäre das Unterfangen in dem riesigen Subkontinent nicht zu schaffen. Die WZ nimmt die Wahl zum Anlass, um ein Land vorzustellen, das einerseits auf dem Weg zur Supermacht ist, in dem aber andererseits immer noch mittelalterliche Zustände herrschen.

Daten und Fakten

  • Kastenwesen: Heute sind alle durch das indische Kastenwesen bedingten Benachteiligungen gesetzlich verboten. Das hierarchische System ist aus dem Alltag aber nicht völlig verschwunden.

  • Der Hinduismus wird vor allem in Indien praktiziert und ist nach dem Christentum und dem Islam die drittgrößte Religionsgruppe weltweit. Zentral ist der Glaube, dass die Seelen aller Lebewesen nach ihrem Tod wiedergeboren werden.

  • Frauen-Gleichstellung: Frauen sind in Indien massiv diskriminiert, sexualisierte Gewalt ist an der Tagesordnung. Massiv benachteiligt sind sie in den Bereichen Beruf, Bildung, politische Beteiligung und Gesundheit.

  • Korruption ist in Indien ein Problem, in vielen Bereichen funktioniert ohne die Zahlung von Bestechungsgeldern nichts. Indien hat die höchste Bestechungsquote Asiens. Betroffen sind u. a. Gerichte, die Polizei, öffentliche Dienstleistungen.

  • Fläche und Einwohner: Mit einer Landesfläche von rund 3,3 Millionen Quadratkilometern ist Indien das siebtgrößte Lan der Welt. Die Bevölkerung beträgt mehr als 1,4 Milliarden Menschen. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei 67,7 Jahren. Das Durchschnittsalter in Indien beträgt knapp 28 Jahre.

Quellen

  • Jean Dreze und Amartyna Sen: „An Uncertain Glory: India and it's Contradictions", Princeton University Press

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