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Kokain, Armut, Suizid und eine Ehefrau, die es nicht richtig machen kann. Die Haftbefehl-Dokumentation hittet anders, finden Redakteurinnen Eva Sager und Aleksandra Tulej.
„Hast du schon die Hafti-Doku geschaut?“ – „Ja, ich muss erstmal drauf klarkommen“. Gespräche dieser Art haben wir in den letzten Tagen in unserem Umfeld zuhauf geführt. Aber warum eigentlich? Dass Rapper, die über Drogen rappen, Drogen nehmen, ist nichts neues. Dass Hip-Hop in prekären Verhältnissen entsteht, nicht. Dass Menschen, die im Rampenlicht stehen, oft nicht damit klarkommen (können), haben wir auch schon gesehen.
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Trotzdem: Diese Dokumentation hittet anders. Wir haben uns gefragt, warum.
„Ich war schon tot“
Das Denkmal, das sich Deutschlands wohl wichtigster Rapper Haftbefehl gebaut hat, schimmert schwarz und golden. 92 Minuten ist es lang, durchzogen von wummernden Bässen und dröhnender Stille. Zu Beginn ist da nur ein dunkelgrauer Stuhl und die Frage: „Aykut, wie geht es dir?“ Kurze Pause, kurzes Lächeln, Zigarettenrauch, wippendes Knie. „Wie es mir geht? Mir geht's gut, Brudi. Ich war in Therapie. Ganz ehrlich: Ich wär‘ gestorben, wenn ich „da“ nicht reingegangen wäre. Ich war schon tot.“
Mit da meint Aykut Anhan alias Haftbefehl eine Entzugsklinik. Zwei Jahre haben ihn Kameras für die die Netflix-Dokumentation „Haftbefehl – Die Babo Story“ begleitet. Sie zeigt seinen Aufstieg, seinen Höhenflug, seinen Fall und das erschütternd ehrlich. Schließlich sieht der Haftbefehl, der sich zu Beginn der Doku, also Ende 2024, auf dem dunkelgrauen Stuhl eine Zigarette anzündet, ganz anders aus als der von den Fotos. Aufgequollenes Gesicht, eingefallene Nase, ständiges röcheln. Es sind die sichtbaren Wunden seiner jahrzehntelangen Kokainabhängigkeit.
Ich war schon tot.Haftbefehl
Auch darum geht es in der Doku, aber eben nicht nur. Die Geschichte von Haftbefehl ist eine komplexere. In ihr geht es um Selbstzerstörung, generationale Traumata und den Versuch, wieder Halt zu finden. Sie erzählt von Ruhm und Absturz, Abhängigkeit und Überleben. Von Frauen, die alles zusammenhalten müssen. Von Vätern, die nicht da sind. Von einem Kind, das den Suizidversuch eines Elternteils miterlebt, und am nächsten Morgen in die Schule geht, als ob nichts gewesen wäre.
A propos Schule: Haftbefehls Texte werden vor allem in jungen migrantischen Milieus aufgegriffen, er hat die Sprache aus dem Offenbacher Plattenbau in den Mainstream gebracht, wird von vielen als Vorbild gefeiert. Dass Haftbefehl für viele Jugendliche mehr ist als ein Rapper, zeigt auch der Vorstoß des Stadtschüler:innenrats in Offenbach, der Stadt, aus der er ursprünglich kommt. Die Jugendlichen fordern, dass die Musik und Leben des Rappers im Unterricht thematisiert werden. Das hessische Kulturministerium hat den Vorschlag jedoch abgelehnt – er sei zu kontrovers und das passe nicht in den Lehrplan.
Eine Gesellschaft schaut zu
Die „Haftbefehl-Story“ ist aber bei weitem kein Einzelschicksal. In ihr geht es nicht nur um den Niedergang eines Mannes, sondern vor allem um die Gesellschaft, die diesen Niedergang zulässt. Es ist eine Geschichte von Rassismus und Klasse, von Armut und Abhängigkeit. Eine Geschichte, die die Musikindustrie für massenweise Geld in Kauf genommen hat. Eine Geschichte, in der der Main Character eben nicht immer schon der Main Character war.
Aykut Anhan wächst in einer Hochhaussiedlung in Offenbach auf. „Ich habe meine Kindheit auf den Straßen verbracht. Ich war ein Straßenjunge.“ Mit 13 nimmt er das erste Mal Kokain, geht nicht zur Schule, sondern auf den Marktplatz, um mit Drogen zu dealen. Als sein Vater versucht sich selbst zu strangulieren, kann er ihn aufhalten. Die ganze Nacht sitzt er im Hausflur vor der Schlafzimmertüre seiner Eltern, weil er Angst hat, dass sein Papa sterben könnte. Am nächsten Tag geht er zur Schule, als wäre nichts gewesen. Wenig später begeht sein Vater Suizid.
Unsere Gesellschaft hat Aykut Anhan als Kind an den Rand gedrängt und ihn später als Haftbefehl in gutbürgerlichen Kulturressorts dafür verhöhnt. Mit dieser Dokumentation zwingt er nun jeden hinzusehen, in all seiner Widersprüchlichkeit, in all seiner Tragik.
Es ist eine Geschichte, die ständig wissen will, wie viel Ehrlichkeit wir noch aushalten. Und einem Künstler, der sagt: „Ihr wollt mich sehen? Hier bin ich.“ Aber „hier“ ist nicht nur Aykut.
„Das ist noch eine loyale Frau!“
Tolles Haus, viele Autos, großer Reichtum, aber eine totale Leere: Und mittendrin Nina Anhan, Haftbefehls Ehefrau. Sie leidet im Hintergrund und gibt der Geschichte des Rap-Stars damit eine zweite, stille Ebene: Die der Frauen, die nicht auf der Bühne, sondern dahinter stattfindet. Die sich kümmern, Scherben aufsammeln, verzeihen, bleiben.
Nina spricht ruhig, aber spürbar erschöpft über ihr Leben, davon, oft alleine mit den Kindern zu sein, während ihr Mann im „Haftbefehl-Modus“ verschwindet. Wir sehen Szenen, in denen er wieder einmal, obwohl vereinbart, nicht da ist, oder sichtlich high. Nina sagt, sie liebe den Menschen Aykut, aber nicht den Künstler Haftbefehl. In ihren Worten liegt Resignation – als würde sie versuchen, einen Mann festzuhalten, der immer wieder aus ihrem Leben driftet.
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Derweil füllt sich die TikTok-For-You-Page mit Takes von mehrheitlich jungen Männern, die die Beziehung mit einem Suchtkranken romantisieren. „Das ist noch eine loyale Frau, die zu ihrem Mann steht!“, liest man. „Durch Dick und Dünn, eine Heldin, so eine Frau findet man heutzutage kaum mehr.“ Was dabei ausgeblendet wird, ist der Preis, den sie dafür trägt. Wer Nina Anhans Verhalten als reine Loyalität feiert, blendet aus, wie komplex und belastend eine Beziehung mit einem suchtkranken Partner ist. Die oft zitierte Gegenfrage – „Aber sie hätte doch gehen können“ – greift zu kurz: Abhängigkeit erzeugt nicht nur körperliche, sondern auch emotionale Bindungen: Loyalität wird zum Überlebensmechanismus. Es geht weniger um die Entscheidung zu bleiben, als um die Unmöglichkeit, wirklich loszulassen, solange Hoffnung auf Besserung besteht. Und auch das ist kein Einzelschicksal. Deshalb müssen Geschichten wie diese erzählt werden – mit all ihren Tiefen.
Die Doku schlägt Wellen, weil sich viele darin wiederfinden. Haftbefehl veröffentlicht in seiner Instagram-Story Nachrichten von Fans, die ihm schreiben, dass „sie nicht gewusst haben, was Koks anrichten kann und jetzt die Finger davon lassen“. Von jungen Menschen, die ihm erzählen, „dass mein Vater auch depressiv ist“ und sie „ihn jetzt zwingen, sich Hilfe zu holen.“
Haftbefehl ist und war schon immer eine Projektionsfläche. Eine Identifikationsfigur, die nun die ungeschönte Tragik seiner Lebenssituation schonungslos mitfilmen lässt.
Das ist eben viel mehr als „einfach wieder eine Rapper-Doku“. Es ist ein Denkmal.
Du bist in einer verzweifelten Lebenssituation und brauchst Hilfe? Hol sie dir: Hier findest du Erste-Hilfe-Tipps, Notfallkontakte und Hilfsangebote in deinem Bundesland sowie weiterführende Informationen zur Bewältigung dieser Notsituation. Hier findest du Infos zu ambulanten und stationären Einrichtungen, die Unterstützung rund um Abhängigkeit bzw. Sucht anbieten. Auch die Telefon-Seelsorge unter der Rufnummer 142, Rat auf Draht für Kinder und Jugendliche unter der Telefonnummer 147 und die Ö3-Kummernummer unter 116 123 helfen weiter.
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Infos und Quellen
Daten und Fakten
- Haftbefehl, mit bürgerlichem Namen Aykut Anhan, wurde 1985 in Offenbach am Main geboren. Er ist ein deutscher Rapper mit kurdisch-türkischen Wurzeln und zählt zu den prägenden Figuren des deutschen Hip-Hops.
Quellen
- Netflix: Babo - Die Haftbefehl-Story
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