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Indien-China: Der Tisch für die Katastrophe ist gedeckt

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Chinesische und indische Soldaten haben den Finger am Abzug.
© Illustration: WZ, Bildquelle: Getty Images

Ein ungelöster Grenzstreit im Himalaya vergiftet die Beziehungen der beiden asiatischen Großmächte. Der indische Hardliner Narendra Modi wird die Drohkulisse gegenüber China weiter ausbauen.


Indien und China: Das sind zwei asiatische Giganten, zwei Atommächte, die auf einen Status als Supermacht pochen. Peking sieht sich in der regionalen Hackordnung ganz oben, setzt auf militärische Stärke, unterstützt Pakistan und fordert auf globaler Ebene die USA heraus. Indien beobachtet das mit Sorge und nähert sich Washington an. Der Subkontinent ist mittlerweile das bevölkerungsreichste Land der Erde, die Wirtschaft wächst hier schneller als die chinesische. Schon deshalb wähnt man sich in Neu-Delhi auf Augenhöhe mit Peking. Die beiden politischen Führer – Xi Jinping auf chinesischer und Narendra Modi auf indischer Seite – haben jeweils die Überlegenheit ihrer Nation im Auge. Ehre, Stolz und die Demonstration der eigenen Unüberwindbarkeit stehen an erster Stelle.

Streit um Territorien

Das ist eine gefährliche Ausgangslage vor allem deshalb, weil beide Länder in einen Streit um den gemeinsamen Grenzverlauf verkeilt sind. Ein Streit, der, anders als die indisch-pakistanischen Kriege um Kaschmir, in Europa wenig bekannt ist. Es gibt im indisch-chinesischen Konflikt lediglich eine provisorische „Line of Actual Control“ (LAC). Indien beansprucht dabei ein in über 4.000 Metern Höhe an Kaschmir grenzendes Plateau, das etwa halb so groß wie Österreich ist. Eine Salzwüste, in der einige Nomaden leben. Und China erkennt weiter östlich eine Grenzfestlegung, die noch aus der Zeit der britischen Kolonialherrschaft stammt, nicht an.

1962 gab es deswegen einen Krieg, den China gewonnen hat. Zuvor hatte Indien seine Stellungen in Richtung Norden, in chinesisch beanspruchtes Territorium, ausgebaut. 7.000 indische Soldaten wurden im Zug der chinesischen Gegenaktion getötet oder gefangen genommen. Damit war der ursprüngliche Status quo wieder hergestellt.

Doch der chinesische Sieg hat nicht für Klarheit gesorgt.

Im Gegenteil: Indien hat China 1962 unterschätzt und ist überzeugt, eine offene Rechnung begleichen zu müssen. Die Niederlage ist ein Schock, ein nationales Trauma bis heute. Nach dem Ende der britischen Herrschaft 1947 will man sich in Neu-Delhi niemandem mehr beugen. Versuche Chinas, Indien zu einem Gebietstausch zu überreden, sind in der Vergangenheit gescheitert. Das gegenseitige Misstrauen ist groß. In Peking ist man davon überzeugt, dass Indien in seinen Gebietsansprüchen durch regelmäßige Strafaktionen und Abschreckung zur Räson gebracht werden muss. Hier sieht man sich am längeren Hebel. Indien hat China mittlerweile noch vor Pakistan als größte Sicherheitsbedrohung auf der Liste.

Gefährlicher Rüstungswettlauf im Himalaya

Das Gefährliche ist, dass unter den nationalistischen Rivalen Modi und Xi die Spannungen zugenommen haben, es ist ein Wettrüsten in Gang gekommen. Und dieser Wettlauf wird nach dem so gut wie sicheren Wahlsieg des amtierenden indischen Premiers im Juni weiter Fahrt aufnehmen. Modi will als der Politiker in die Geschichtsbücher eingehen, der China erfolgreich die Stirn geboten hat. Beide Seiten sind der Ansicht, dass jedes Einlenken als Schwäche ausgelegt werden könnte und deshalb vermieden werden muss. Noch ist die Grenzlinie, die Chines:innen und Inder:innen trennt, durch Pufferzonen geschützt und es gilt dort ein Waffenverbot.

In den letzten Jahren wurden auf indischer wie auf chinesischer Seite zusätzliche Soldaten stationiert. Beide Seiten haben schwere Waffen näher an die umstrittene Grenze gebracht und die Infrastruktur ausgebaut, damit Nachschub schnell und in großem Umfang herangeschafft werden kann. Innerhalb einer Woche könnte China die Zahl seiner Soldaten auf 100.000 verdoppeln, so die Schätzung der „International Crisis Group“, einer NGO, die den Konflikt genau beobachtet. Peking hat Raketenwerfer und Lenkwaffen zur Fliegerabwehr vom Typ S-400 in Stellung gebracht. Es werden Straßen gebaut und Brücken, neue Landeplätze für Flugzeuge und Hubschrauber geschaffen. Es werden zusätzliche Beobachtungsposten errichtet und die Zahl der Patrouillen erhöht. Die Nationalisten Modi und Xi wollen ihren jeweiligen Bevölkerungen demonstrieren, dass sie Größe und Ruhm ihrer Nation mit allen Mitteln verteidigen.

Der Tisch für die große militärische Auseinandersetzung zwischen Indien und China – er wäre reichlich gedeckt.

Noch haben beide Länder den Wert eines friedlichen Miteinander im Auge. Immerhin ist China der wichtigste Handelspartner Indiens, und Peking konzentriert sich in militärischer Sicht auf das Südchinesische Meer und könnte im Kriegsfall eine Front in seinem Rücken nicht gebrauchen. Aber diese Überlegungen gelten nicht für immer und unter allen Umständen. Der Druck wird auf beiden Seiten bewusst erhöht und es wäre nicht das erste Mal, dass eine heikle Lage auf diese Weise außer Kontrolle gerät.

Geschütze statt Steine

Schon jetzt kommt es entlang der Konfliktlinie hoch im Himalaya zu Provokationen, Gegenprovokationen und Einschüchterungsversuchen, die in blutigen Auseinandersetzungen gipfeln. 2020 gingen chinesische und indische Soldaten aufeinander los, es gab ein Gemetzel mit mehr als 20 Toten. Noch wird der Streit mit Steinen und Holzprügeln statt mit Raketenwerfern ausgetragen. Die Lage ist hochsensibel, schon die Errichtung eines simplen Beobachtungsturms wird auf der gegenüberliegenden Seite als Kriegserklärung aufgefasst. Ein paar chinesische Militärzelte auf indischer Seite sorgen dafür, dass die provisorischen Behausungen abgefackelt werden und die Soldaten in Rage geraten.

Die ungeklärte Grenze ist eine Nahtstelle, an der es gefährlich knirscht. Ein chinesisch-indisches Abkommen aus dem Jahr 1988, wonach der Konflikt im wechselseitigen Verhältnis ausgeklammert und gesondert behandelt werden soll, hat seine Wirkung verfehlt. Das Thema hat die bilateralen Beziehungen vergiftet, Modi und Xi gehen sich bei internationalen Treffen aus dem Weg. Die indischen und chinesischen Patrouillen entlang der umstrittenen Grenze hingegen laufen immer wieder direkt ineinander. Mit gefährlichen Folgen. Zumal sich unmittelbar an der umstrittenen Grenze nach Informationen der „International Crisis Group“ die ersten Schusswaffen befinden könnten.


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Infos und Quellen

Genese

In Indien wird derzeit ein neues Parlament gewählt, mit einem Resultat wird angesichts der schieren Größe des Landes Anfang Juni gerechnet. WZ-Redakteur Michael Schmölzer nimmt das Ereignis zum Anlass, um einen gefährlichen Grenzkonflikt mit China zu beleuchten. Ein Konflikt, der durch den sehr wahrscheinlichen Wahlsieg des amtierenden nationalistischen indischen Premiers Narendra Modi weiter in den Vordergrund treten wird.

Daten und Fakten

  • Als China 1950 Tibet annektierte, hatten China und Indien plötzlich eine mehrere tausend Kilometer lange gemeinsame Grenze. Indien ist der Ansicht, dass die östliche Grenze zu China von einem tibetisch-britischen Abkommen aus dem Jahr 1914 geregelt ist. Bekannt ist die Grenze als McMahon-Linie. China war in die Verhandlungen nicht involviert. Heute ist China der Ansicht, dass Tibet damals keine souveräne Macht war und das Abkommen deshalb gar nicht unterzeichnen hätte können. Deshalb erkennt Peking die McMahon-Linie nicht an und stellt Ansprüche auf das Gebiet Arunachal Pradesh, das etwas größer als Österreich ist. Auf chinesischen Karten ist das Gebiet als „Zangnan“ eingezeichnet und wird China zugerechnet. Stellenweise haben die Briten bis 1947 den Grenzverlauf gar nicht definiert. Im westlichen Bereich der Grenze beansprucht Indien das Aksai Chin Plateau, das an Kaschmir grenzt und von China kontrolliert wird.

  • Der Hindu-Nationalismus in Indien hat unter Premier Narendra Modi an Bedeutung gewonnen. Er arbeitet mit einem klaren Freund-/Feind-Schema und richtet sich vor allem gegen die Muslim:innen im Land. Eine wichtige Komponente dieser Ideologie einer hinduistischen Überlegenheit ist Gewalt, mit der Gegner aller Art niedergerungen werden sollen.

  • Die International Crisis Group (ICG) ist eine NGO und liefert Analysen und Lösungsvorschläge zu internationalen Konflikten. Im Fall des chinesisch-indischen Streits um den Grenzverlauf schlägt die ICG vor, dass es mehr Pufferzonen geben sollte und Hotlines zwischen den obersten militärischen Stellen beider Länder. Auch sollte das Waffenverbot unmittelbar an der Line of Actual Control (LAC) streng eingehalten werden. Auf politischer Ebene wären bilaterale Treffen zwischen Premier Modi und Chinas Machthaber Xi wünschenswert, so die ICG, um das heikle Thema zu bearbeiten und das wechselseitige Misstrauen einzudämmen.

  • China verfügt laut Erhebungen des Stockholm International Peace Research Institute (Sipri) über 410 atomare Sprengköpfe, Indien über 164.

Quellen

Das Thema in der WZ

Das Thema in anderen Medien