Abseits verwitterter Soldaten-Monumente etabliert sich in Salzburg-Land eine innovative Erinnerungskultur zum Widerstand im Zweiten Weltkrieg.
„Wenn etwas herumsteht, ist es tot“, sagt Albert Lichtblau, „es wird ignoriert.“ Deshalb sucht der Salzburger Historiker nach Alternativen zu den vielen Gedenksteinen, die es überall in Österreich gibt und die an „Helden“ des Zweiten Weltkrieges oder die Opfer des NS-Regimes gemahnen. Das Projekt „Orte des Gedenkens“, an dem er als Wissenschaftler mitwirkt und an dem sich leitend die Kunsthistorikerin Hildegard Fraueneder und der Historiker Robert Obermair beteiligen, will laut Eigendefinition Menschen durch Bewegung aufrütteln, die Jugend erreichen und Diskussionen in Gang setzen - mit künstlerischen Mitteln. Und das Gedenken soll „dezentral“ in die Dörfer gebracht werden. Welcher Künstler zum Zug kommt, wird durch einen Wettbewerb ermittelt.
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Dieser Zugang ist ungewöhnlich in einem Land, in dem Kameradschaftsbünde oft immer noch das Monopol auf die Weltkriegserinnerung haben und die Grabmäler gefallener Soldaten zu Allerheiligen mit Kränzen geschmückt werden. Wo die, die 1939 bis 1945 an der Front gekämpft haben, „richtig gehandelt“ und die, die sich widersetzt haben, bis heute als „nicht ehrenhaft“ abgetan werden.
Glas splittert
Kontroversen sind also vorprogrammiert. In Neumarkt am Wallersee etwa, wo Glas splitterte, als eigens für das Kunstprojekt aufgestellte Fenster mit Steinen zerschossen wurden: eine Aktion des Bildhauers Bernhard Gwiggner. Unweit des Neumarkter „Heldendenkmals“ für die Gefallenen des Zweiten Weltkrieges wurde mit den Steinwürfen des christlich-sozialen Nazi-Feindbildes Georg Rinnerthaler gedacht, dessen Gasthaus einst von einem entfesselten Mob demoliert worden war. Der Nazi-Terror sollte künstlerisch nacherlebbar gemacht werden, so das Konzept Gwiggners. Die Teilnehmer:innen konnten in die Rolle des Opfers schlüpfen, indem sie sich hinter das Glas stellten. Oder in die Täter:innen-Rolle, indem sie die Steine warfen. „Am nachdrücklichsten die Fenster eingeschossen haben Politiker:innen“, verriet Gwiggner der WZ. „Das Projekt hat für Irritation gesorgt“, sagt Stefanie Ruep, Sprecherin des Projekts. „Es war in Neumarkt ein Jahr lang Gesprächsthema.“ Nicht nur Steine prallten an Glas - verschiedene Geschichtsbilder kollidierten miteinander. Und es gab im Gemeindesaal lautstarke Diskussionen.
Eine mutige Frau
Bei einem weiteren, derzeit in Hallein laufenden Projekt geht es darum, mit der kommunistischen NS-Widerstandskämpferin Agens Primocic „eine mutige Frau sichtbar zu machen”, wie Ruep sagt: „Die Rolle von Frauen im NS-Widerstand ist zumeist unterbeleuchtet, sie wird nicht erzählt.“ Primocic hat 1943 einem Partisanen die Flucht aus einem Nebenlager des KZ Dachau ermöglicht und knapp vor dem Kriegsende weitere 17 KZ-Häftlinge vor dem Tod bewahrt. Nach dem Krieg war sie lang Gemeinderätin der Kommunistischen Partei und ist vielen Menschen bis heute lebhaft in Erinnerung.
Die Künstlerin Katharina Hofer hat das Leben der Widerstandskämpferin dargestellt. Sie erklärt gegenüber der WZ, was ihr Projekt nicht enthält: „Monumentales, Statisches, eine Installation, eine Gedenktafel, etwas Bleibendes.“ Was sie hingegen will: „Eine Lebendigkeit schaffen, etwas, was sich entwickelt.“ Also gibt es ein rotes Auto, das alle sechs Wochen in Hallein umgeparkt wird und auf dem Informationen zu Primocic und ein QR-Code, der zu Podcasts führt, zu finden sind. Damit soll die Jugend direkt angesprochen werden. Ein Auto deshalb, weil Hofer aufgefallen ist, dass Primocic „für ihre Zeit extrem mobil und sehr viel unterwegs war - mit dem Fahrrad, das sie sich als Arbeiterin in einer Tabakfabrik leisten konnte, und der Bahn. Um zu helfen und Widerstand zu leisten.“ Hofer hat einen „Hörspaziergang“ gestaltet, der an für Primocic zentrale Stellen in Hallein führt. Weil die Zeitzeug:innen aussterben, sei es ihr wichtig gewesen, dass in den Podcasts Menschen „unmittelbar und aus ganz unterschiedlichen Gruppen“ zu Wort kommen, die sich mit der Person Primocic, dem NS-Widerstand und dem Holocaust beschäftigt haben. Und es gibt ein Schulprojekt, in dem die Schüler:innen einen eigenen „Hörspaziergang“ gestalten sollen. Gleich wie in Neumarkt war das Interesse der Menschen an der Aktion groß. Irritation gab es in Hallein kaum: „Das hängt damit zusammen, dass Primocic sehr alt wurde und fast jeder hier sie kannte“, sagt Ruep.
Streit um Deserteure bis heute
Eine weitere Aktion ist in Vorbereitung, der künstlerische Ideenwettbewerb wurde ausgeschrieben. Hier geht es um sechs Deserteure, die sich während des Zweiten Weltkrieges in der Gegend um Goldegg im Pongau versteckt hatten. Sie wurden am 2. Juli 1944 von 1.000 Männern der SS und 60 Angehörigen der Gestapo umstellt, nur einer kam mit dem Leben davon. Unterstützer der Deserteure, darunter viele Frauen, wurden ins KZ verschleppt. Es sei bis heute nicht gelungen, in Goldegg „adäquat“ an diese Deserteure zu erinnern, sagt Historiker Lichtblau. Sie werden in der Ortschronik von 2008 als „Landplage“ bezeichnet. Eine Überarbeitung der Chronik würdigt die Deserteure ebenfalls nicht explizit als Widerstandskämpfer. Weil das Konfliktpotenzial groß ist, wird die Kunstaktion ab Mai 2024 in St. Johann und nicht in Goldegg stattfinden und des „Unterstützungs-Widerstands“ gedenken. Bis heute werden die Deserteure in Goldegg kritisch beurteilt. Ein Gedenkstein, der schließlich durchgesetzt werden konnte, wurde geschändet.
Für Lichtblau ist jedenfalls klar, dass herkömmliche Heldendenkmäler „ein erbärmliches Zeichen“ sind. Und dass NS-Aufarbeitung auch eine therapeutische Funktion haben kann: „Jedes Sprechen ist besser als Schweigen.“ In diesem Zusammenhang verweist der Historiker auf eine interaktive Audioskulptur in Linz, die widerständigen Frauen während der NS-Zeit gewidmet und mit „5 vor 12“ betitelt ist. Dort treffen einander jeden Samstag pünktlich fünf Minuten vor zwölf Uhr Frauen. Einfach nur, um laut zu schreien.
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Infos und Quellen
Genese
Bei einem Treffen des burgenländischen Kameradschaftsbundes ist WZ-Redakteur Michael Schmölzer mit Formen des Gedenkens an die Gefallenen des Zweiten Weltkrieges konfrontiert worden, die ihm gestrig und verstaubt erschienen. Auf der Suche nach neuen Ansätzen und Blickwinkeln ist er auf das Salzburger Projekt „Orte des Gedenkens“ gestoßen.
Gesprächspartner:innen
Albert Lichtblau: Der Professor für Geschichte an der Universität Salzburg konnte viele weiterführende Hinweise auf andere innovative Projekte geben.
Bernhard Gwiggner: Der Bildhauer wusste viel über die Konflikte zu erzählen, die seine spektakuläre künstlerische Intervention in Neumarkt am Wallersee ausgelöst hat.
Katharina Hofer: Die Künstlerin machte dem Autor im Gespräch klar, worum es bei dem Projekt „Orte des Gedenkens“ im Kern geht.
Stefanie Ruep: Der Sprecherin des Projekts danke ich für wichtige Basisinformationen. Zudem hat sie die Kontaktaufnahme zu den oben Genannten ermöglicht.