Sind die Grünen noch die Partei der Umweltbewegung? Und was bewirkt das Festkleben auf Straßen? Ein Gespräch zwischen Andreas Wabl, Gründungsmitglied der Grünen, und Klima-Aktivistin Martha Krumpeck, die zum Zeitpunkt des Gesprächs im Gefängnis ist.
Ich treffe Andreas Wabl vor dem Polizeianhaltezentrum (PAZ) an der Rossauer Lände im 9. Wiener Gemeindebezirk. Langer Mantel, bunter Schal, zerzauste Haare. Seine Mähne ist das Erkennungsmerkmal des Ex-Politikers. Wabl war Gründungsmitglied der Grünen und einer ihrer ersten acht Nationalsratsabgeordneten. Der 72-Jährige ist vielen mit umstrittenen Aktionen im Gedächtnis. Er schwenkte eine Hakenkreuzfahne im Parlament, um gegen Bundespräsident Kurt Waldheim zu protestieren, später zeigte er Jörg Haider den Mittelfinger, weil dieser ihn als „Wappler“ bezeichnete. Wabls politische Anfänge gehen zurück auf die Umweltbewegungen der 1970er-Jahre, wie die Demonstrationen gegen das AKW Zwentendorf Ende der 1970er.
Martha Krumpeck ist Gründungsmitglied der Letzten Generation. Die Bewegung ist die radikale Schwester der FridaysforFuture. Ihr Mittel ist der zivile Widerstand, das Ankleben auf der Straße. Seit kurzem betonieren sich die Aktivist:innen sogar fest. Aktuell sitzt die 31-Jährige jedoch im Gefängnis an der Rossauer Lände.
Krumpeck sitzt hinter einer Plexiglasscheibe ganz am Ende des grell beleuchteten Besucherraumes.
Wie geht es Ihnen?
Ich bin versorgt. Ich habe ein weiches Bett, bekomme drei Mahlzeiten am Tag. Die Leute hier sind nett. Wenn der Staat versucht, mich so klein zu bekommen, dann kann er das lange versuchen.
Warum sind Sie in Haft?
Ich sitze unbezahlte Verwaltungsstrafen ab, weil ich Versammlungsleiterin bei Demos war und ich trotz Aufforderung der Polizei nicht von der Straße weggegangen bin. Ich will die Menschen aufrütteln, das ist alles! Wir schlafwandeln über die Klimaklippen.
Gehen Sie wählen?
Als brave Staatsbürgerin gehe ich natürlich wählen.
Die Werte der Grünen und die Werte der aktuellen Klimaschutz-Bewegung sind sich sehr ähnlich. Trotzdem wählen viele junge Leute die Grünen nicht.
Ich kann es verstehen. In dieser Regierungsbeteiligung ist viel schiefgelaufen. Die ÖVP hat kein Interesse gezeigt, ihren Teil des Deals einzuhalten. Und die Grünen sind mitgegangen.
Andreas Wabl, Sie haben die Grünen mitgegründet, 40 Jahre später klingen die Protestrufe, Sorgen und Ängste wie damals. War die Plagerei umsonst?
Es hat sich auf jeden Fall gelohnt. Was wäre denn sonst groß passiert? Dass nichts passiert ist, ist eine Unterstellung. Aber ja, es ist wenig passiert. Wir werden wohl eine durchschnittliche Erhöhung der Erderwärmung um drei Grad bekommen. Das ist eine dramatische Situation!
Man muss sich mal überlegen, was drei Grad bedeuten! Das heißt in manchen Gegenden einen Temperaturanstieg von sechs Grad. Menschen im globalen Süden, aber auch Menschen im Süden der USA oder in Südeuropa werden sterben. Die Landwirtschaft wird uns nicht mehr versorgen können.
Herr Wabl, Sie haben Verständnis und Sympathie für die Bewegung, sind selbst protesterprobt. Warum kleben Sie sich nicht am Ring fest?
Wenn Martha Krumpeck mir verspricht, dass sie sich in meinem Alter noch anpickt, bin ich sofort dabei.
Ich weiß nicht, ob ich überhaupt so alt werde, das kann ich nicht versprechen. Wer mag, kann sich bei unseren Aktionen aber auch auf einen Sessel setzen.
Wo sehen Sie sich selbst in fünf oder zehn Jahren? Einfach weitermachen mit den Klebe-Aktionen?
Es ist vorstellbar, dass ich in die Politik gehe. Ich kann mir aber nicht vorstellen, mich in Grundrechts- und Überlebensfragen an eine Parteilinie zu halten. Ich bin bei vielen Menschen verhasst. Mit mir würde man als Partei nicht viel gewinnen. Ich bin seit kurzem nicht mehr Teil des Kernteams bei der Letzten Generation, aber ich bleibe Teil der Bewegung und berate das Kernteam weiter.
Sie waren erst bei FridaysforFuture, haben dann die Letzte Generation mitgegründet. Aktuell ändert sich die Strategie. Es gibt viel Frustration. Besteht die Gefahr zur Radikalisierung?
Proteste, die noch weniger zu ignorieren sind, sind möglich. Wir werden aber immer gewaltfrei bleiben. Wir stecken als Bewegung nicht in der Krise. Unser Überleben steckt in der Krise. Dass wir nun zu schwereren Mitteln greifen, ist die geplante und logische Eskalation.
Wie soll es weitergehen mit der Bewegung? Wollt Ihr eine Partei gründen?
Wozu? Wir würden nur jenen Stimmen wegnehmen, die weniger deppert agieren als die anderen.
Was muss passieren, damit die Grünen politische Heimat für die Bewegung werden kann?
Offenheit. Ehrlichkeit. Und nicht in Nibelungentreue mit der ÖVP mitgehen. Es muss möglich sein, zu sagen, die ÖVP hat den Deal nicht eingehalten. Macht den Mund auf. Sagt den Leuten, was passiert. Sagt, woran und an wem Dinge scheitern, und kommuniziert die Erfolge. Es wurden etwa neue fossile Subventionen ohne Bedingungen und Protest der Grünen abgesegnet.
Martha Krumpeck appelliert durch die Glasscheibe an Andreas Wabl. Dieser zuckt mit den Schultern und murmelt: „Was soll ich tun, ich bin ja nicht in der Regierung.“
Das sind auch meine Kritikpunkte an den Regierungsmitgliedern. Sie müssen klarmachen, warum die Dinge nicht so passieren, wie sie sollen. Wenn die ÖVP bremst oder verhindert, muss das öffentlich ganz klar gesagt werden. Das ist die wichtigste Frage in der Demokratie: Transparenz. Man kann mit 14 Prozent nicht mehr durchsetzen, aber man muss klar Position beziehen.
Die Grünen distanzieren sich von der Letzten Generation. Ist das nicht eigenartig? Distanzieren sie sich damit nicht von ihren eigenen Werten, ihrer Vergangenheit und Gründungsgeschichte?
Die Regierungsmannschaft distanziert sich von bestimmten Mitteln und Methoden der Aktivist:innen. Ein grünes Regierungsmitglied muss aber Verständnis für die Maßnahmen haben, die diese Jungen setzen. Da mag das eine oder andere Instrument nicht ideal sein, aber so ist das in einer Demokratie. Leonore Gewessler hat gesagt, das muss eine Demokratie aushalten. Das klingt nicht nach Distanzierung.
Die Grünen sind in der Regierung und gehören zum Establishment. Aber ohne sie wäre vieles, was euch wichtig ist, nicht erreicht worden. Ist das nicht ein Erfolg?
Ja, viele Dinge wurden erreicht. Aber im Kleinen. Dieses eine AKW wurde nicht gebaut, auf die Kraftwerke wurden Filter gesetzt, aber das große Ganze, der Klimaschutz, wurde in Österreich lang nicht ernsthaft angegangen. Es wurde immer gesagt, wir sind so gut und toll und haben uns viel zu lang auf den Wasserkraftwerken ausgeruht. Warum haben wir immer noch kein Klimaschutzgesetz? Alles in diese Richtung wird verwässert. Das liegt nicht an den Grünen, aber sie lassen zu, dass die ÖVP mit ihnen Schlitten fährt.
Wenn ihr keine Partei gründen und euch nicht bei den Grünen engagieren wollt, besteht nicht die Gefahr, dass eure Anliegen niemand politisch vertritt?
Man soll uns nicht mögen.Martha Krumpeck
Wir gehen absichtlich nicht den Weg der Popularität. Man soll uns nicht mögen. Wir wollen die Grünen nicht spalten. Die Grünen haben den Mühlstein der Koalition um den Hals und werden absaufen. Wir müssen mit den Politiker:innen arbeiten, die wir haben. Wir haben keine Zeit mehr.
Herr Wabl, Sie haben schon viele Bewegungen kommen und gehen sehen. Was glauben Sie, wie es mit der Klimaschutz-Bewegung weitergeht?
Ich halte es für einen großen Fehler, wenn die Bewegung streitet. Ich habe auch mit Bedauern festgestellt, dass Lena Schilling der Greta Thunberg Antisemitismus vorwirft. Die Bewegung darf sich nicht spalten lassen.
Wie stehen Sie zum Nahost-Konflikt?
Es ist sehr schwer, sich dazu zu äußern. Bei den Fridays haben einige Leute auch Dinge gesagt, die nicht in Ordnung sind. Aber Greta Antisemitismus vorzuwerfen, geht zu weit. Unser Anliegen ist das Überleben der Menschheit. Wir müssen nicht zu allem unseren Senf abgeben. Der Terror der Hamas ist nicht zu entschuldigen. Die Hamas tötet Unschuldige. Das rechtfertigt aber auch nicht, Unschuldige totzubomben.
Herr Wabl, die Grünen stehen bei acht Prozent. Verschwindet die Partei wieder in der Opposition?
Die entscheidende Frage wird sein: Gelingt es Kogler und Co, zu rechtfertigen, wie sie vorgegangen sind? Schaffen sie es, zu vermitteln, dass sie künftig noch mehr erreichen werden, wenn die Zustimmung am Wahltag größer ist? Eine Frage ist auch, ob sie schon ermüdet sind, durch das Hamsterrad namens Regierung. Durch das Bohren der Betonplatten, die die ÖVP vorlegt. Es muss ihnen gelingen, ihre eigene Wählerschaft wiederzugewinnen. Und zusätzlich 20 Prozent und mehr, die der Meinung sind, die Klimafrage ist die wichtigste unserer Zeit. Da geht es auch um Stimmung, nicht nur um sachliche Argumente.
Frau Krumpeck, es gibt eine Studie, die sagt, es braucht 3,5 Prozent der Bevölkerung, die auf die Straße geht, damit eine Regierung kippt. Also 300.000 Menschen in Österreich. 100.000 waren es schon ein paar Mal bei euren Protesten, aber vielleicht schafft ihr das ja mal…
Man darf sich bei dieser These nicht auf die reinen Zahlen versteifen! Es braucht Menschen, die engagiert mitarbeiten und nicht nur mal bei einer Demo dabei sind. Es geht vielmehr darum, Themen zu platzieren. Etwa die Forderung von Tempo 100 auf den Autobahnen.
Ich finde Tempo 100 klug. Das hätte niemandem wehgetan. Im Parlament gibt es dafür aber keine Mehrheit. Mein Rat wäre, bei solchen Anliegen Volksabstimmungen abzuhalten
Eine Volksabstimmung im Anschluss an einen Bürgerrat kann ich mir vorstellen. Wichtig ist, dass die Bürger:innen gut informiert sind. Es gibt so viel Missinformation. Wenn es nur ein Kreuz bei Ja oder Nein ist, wie beim Minarettverbot in der Schweiz, dann kommt dabei nichts Gutes heraus. Ich halte den Klimarat für eine intelligente Lösung. Dessen Ergebnisse liegen seit Sommer 2022 am Tisch. Die ÖVP will davon jedoch nichts wissen. Dass die Grünen beim Totschweigen mithelfen, verstehe ich nicht.
Wollt Ihr das Parlament abschaffen?Andreas Wabl
Die Grünen kommunizieren nicht gut. Wenn man Abstimmungen fordert, tun sich Abgeordnete leichter, sich klar zu positionieren. Wenn ich an diese Instrumente nicht glaube, kommt der gewaltvolle Widerstand. Karl Nehammer will die Flex ja jetzt schon auspacken. Das kann bitter ausgehen. Der Klimarat ist ja nur eine Meinungsumfrage, ein demokratiepolitisches Beiwerk, kein Instrument. Wollt ihr das Parlament abschaffen?
Der Klimarat soll bitte nicht das Parlament ersetzen. Der Vorteil an Bürger:innenräten ist, dass man damit langfristige Zukunftsentscheidungen treffen kann. Politiker:innen denken immer nur an die nächste Wahl.
Wabl hält beim Stichwort „Flex“ die Kronenzeitung hoch, die er mitgebracht hat. Am Titelblatt steht „Neue Dienstausrüstung für die Polizei: Mit Flex gegen die Klimakleber“. Krumpeck verdreht die Augen. Ein Polizeibeamter taucht hinter Martha Krumpeck auf und zeigt auf die Uhr. Ein Besuch darf offiziell eine halbe Stunde dauern.
Haben Sie Hoffnung?
Ich fühle mich wie im Film „Don’t look up“. Wir folgen dieser Plotline. Ich bin ein realistischer Mensch. Ich schaue, was möglich ist, was realistisch ist. Die Forschung sagt, es ist noch nicht zu spät.
Wabl nimmt den Telefonhörer an sich: „Es hat mich gefreut, alles Gute.“ „Es hat mich auch gefreut“, sagt Krumpeck. „Ich hab‘ nur die Kronenzeitung da, die wollen Sie wahrscheinlich nicht haben, oder?“, fragt Wabl. „Ich nehme, was ich kriegen kann“, sagt Krumpeck.
Nachsatz: Martha Krumpeck hat ihre Ersatzhaft am 13. November 2023 angetreten. Ihr Entlassungsdatum wurde zwei Mal verschoben. Die Aktivistin sitzt bis Weihnachten im Gefängnis.
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Infos und Quellen
Genese
Das Grünen-Urgestein Andreas Wabl hat mit dem Journalisten Stephan Wabl vor kurzem das Buch „Was wurde aus den Grünen?“ veröffentlicht. Der Ex-Politiker hat sich darin mit ehemaligen Weggefährt:innen Gedanken über die Vergangenheit und die Zukunft der Partei gemacht, bei der der 72-Jährige nach wie vor Mitglied ist. Eine der Fragen lautet, ob die Partei noch Verbündete der Leute auf der Straße ist. Also Ohr und Stimme jener vielen jungen Menschen, die aktuell für den Klima- und Umweltschutz demonstrieren. Das war früher selbstverständlich so – heute jedoch nicht mehr. Deshalb habe ich Andreas Wabl zu einem Gespräch mit Martha Krumpeck gebeten. Die 31-Jährige ist Gründungsmitglied der Letzten Generation und war davor auch schon bei FridaysforFuture Klima-Aktivistin.
Anja Stegmaier ist mit dem Autor Stephan Wabl liiert.
Gesprächspartner:innen
Andreas Wabl, Gründungsmitglied der Grünen und ehemaliger Nationalratsabgeordneter
Martha Krumpeck, Klima-Aktivistin bei der Letzten Generation
Daten und Fakten
Quellen
Buch von Andreas Wabl und Stephan Wabl: Was wurde aus den Grünen?
Website: "Letzte Generation"
Die 3,5-Prozent-Regel von Erica Chenoweth und Kolleg:innen hier zusammengefasst
Das Thema in anderen Medien
Zeit online: Wer blockiert den Klimaschutz?
Kleine Zeitung: Krumpeck bleibt in Haft und wendet sich von "Letzter Generation" ab
Der Standard: Teil des Führungsteams der Letzten Generation zog sich zurück
Falter Radio: Was wird aus den Grünen?