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Der von Israel getötete Anführer der libanesischen Miliz, Hassan Nasrallah, könnte deren Schicksal besiegelt haben.
Der blutige Angriff der Hamas auf den Süden Israels am 7. Oktober 2023 hat eine Eskalationsspirale in Gang gesetzt, die bis heute kein Ende findet. Einen Tag nach dem Massaker eröffnete die Hisbollah eine zweite Front gegen Israel – aus Solidarität zur Hamas, wie sie sagt.
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Am 30. September 2024 überschritten israelische Streitkräfte die Grenze zum Libanon und starteten eine Bodenoffensive. Der Operation war ein monatelanges Bombardement der Hisbollah-Hochburgen vorangegangen, bei dem Israel gezielt große Teile der Führungsriege der Miliz ausgeschaltet hatte.
Beobachter:innen meinen, dass der langjährige Anführer der Miliz, Hassan Nasrallah, sich verschätzt habe, als er sich darauf festlegte, erst dann in diplomatische Gespräche mit Israel zu treten, wenn es zu einem Waffenstillstand in Gaza komme – damit habe er sein Schicksal und womöglich das der Hisbollah besiegelt.
Es wäre nicht das erste Mal, dass Nasrallah sich verspekulierte. 2006 tötete die Hisbollah mehrere israelische Soldaten im Grenzgebiet zu Israel und verschleppte zwei weitere. Die Folge war ein weiterer verheerender Libanon-Krieg. Nasrallah gab zu, sich verkalkuliert zu haben: Hätte er die Auswirkungen der Operation gegen Israel gekannt, hätte er sie nicht erlaubt. Doch für solche Analysen blieb diesmal keine Zeit: Am Abend des 27. September wurde Hassan Nasrallah bei einem israelischen Bombenangriff im Süden Beiruts getötet.
Die Hisbollah, jahrzehntelang für ihren Kampf gegen Israel gefeiert, ist strukturell und militärisch schwer angeschlagen und kämpft ums Überleben.
Kult-Miliz
Mohammad wurde Anfang der 1990er in Beirut geboren. Der libanesische Bürgerkrieg war eben erst zu Ende gegangen und der Süden des Landes immer noch von Israel besetzt. „Wenn ich im Sommer meine Verwandten im Südlibanon besuchte, sah ich israelische Soldaten und Helikopter, die über unserem Dorf kreisten“, erinnert er sich.
Damals kämpfte die Hisbollah einen erbitterten Guerilla-Kampf gegen die israelischen Besatzer. Im Jahr 2000 zog Israel aus dem Libanon ab. Die Hisbollah erreichte damit Kultstatus, erzählt Mohammad: „Sie galt als diejenige Miliz, der es gelungen war, Israel zu besiegen.“ Das habe nicht nur der Hisbollah, sondern dem gesamten Libanon hohes Ansehen in der arabischen Welt verschafft. Der Südlibanon gilt seit damals als Hisbollah-Hochburg.
Fatima, eine Schiitin aus dem Südlibanon, musste mit ihrer Familie wegen des israelischen Bombardements ihr Dorf in der Grenzregion verlassen. Gemeinsam mit rund 900 anderen Geflüchteten lebt sie seit November 2023 in einem Schulgebäude in Tyre – jede Familie bewohnt ein Klassenzimmer; Matratzen, Taschen und prallvolle Plastiksäcke stapeln sich an den Wänden.
Ohne den Widerstand der Hisbollah wäre der Südlibanon heute noch besetzt.Fatima, Geflüchtete in Tyre
Wie Fatima haben die meisten der Geflüchteten in Tyre die 18-jährige israelische Besatzung des Südlibanon miterlebt – eine dunkle Zeit der Kämpfe und Unterdrückung. Fatima erzählt von Luftangriffen auf Dörfer, von Checkpoints, die ihr die Bewegungsfreiheit im eigenen Land raubten, von israelischen Soldaten, die sich in den Häusern der Libanes:innen einquartierten und Menschen wegbrachten, die nie zurückkehrten.
Weil die Hisbollah damals die israelischen Streitkräfte bekämpfte, gilt die Organisation für die Menschen hier als Widerstandsgruppe. „Ohne den Widerstand der Hisbollah wäre der Südlibanon heute noch von Israel besetzt“, sagt Fatima. Auch wenn Israel sich im Jahr 2000 aus dem Südlibanon zurückzog, blieb der Nachbarstaat für Fatima eine Bedrohung. Dass israelische Politiker:innen immer wieder Ideen eines Großisrael verbreiten, das in seiner extremen Form Teile des Libanon einschließt, bestätigt ihre Ängste.
Hisbollah ersetzt Staat
Nach dem von der Hisbollah ausgerufenen Sieg über die israelische Besatzungsarmee im Jahr 2000 entwickelte sich die Organisation zu einem bedeutenden politischen Akteur im Libanon und – mithilfe iranischer Finanzierung – zur stärksten militärischen Kraft des Landes.
In Dahieh, einem südlichen Vorort Beiruts, ist die Hisbollah aber auch wegen ihrer Sozialleistungen populär. Die mehrheitlich schiitische Bevölkerung hatte lange Zeit keine Partei, die sich für sie einsetzte. Anders als etwa Sunniten oder Christen, deren Interessen, wenn schon nicht von einem funktionierenden Staat, dann zumindest von ihren jeweiligen Parteien wahrgenommen wurden.
Die Hisbollah gibt den Menschen Jobs, mit denen sie über die Runden kommen.Mohammad, Einwohner von Beirut
Das änderte sich in den 1980ern, als die schiitische Hisbollah sich zusehends im sozialen Bereich zu engagieren begann, Schulen und Kliniken baute und ihren Anhänger:innen kostengünstige Baudienstleistungen und Gesundheitsfürsorge bereitstellte. Auch in der Wirtschaftskrise, die den Libanon seit 2019 im Griff hat, ist die Hisbollah oft die einzige Organisation, von der sich die Bevölkerung Hilfe erwarten kann.
„Die Hisbollah gibt den Menschen Jobs und damit ein Gehalt, mit dem sie über die Runden kommen“, sagt Mohammad, „sie können eine Wohnung mieten, heiraten und Kinder kriegen.“ In Zeiten der Krise mit explodierenden Miet- und Strompreisen sei das für viele unmöglich. Wer auf Seiten der Hisbollah steht, erhalte außerdem Rabattkarten, um in bestimmten Läden billig einkaufen zu können. „Kliniken und Schulen der Hisbollah bieten ihre Leistungen weitaus günstiger an als vergleichbare andere private Einrichtungen.“ Es sei daher nicht verwunderlich, wenn die Mehrheit der Bevölkerung in Dahieh der Hisbollah ihre Stimme gibt, meint Mohammad.
In Geiselhaft der Hisbollah
Das alles verdeutliche, wie sehr die Hisbollah vom schwachen Staat profitiert, sagt Miriam Younes, Politikwissenschaftlerin und Soziologin mit Schwerpunkt auf Politik und Gesellschaft des Libanons, im Gespräch mit der WZ. Weil der Staat dazu nicht in der Lage ist, bieten Parteien wie die Hisbollah Wohlfahrtsleistungen an, durch die sie die Menschen an sich binden.
Die Wirtschaftskrise habe diese Mechanismen verstärkt: „Staatliche Leistungen, die schon vorher rudimentär waren, fielen völlig aus.“ Davon profitiere vor allem die Hisbollah, da sie sehr reich sei und daher über eines der größten Netzwerke an Sozialleistungen verfüge, führt Younes aus. Schätzungen zufolge erhält die Hisbollah vom Iran jährlich mindestens eine Milliarde US-Dollar. Hinzu kommen ihre eigenen Einnahmen aus Spenden, Handel, Bankgeschäften, aber auch Schmuggel und Drogenhandel.
Eine wachsende Gruppe sieht die Hisbollah als das größte Übel im Land an.Miriam Younes, Politologin
Von den Anhänger:innen der Hisbollah werde oft vergessen, dass die Organisation selbst Teil der politischen Elite und damit mitverantwortlich für den schwachen Staat und die daraus hervorgegangene Wirtschaftskrise sei, erklärt Younes. Zwar verloren die Hisbollah und ihre Verbündeten 2022 ihre Mehrheit im libanesischen Parlament, die Organisation verfügt aber weiterhin über erheblichen Einfluss.
Obwohl die Hisbollah in ihren Hochburgen wie dem Südlibanon, der Bekaa-Ebene und den südlichen Vororten von Beirut eine Bevölkerungsmehrheit hinter sich hat, gibt es durchaus auch laute Kritik an der Organisation. „Eine wachsende Gruppe sieht die Hisbollah als das größte Übel im Land an, sowohl politisch, aber vor allem in der Rolle als Widerstandsgruppe“, sagt Younes. Kritiker:innen werfen der Miliz vor, den Libanon in Geiselhaft zu nehmen, indem die Hisbollah einen Krieg führt, den ein Großteil der Menschen nicht wolle und bei dem sie kein Mitspracherecht hätten.
Kritik unerwünscht
Mohammad kennt die Hisbollah und ihre Strukturen seit Kindheitstagen. In sein Privatleben habe sich die Organisation kaum eingemischt, aber es gebe eine Art Gruppenzwang, erklärt er. Das beginne mit den Ausbildungscamps während der Sommerferien. Mohammad war einer der wenigen seiner Schulklasse, die nicht teilnahmen, weil er keine Lust auf paramilitärische Übungen während der Sommerhitze hatte.
Nachdem er seine Ausbildung als Journalist abgeschlossen hatte, wurde er immer wieder gedrängt, sich der Partei anzuschließen. Doch Mohammad lehnte ab. Problematisch wurde es für ihn erst, als er Kritik an der Organisation zu üben begann. 2019, als der Libanon in die Wirtschaftskrise taumelte, nahm er an den Protesten teil, die sich gleichermaßen gegen alle Parteien richteten. Die Demonstrant:innen forderten ein Ende des Klientelismus zugunsten eines funktionierenden Staates. „Ich habe auch die Hisbollah kritisiert, weil sie Teil dieses System ist und es stützt“, sagt Mohammad.
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Doch mit Kritik aus den eigenen Reihen – Mohammad ist Schiit – können viele Anhänger:innen der Hisbollah nicht umgehen. In Dahieh wussten die Nachbar:innen Mohammads, dass er Journalist war und an den Protesten teilnahm: „Sie verfolgten sehr genau, was ich schrieb und sagte.“ Das führte zu Spannungen und Streit und ging so weit, dass er auf der Straße attackiert wurde.
Ihre Anhänger:innen sehen in der Hisbollah nicht nur eine Miliz und politische Partei, sondern auch eine religiöse Bewegung, betont Mohammad. Kritik an der Hisbollah empfinden die Menschen daher immer auch als Kritik an ihrer Religion und den religiösen Führern: „Die Menschen sahen in mir einen Gotteslästerer.“ Am Ende zog Mohammad aus Dahieh weg: „Zu meiner eigenen Sicherheit“, wie er sagt.
Krieg statt Diplomatie
Die Hisbollah ist heute nicht mehr dieselbe wie im Herbst 2023, als sie aus Solidarität zur Hamas ihren Krieg mit Israel begann. Schätzungen zufolge verfügte die Miliz damals über bis zu 50.000 Kämpfer und ein Arsenal von rund 150.000 Raketen und Flugkörpern.
Unklar ist, wie hoch die Schlagkraft der Hisbollah nach zwölf Monaten Krieg heute noch ist. Die Tötung fast der gesamten Führungsriege der Miliz ebenso wie der Tod Nasrallahs hat die Organisation hart getroffen. Der langjährige Führer der Miliz war für seine Anhängerschaft ein Stück weit religiöse Erlöserfigur.
Die internationale Gemeinschaft fordert einen Stopp der Kämpfe und eine diplomatische Lösung. Mit dem Einmarsch israelischer Streitkräfte im Südlibanon wird es diese vorerst wohl nicht geben.
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Infos und Quellen
Genese
Im September 2024 reiste Autor Markus Schauta in den Libanon, wo er in Beirut und Tyre im Südwesten des Landes mit zahlreichen Menschen über die Hisbollah sprach.
Gesprächspartner:innen
Mohammad traf der Autor in einem Café in Beirut, Fatima und ihre Familie in der zu einem Flüchtlingslager umgewandelten Schule in Tyre. Mit Miriam Younes führte er das Interview über WhatsApp.
Daten und Fakten
Die vergangenen 50 Jahre in der Geschichte des Libanon waren von Kriegen und Besatzung geprägt. 1975 brach ein Bürgerkrieg aus, in dessen Verlauf sich unterschiedliche religiöse und politische Gruppen in wechselnden Koalitionen bekämpften. Der Südlibanon wurde damals weitgehend von der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) kontrolliert. Die Miliz verübte Terrorangriffe in Israel, die mit Vergeltungsschlägen beantwortet wurden.
Im Juni 1982 marschierten israelische Streitkräfte in den Libanon ein, drangen bis Beirut vor, betraten die Hauptstadt aber nicht. Diplomatischer Druck und die Entsendung multinationaler Streitkräfte in den Libanon erreichten im August 1982, dass die PLO den Libanon Richtung Syrien und Tunesien verließ.
Israelische Truppen blieben jedoch im Südlibanon, den sie gemeinsam mit der von Israel erschaffenen, christlich dominierten Südlibanesischen Armee (SLA) kontrollierten. In den 80ern formte sich die Hisbollah, die einen Guerilla-Krieg gegen die israelischen Besatzer und die SLA führte. Im Jahr 2000 zog Israel schließlich aus dem Libanon ab. Die SLA löste sich auf und die Hisbollah rückte in das geräumte Gebiet vor.
Wegen des anhaltenden Konflikts zwischen der Hisbollah und Israel marschieren im Sommer 2006 erneut israelische Streitkräfte in den Libanon ein. Der Krieg endet jedoch nach wenigen Wochen.
Seit Oktober 2023 führt die Hisbollah in Solidarität mit der Hamas einen Krieg gegen Israel. Am 30. September überschritten israelische Streitkräfte die Grenze zum Libanon und starteten eine „begrenzte Bodenoffensive“, wie Israel es nennt. Doch ob eine Operation begrenzt durchführbar ist, lässt sich bei den aktuellen Spannungen in der Region kaum vorhersagen. Am 1. Oktober schoss der Iran Raketen auf Tel Aviv. Die weitere Entwicklung ist unvorhersehbar.
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