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„Hitler lebt!“: Die Welt der Jugendlichen 1945

12 Min
Die Nationalpolitischen Erziehungsanstalten wurden Napola genannt, ihre Schüler umgangssprachlich Napolitaner.
© Illustration: WZ, Bildquelle: Wiki commons, cropped, bearbeitet

Mein Vater verbrachte als kleiner Bub das erste Nachkriegsjahr in einem „Umerziehungslager“ für Kinder von Nationalsozialisten.


Für meinen damals erst vierjährigen Vater begann der Frieden mit dem größten Verlust. „Meine Mutter ging mit einem Stück Brot in der Rocktasche fort und kam nicht mehr nach Hause“, sagt er.

Zu Kriegsende waren meine Oma, meine Uroma und mein Vater vor den russischen Besatzungstruppen quer durch das Weinviertel und das umkämpfte Wien nach Hause nach Guntramsdorf geflohen. Wie die WZ berichtete, musste meine Großmutter nach Kriegsende am 8. Mai 1945 als NSDAP-Mitglied der Kategorie „Illegale“ (siehe Infos und Quellen) in der russischen Zone Zwangsarbeit verrichten, während mein Opa, ebenfalls NSDAP-Mitglied, „abkassiert“ worden war. So nannte man es damals, wenn jemand auf offener Straße von Zivilisten in Begleitung eines sowjetischen Soldaten aufgefordert wurde, „mitzukommen“. Mein Vater Werner und sein Bruder Heinz waren also plötzlich elternlos geworden, und der damals zwölfjährige Heinz musste doppelt zittern: Er war bis zuletzt Schüler der Nationalpolitischen Erziehungsanstalt in Traiskirchen gewesen.

Kinderheim in Holzbaracken

Die Nationalpolitischen Erziehungsanstalten galten als Aufzuchtstätten des Nazi-Nachwuchses. Sie wurden Napola genannt, ihre Schüler umgangssprachlich Napolitaner (Infos und Quellen). Nach Kriegsende wurden sie von den alliierten Besatzungsmächten „umerzogen”. Briten, Franzosen und Amerikaner wollten dabei demokratische Werte vermitteln, die Sowjets, die Niederösterreich, Burgenland, Teile Wiens und das nördliche Oberösterreich bis zum Staatsvertrag 1955 verwalteten, jene des Kommunismus. Und nun wurde Heinz abgeholt und in ein Kinderheim gebracht, „wo die nationalsozialistische gegen die sozialistische Gesinnung getauscht werden sollte“, erzählt mein Vater.

Die Frage, was aus dem kleinen Werner werden sollte, löste eine „angeblich immer schon Kommunistin gewesene“ Kulturreferentin – und solche gab es, wie mein Vater betont - der Lokalkommandantur mit der Empfehlung, auch den kleinen Buben den Russen zu übergeben, weil dies die Wandlung seines Bruders positiv beeinflussen könne. Anscheinend leuchtete das den Entscheidern ein.

Das Heim „wurde von österreichischen Kommunisten geleitet oder von solchen, die sich als solche ausgaben, weil sie sich im Krieg etwas zuschulden kommen hatten lassen“, berichtet mein Vater. „Wir empfanden es als Umerziehungsanstalt. Untergebracht waren wir in Holzbaracken in der Nähe der zerstörten Ostmark-Flugmotorenwerke in Guntramsdorf, überall hingen Parteiwimpel der KPÖ.“

„Reingewaschen von brauner Suppe“

In den Ostmark-Flugmotorenwerken hatten während des Naziregimes Insassen der Mauthausener KZ-Außenstelle Guntramsdorf Zwangsarbeit verrichten müssen (siehe Infos und Quellen). Heute vermutet mein Vater, dass sie damals als Kinder in den besseren Wohnbaracken des Aufsichtspersonals untergebracht waren. Von den Holzbaracken ist heute nichts übrig, da ihre Bestandteile in Nachkriegswintern zum Heizen verwendet wurden. „Und da war ich nun“, blickt er zurück, „ein nicht einmal noch Fünfjähriger unter einer überzeugten Riege von Napola-Teenagern mit Werwolfs- Fantasien, deren Gehirne jetzt von der braunen Suppe reingewaschen werden sollten."

Erster Waschgang des Tages war jeweils ein lautstark nachzusprechender Gruß an den „Über-alles-geliebten-Genossen-Stalin“. Danach ging es nicht zum Frühstück, sondern zum Entlausen.“ Am deutlichsten erinnert er sich wie er sagt an die unzähligen Gesundheitsappelle. Aus allen Richtungen wurde das Desinfektionsmittel DDT über die Kinder versprüht. „Als Befreiung empfand ich das wirklich nicht. Sich zu fügen und anzupassen, war überlebensnotwendig, das begriff ich auch als Vierjähriger.“

Sowjetische Soldaten vor ihem Abzug mit Kindern auf dem Arm
Nach Kriegsende wurden Kinder von Nationalsozialisten von den Alliierten „umerzogen”. Briten, Franzosen und Amerikaner wollten dabei demokratische Werte vermitteln, die Sowjets jene des Kommunismus.
© Bildquelle: APA Picturedesk

Doch anpassen an wen? ,,An die Kummerer (umgangssprachlich für Kommunisten, Anm.) oder an die aggressive Riege der Werwolfs-Napolitaner? Für einen Buben wie mich waren das Erwachsene. Fügte ich mich den Kummerers zu sehr oder zu oft, musste ich mich vor ihnen in Acht nehmen. Mit ihren 12 bis 14 Lebensjahren unterschieden sie sich sehr von den 15- und 16-jährigen Jungs dieser Zeit", sagt er. Hitler hatte alles, was groß genug war, um eine Panzerfaust zu schwingen, als letztes Aufgebot gegen die Walze der Roten Armee antreten lassen. ,,Sie wurden zerfetzt oder überlebten, heulend aber geläutert. Meine Napolitaner aber waren ja selbst für die Nazi noch zu sehr Kind, um auf einen sowjetischen T34-Panzer gehetzt zu werden. So blieben sie vom Live-Erlebnis des Infernos einer zusammenbrechenden Front verschont, was wiederum dazu führte, dass sie, immer noch Kind, überzeugt geblieben waren, sie hätten den Unterschied gemacht.“

Wassersuppe mit wurmigen Erbsen

Vom ersten Tag an ,,war das Klima im Heim vergiftet“, blickt mein Vater zurück. „Wir wurden durch die Schlafbaracken der Zwangsarbeiter geführt, die hier unter dem Nationalsozialismus zu Tode geschunden worden waren. Dabei wurden ihre Herkunftsländer aufgezählt - Russland, Polen, Jugoslawien. Aber dass sie jüdischer Religion waren, vielleicht sogar mehrheitlich, wurde von den österreichischen Wendehälsen nicht einmal erwähnt. Bleibt für mich die Frage offen, warum sie jene unerwähnt ließen, die im Widerstand gegen Hitler ihr Leben riskiert hatten.“ (Viele Widerständler:innen waren überzeugte Kommunist:innen.)

Die Napolitaner zeigten sich von den Führungen wenig beeindruckt. „Und so lebte ich in zwei Welten: Einmal in einem Kokon aus Napolitanern mit geballten Fäusten des Nazi-Trotzes in ihren Hosentaschen, die alle Vorgänge um sie herum als Verrat an Führer und Reich ausgaben und auch so empfanden, und andererseits als Teil der Völker, die die Signale hörten.“ („Völker, hört die Signale“ ist der Refrain der „Internationalen“, dem Kampflied der sozialistischen Arbeiterbewegung.) Auf Fragen nach dem Verbleib von Vater und Mutter gab es prinzipiell keine Antwort. Zu essen bekamen die Kinder im Lager Brot mit Magermilch und Wassersuppe mit wurmigen Erbsen. Wenn mein Vater aus Sehnsucht nach seiner Mama zu weinen begann, riskierte er dafür Prügel von den Napolitanern. „Mein Heulen werteten sie als Schwäche im Widerstand gegen die Verräter in Rot-Weiß-Rot.“

Ein Stahlhelm als einziges Spielzeug

Als Spielplatz wurde ihm ein Sandhaufen zugewiesen. Der war vor dem Barackenfenster des Lagerleiters Jiricek aus irgendeinem Grund aus Schubkarren gekippt worden. „Mein einziges Spielzeug war ein angerosteter Stahlhelm. Den hatte ich vom Kreuz eines Soldatengrabes genommen. Ich hatte erwartet, dass mir Herr Jiricek den Stahlhelm wegnehmen würde, aber dem war nicht so. Er hat sich bloß vergewissert, dass es ein Wehrmachtshelm war, und gemeint: ,Den braucht er nicht mehr.‘ Dann hat er seinen Zeigefinger durch das ausgefranste Loch im Helm gebohrt und gesagt: ‚Da hat es das Schwein erwischt. Merk‘ es dir, Kleiner: Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen.‘ Das war ein Satz, den wir fast täglich hersagen mussten.“

Den Napolitanern war der Lagerleiter Jiricek ein rotes Tuch. Insgeheim teilte mein Vater dieses Urteil nicht, denn er wusste es besser: Eines Tages, „ich war gerade dabei, den Stahlhelm mit Wasser aus der Regentonne zu füllen“, hörte er Jiricek ins Telefon brüllen: „Das geht nicht! Ich brauch‘ für die Kinder was zu fressen. Das ist jetzt schon der dritte Tag ohne Ausspeisung.“ Und nach einer Pause: „Wir haben absolut keine Vorräte mehr, auch die Trockenmilch ist aufgebraucht.“ Danach stürmte Jiricek aus der Baracke, schwang sich auf sein Fahrrad und mein Vater sah, dass er weinte. „Nicht so wie Kinder mit Schluchzen und Rotzen, sondern mit vibrierenden Schläfen und zitternden Lippen und Funkeln in den Augen.“

Verbohrtheit der Napolitaner

Gegen wen sich Jiriceks Zorn richtete, konnte mein Vater natürlich nicht wissen. Schnell schaute er weg, um nur nicht von ihm wahrgenommen zu werden. „Denn so viel wusste ich: Die Größeren wollten nicht, dass man sie weinen sah. Auch wenn man einen Napolitaner beim Heulen erwischte, drehte der durch und prügelte dich nieder!“

Panzer der Roten Armee dringen nach Wien ein
Mein Vater: „Die Feier der Oktoberrevolution im November 1945 endete als Fanal des Schreckens."
© Bildquelle: ullstein bild

Die Verbohrtheit der Napolitaner und die Untauglichkeit der Mittel der Umerziehung erschrecken ihn heute noch. „Auf der Schlafstation rebellierten sie lautstark: Wir sind hier die Herren. Diese Arschlöcher werden schon sehen. Zur Bekräftigung ließ sich einer der Buben, Friedhelm ,,Friedl“ K., von einem Kameraden mit einem rostigen Nagel die SS-Runen in dem Oberarm ritzen. Als der Arm wegen dem Nagel zu eitern und Friedhelm zu fiebern begann und verarztet werden musste, sagte Jiricek: ,Blöder Kerl, das kann dein Tod sein.‘ Der Friedl aber hat nur geantwortet: ‚Na wenn schon, besser als in eurem rot-weiß-roten Gau alt werden.‘“

„Oktoberrevolution” im November 1945

Je öfter Friedhelm provozierte, desto häufiger wurden seine Worte auf die Waagschale des Umerziehungsprogramms gelegt, und je schärfer sein Verhalten überwacht und gemaßregelt wurde, desto provozierender wurde es. So endete die Feier zum Gedenken an die Oktoberrevolution im November 1945 als Fanal des Schreckens. Zu dieser Feier hatte die Kulturabteilung der Kommandantur Mödling die Jugend des Bezirks eingeladen. Auch Ministranten und die sozialistische Jugend fühlten sich angesprochen, zumal Essbares erwartet werden durfte, sagt mein Vater. „Zunächst war eines interessant: Im Kontakt mit denen von der Katholischen Jugend und Roten Falken fanden wir heraus, dass es wir Nazi-Bangerden im Lager besser hatten als die bei ihren Familien draußen. Wir hatten immerhin täglich ein, manchmal auch zwei Glas Magermilch, oder ein Stück, manchmal auch zwei vom russischen Kommissbrot und an guten Tagen eine Scheibe von einer Schnittmarmelade von grausamer Farbe. Die Kinder der braven Österreicher hatten nichts davon, zumindest nicht regelmäßig“, erzählt er.

Die Feier war wie ein Friedensfest angekündigt worden. Das Verhältnis zwischen Besiegten und Siegern sollte sich offenbar entspannen und die politischen Kader der Roten Armee wollten Gefügigkeit mit freundlichen Gesten belohnen. Ausgerichtet wurden die Feierlichkeiten auf dem Appellplatz der ehemaligen K.u.K-Militärakademie, in der heute die HTL Mödling untergebracht ist. Man nahm Aufstellung „vor einem Tuch so groß wie die Stirnseite des dreistöckigen Gebäudes, darauf flächefüllend Stalins Konterfei. Da es schon dunkelte, wurde es beleuchtet, und weil es um diese Tageszeit noch keinen Strom gab, klopfte ein Dieselaggregat die nötigen Kilowattstunden in die Strahler.“

„Danke für die Befreiung, Genosse Stalin“

„Im Rahmen der Feier hatten die Napolitaner die ersten Erfolge ihrer Umerziehung unter Beweis zu stellen. Das hieß, einzeln hervortreten und in strammer Haltung mit Blick auf das fassadengroße Tuch herunterleiern: ‚Ich grüße dich, Genosse Stalin, und danke dir für die Befreiung meiner Heimat Österreich aus den Fängen der Verbrecher des Faschismus. Hoch die Sowjetunion, hoch der Marxismus-Leninismus, lang lebe Genosse Stalin, lang lebe die sowjetisch-österreichische Freundschaft.‘ So oder so ähnlich. Danach bekam jeder der Repetierer gönnerhaften Applaus der umstehenden Sowjetoffiziere“, erzählt mein Vater. „Es verlief alles nach Plan, bis Friedhelm K. an der Reihe war. Der trat vor, fixierte Stalins tellergroße Augen und sagte sichtlich erregt: ‚Was glotzt du so dämlich, Genosse Stalin? Das nennst du Befreiung Österreichs aus den Fängen des Faschismus? Schieb dir deinen Marxismus-Leninismus und die sowjetisch-österreichische Freundschaft in den Arsch, Genosse Stalin‘. …“ … … ,,Wieder applaudierten die Sowjetoffiziere, die ja des Deutschen nicht mächtig waren. Bis einer der Einheimischen dem ranghöchsten Sowjetoffizier offenbar eine Inhaltsangabe von Friedhelms Gruß an Väterchen Stalin ins Ohr flüsterte. Der donnerte irgendeinen Befehl in die Abendstunde, worauf eine Gruppe von sechs oder acht Sowjetsoldaten auf Friedl einschlug und ihn zu Brei trat.“

Die Frage, ob er tot liegenblieb oder noch lebte, als die Kinder weggescheucht wurden, ist bis heute unbeantwortet. „Unter den Napolitanern hatte es später geheißen, es sei nur Matsch mit Stoppelglatze von ihm übriggeblieben“, sagt mein Vater.

Die „gute Nachricht”

In den Tagen danach war die Stimmung im Lager „hasserfüllt“. Weshalb mein viereinhalbjähriger Vater beschloss, nicht mehr im Lager zu bleiben. Den folgenden Dialog hat er in autobiographischen Skizzen niedergeschrieben.

Vater

Ich will zur Großmutter in den Schrebergarten.

Onkel

Das ist ein Tagesmarsch.

Vater

Ich fahr mit der Badnerbahn.

Onkel

Badnerbahn gibt es nicht.

Vater

Seit wann?

Onkel

Seit die Oberleitung kaputt ist.

Vater

Dann fahr ich mit der Südbahn.

Onkel

Hast du ein Geld für die Fahrkarte?

Vater

Brauch ich nicht. Irgendwer wird mich schon auf das Dach eines Waggons heben. Ich will zur Großmutter. Komm doch mit.

Onkel

Darf ich nicht.

Vater

Warum nicht?

Onkel

Weil sie die Großmutter einsperren würden, wenn sie mich bei sich aufnimmt. Willst du das?

Mein Vater heulte los. Um ihn zu trösten, vertraute ihm mein Onkel ein großes Geheimnis an. Er musste schwören, nichts davon zu verraten. Dann flüsterte ihm mein Onkel zu: „Der Führer lebt. Er ist in Südamerika und wird mit einer großen Armee zurückkommen. Ich muss dann hier sein. Wir beide müssen dann hier sein. Und wenn er kommt, dann müssen die Österreicher auf unseren Pritschen schlafen und wir werden sie bewachen.“

Vater

Ehrlich, der Führer lebt?

Onkel

Wenn ich‘s dir sage.

Vater

Aber im Radio haben sie gesagt, er sei gefallen.

Onkel

Ist doch alles nur Tarnung vor dem Feind, glaub mir, ich weiß es, ich fühl‘ es.

Vater

Und wenn der Führer kommt, kommen auch Mama und Papa mit?

Onkel

Klar doch. Glaubst du, er vergisst auf sie? Der Führer denkt an alle, das weißt du doch.

Mein Vater weiter: „Der Führer lebte also! Das war das erste Mal, dass Heinz eine gute Nachricht für mich hatte. Ansonsten gab es nur Brutalität und nichts zu fressen. Was die Umerzieher mit Befreiung meinten, von der sie ständig sprachen, erschloss sich mir nicht. Aber zu erfahren, dass der Führer noch lebte, machte den Tag erträglicher. Ich hörte auf zu heulen und fühlte mich besser. Wenigstens für ein paar Minuten.“

Schiffbrüchiger auf hohen Wellen

Erst als Erwachsenem wurde meinem Vater klar, dass mein Onkel, der zwölfjährige Ex-Napolitaner Heinz, damals gewaltige Probleme gehabt haben musste. „Man hat ihm nichts erklärt. Niemand hat uns Kindern etwas erklärt.“ Er, Werner, hatte als kleiner Bub „nur“ die Eltern verloren, Heinz aber musste allen erlernten Werten abschwören, die ihm eingetrichtert worden waren, und Neue erkennen und annehmen. „Er muss damals wie ein Schiffbrüchiger auf den gefährlich hohen Wellen der Veränderungen herumgetrieben sein. Wahrscheinlich hat er dabei mehr Wasser schlucken müssen als ich, dem letztlich ein Glas Magermilch oder eine wurmige Erbsensuppe weitaus wichtiger waren als der Führer“, sinniert er.

Obwohl Frauen in Österreich erst seit 1988 das alleinige Sorgerecht für ihre Kinder haben dürfen, bekam meine Urgroßmutter Anfang 1946 die Erziehungsberechtigung für die beiden Buben. Es gab anscheinend genügend Genossen, die sich an ihre Überzeugungsarbeit als Sozialdemokratin in der Ersten Republik erinnerten.

Im Frühjahr 1946 nach Hause

Im Frühjahr 1946 durften Heinz und Werner nach Hause. Sie wurden im in der elterlichen Wohnung in der Obersiedlung im heutigen Neu-Guntramsdorf abwechselnd von einer Tante und ihrer Großmutter betreut, bis ein paar Monate später zunächst meine Oma und um einiges später auch mein Opa aus der Zwangsarbeit zurückkehrten.

Zur Siedlung Neu-Guntramsdorf, damals Teil des 24. Wiener Gemeindebezirks Mödling, fand mein Vater später heraus, dass ihr Bau kurz nach dem „Anschluss“ vom 13. März 1938 als Holzwebersiedlung in Angriff genommen worden war, um „illegalen Nazis“ moderne Wohnungen mit Bad und großzügigen Grünflächen zu bieten.

Das machte 1945 diesen Ort zu einem ganz spezifischen Biotop und erklärte ihm im Nachhinein das Verhalten der Bevölkerung in der Siedlung. Die eine Hälfte sprach vom Kriegsende als „Zusammenbruch“, hielt fest zusammen und gab hinter vorgehaltener Hand dem neuen Österreich keine Chance. Ständiger Sager damals: „Die jetzigen Machthaber sind doch die, die uns als Lenker von Österreich in den Abgrund gestürzt haben.“ Die andere Hälfte der Nazi-Siedlung suchte ihr Fortkommen hingegen „durch gebeugtem Gang und Schleimereien vor den Russen“, sagt mein Vater, und: „Die große Zeitenwende kam erst am 15. Mai 1955 mit dem Staatsvertrag. Christlichsoziale und Sozialdemokraten, die großen Versager der Ersten Republik, hatten ein Wunder vollbracht, das anfangs in unseren Familien keiner für möglich hielt.“


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Infos und Quellen

Genese

Redakteur:innen der WZ haben es sich zur Aufgabe gemacht, in der persönlichen Familiengeschichte zu graben. Konkret handelt es sich um die Jahre der Nazi-Diktatur und des Zweiten Weltkriegs - eine Zeit, über die lange nicht gesprochen wurde und über die in den meisten Familien nicht viel bekannt ist. Es geht darum, eine Lücke, die wohl in vielen österreichischen Familien besteht, anzusprechen und den Versuch zu unternehmen, sie ansatzweise zu schließen.

Eva Stanzl hat ihren Vater Werner über seine Kindheit in Niederösterreich am Ende des Zweiten Weltkriegs befragt. In Teil 1 der Erinnerungen ihres Vaters https://www.wienerzeitung.at/a/das-brot-das-drei-leben-rettete waren seine Erinnerungen an die Flucht vor der Roten Armee wiedergegeben. Hier in Teil 2 sein Verbleib in einem Erziehungslager für Kinder von NSDAP-Mitgliedern, in dem diese sowjetisches Gedankengut lernen sollten.

Gesprächspartner:innen

  • Werner Stanzl, geboren 1941 in Mödling bei Wien, Dokumentarfilmer, Journalist und Buchautor.

  • Barbara Stelzl-Marx, Professorin für europäische Zeitgeschichte an der Universität Graz und Leiterin des Ludwig Boltzmann Instituts (LBI) für Kriegsfolgenforschung.

Daten und Fakten

  • Als Besatzungszeit wird die Periode der Alliierten Verwaltung Österreichs, die von der Zerschlagung des Nationalsozialismus 1945 durch Truppen der Sowjetunion, der USA, Großbritanniens und Frankreichs bis zum Abschluss des Staatsvertrages am 15. Mai 1955 dauerte.

  • Die Bezeichnung „illegale Nationalsozialisten“ bezieht sich auf Personen in Österreich, die zwischen 1933 und 1938, in der Zeit der Ersten Republik, Aktivitäten für die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP-Hitlerbewegung) ausführten oder ihr beitraten, obwohl die Partei durch ein Dekret des Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß am 19. Juni 1933 verboten worden war. Dieses Verbot blieb bis zum Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich am 12. März 1938 in Kraft. Diejenigen, die sich in dieser Zeit dennoch für die NSDAP engagierten oder ihr über Untergrundzellen beitraten, galten als „Illegale“.

  • Lokalkommandantur Mödling: Von 1945 bis 1955 war der Bezirk Mödling, in dem mein Vater aufwuchs, von sowjetischen Truppen besetzt, die die ehemalige Militärakademie, in der heute die HTL beheimatet ist, und zahlreiche Schulgebäude der Stadt benützten. Die Lokalkommandantur der sowjetischen Besatzungsmacht befand sich auf der Hauptstraße.

  • Moskauer Memorandum: In einem Memorandum vom 11. Jänner 1944, genannt Moskauer Memorandum, konstatierte die sowjetische Kommission für Reparationsforderungen, dass die Sowjetunion „daran interessiert“ sei, dass „der Regierungsaufbau der Staaten Nachkriegs-Europas den Prinzipien einer ,breiten Demokratie im Geiste der Volksfront‘ folge“. In der Nazizeit war Österreich die Ostmark. Laut dem Moskauer Memorandum sollte es nach Kriegsende wieder so werden wie vor Kriegsbeginn, indem ,,alle antifaschistischen Parteien des jeweiligen Landes kooperieren, die Kommunisten aber die Schlüsselpositionen übernehmen und dadurch eine „Sowjetunion-freundliche“ Ausrichtung der Politik gewährleisten. Die Volksfrontstrategie zielte auf eine „antifaschistisch-demokratische“ Umformung ab und die österreichischen Kommunisten fügten sich in die Volksfrontstrategie ein“, heißt es hier.

  • „Ein Ziel der Sowjetunion war die Wiedererrichtung Österreichs innerhalb der Vorkriegsgrenzen“, schreibt Heidi Angelika Mascher-Pichler in ihrer Dissertation „Baden bei Wien zur sowjetischen Besatzungszeit 1945 – 1955“. In einer Reihe von Fällen wurden Funktionen in der Selbstverwaltung mit Österreicher:innen besetzt.

  • Das Verhältnis der sowjetischen Besatzungstruppen zur Wiener Bevölkerung war von Beginn an schwierig. Nicht nur waren die Sowjets unter den vier Besatzungsmächten am stärksten vom Vernichtungskrieg der Nationalsozialisten betroffen gewesen, sie waren auch die einzigen, die in Wien an unmittelbaren Kampfhandlungen beteiligt waren. In den ersten Nachkriegsmonaten sicherte die Rote Armee die Versorgung der Bevölkerung und half auch tatkräftig beim Wiederaufbau der Stadt mit. Jedoch war keine der Besatzungsmächte dermaßen gefürchtet, denn die sowjetischen Soldaten waren unberechenbar – es kam zu zahlreichen Beschlagnahmungen, Plünderungen und Gewalttaten.

  • Umerziehung“: Wie kann man ein Volk, das zwölf Jahre lang in einer brutalen Diktatur gelebt hat, zu überzeugten Demokraten machen? Nach dem Krieg starteten die drei westlichen Siegermächte England, Frankreich und USA ein Bildungsprogramm, das sie „Umerziehung“ (reeducation) nannten. Auf diese Weise wollten sie Deutschen und Österreicher:innen die Grundregeln der Demokratie beibringen. „Jede Besatzungsmacht hat die Bevölkerung einschlägig geschult. Insbesondere die Sowjets versuchten, ihre Kultur unter die Leute zu bringen“, sagt die Historikerin Barbara Stelzl-Marx zur WZ. Die vierte Besatzungsmacht Sowjetunion hatte ein Programm, das der besiegten Bevölkerung die Werte des Kommunismus näherbringen sollte. Es gibt Belege für Heime für die Kinder von Nazis, deren Eltern in Zwangsarbeit waren, einen Nachweis für das hier beschriebene Heim in Guntramsdorf kennt das LBI für Kriegsfolgenforschung allerdings nicht.

  • Eine Sonderausstellung des Hauses der Geschichte in Kooperation mit dem Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung befasst sich mit Kindheit und Jugend vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Ausstellung „Kinder des Krieges – Aufwachsen zwischen 1938 und 1955“ läuft von 26. April 2025 bis 17. Jänner 2027 im Haus der Geschichte in Wien.

  • Kinder des Chaos“, eine Dokumentation aus der ORF-Reihe Universum History, bezieht sich auf das Schicksal der Kinder, für die der Frieden zunächst nur Leid brachte. „Es gab Hunderttausende Waisenkinder oder Kinder, die zurückgelassen worden waren, und solche aus den „Lebensborn“-Heimen der Nationalsozialisten, wo auf Basis der nationalsozialistischen Rassenhygiene und Gesundheitsideologie die Geburtenziffer „arischer“ Kinder erhöht werden sollte“, heißt es hier. Elternlos geworden waren auch Kinder von Eltern in Zwangsarbeit, die in Heime oder zur Umerziehung zu Adoptiveltern kamen.

  • Die Nationalpolitischen Erziehungsanstalten waren Eliteschulen der Nazis für Buben. Ihre Hauptaufgabe war die „Erziehung zu Nationalsozialisten, tüchtig an Leib und Seele für den Dienst an Volk und Staat“. Eine Napola-Abordnung suchte in den Volksschulen „geeignete“ Schüler und lud diese zur Aufnahmeprüfung ein. Körperliche Eignung spielte eine große Rolle, intellektuelle Fähigkeiten hatten weniger Bedeutung. Das Hauptaugenmerk lag – wie bei der Aufnahme in die SS – auf der sogenannten „arischen Abstammung“ und der „Erbgesundheit“. Ihren Eltern wurde schriftlich einen Schulplatz angeboten, den sie schwerlich ablehnen konnten. Für viele Familien war es sogar ein Glück, wenn ihr Sohn zur Napola kam, weil sie ihren Kindern sonst keine Schulbildung finanzieren hätten können, und diese Schule die Möglichkeit bot, in Zukunft leichter Karriere zu machen. Heranwachsen sollte die bürokratische Elite des Landes - Beamte, Personen im diplomatischen Dienst oder Wirtschaftsreibende. In Traiskirchen im Bezirk Baden war eine der ersten Napolas in Österreich untergebracht.

  • Das KZ-Außenlager Guntramsdorf/Wiener Neudorf wurde am 2. August 1943 gegründet und auf einem Gelände errichtet, wo seit 1941 Bau‐ und Zwangsarbeitslager der Flugmotorenwerke Ostmark bestanden. Es umfasste 22 Wohnbaracken, zwei Krankenbaracken, Waschräume, WC‐ Baracken, Lagerschreibstube, Küche und Werkstätte. https://www.mauthausen-guides.at/aussenlager/kz-aussenlager-guntramsdorf-wiener-neudorf „Die Entstehungsgeschichte unseres Ortsteils Neu-Guntramsdorf ist eng mit den Verbrechen des Nationalsozialismus und der Waffenproduktion des 2. Weltkrieges verbunden und prägt noch heute sein Ortsbild. Von 1943 bis 1945 gab es im heutigen Neu-Guntramsdorf ein großes Außenlager des KZ Mauthausen, in dem Menschen aus ganz Europa ausgebeutet wurden, um riesige Fabrikshallen zu errichten und Flugmotoren herzustellen“, heißt es in einer historischen Aufarbeitung des Gedenkvereins: „Der von den Flugmotorenwerken nach dem Krieg verbliebene Schutt wurde in den Nachkriegsjahren von der lokalen Bevölkerung lange Zeit als Baumaterial oder auch als Brennholz verwendet. Heute stehen in Guntramsdorf und Umgebung noch Gebäude, die aus den Baracken der Zwangsarbeiterlager erstellt wurden.“

  • Die Organisation Werwolf (seltener: Wehrwolf) war eine nationalsozialistische Organisation zum Aufbau einer Bewegung zur Fortführung des Kampfs auf bereits feindlich besetzten Gebieten am Ende des Zweiten Weltkriegs, die im September 1944 von Heinrich Himmler als Minister und Reichsführer SS gegründet wurde.

Quellen

Das Thema in der WZ

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