Im Dezember könnten die formellen Beitrittsgespräche starten. Die EU-Mitgliedschaft selbst, die seit drei Jahrzehnten angestrebt wird, ist aber noch weit entfernt. Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Wie wurde die Ukraine zum EU-Beitrittskandidaten?
Seit der Unabhängigkeit 1991 wird in der Ukraine ein EU-Beitritt angestrebt. Ein erstes Partnerschafts- und Kooperationsabkommen mit der EU wurde am 14. Juni 1994 unterzeichnet und trat im März 1998 in Kraft. Seither gab es ein Ringen zwischen proeuropäischem und prorussischem Kurs, das zur Orangen Revolution im November 2004 nach dem Wahlsieg des von Russland unterstützten Wiktor Janukowytsch bei der Präsidentenwahl führte. Diese wurde danach wiederholt – diesmal gewann sein Herausforderer Wiktor Juschtschenko. Bei den nächsten Wahlen 2010 wurde Janukowytsch zum Präsidenten gewählt, blieb es aber nicht die vollen fünf Jahre. Denn im November 2013 wollte die damalige Regierung überraschend ein geplantes Assoziierungsabkommen mit der EU nicht unterzeichnen; es kam zum Euromaidan: Hunderttausende demonstrierten für eine europäische Zukunft des Landes, es kam auch zur Gewalteskalation, die zur Absetzung von Präsident Janukowytsch führte. Währenddessen annektierte Russland die Halbinsel Krim. Im selben Jahr wurde das insgesamt 1.200 Seiten umfassende Assoziierungsabkommen mit der EU geschlossen. Am 24. Februar 2022 griff Russland die Ukraine an, nur vier Tage später stellte diese ihren Antrag auf den EU-Beitritt. Am 23. Juni 2022, vier Monate nach Kriegsbeginn, erhielt die Ukraine den offiziellen Status eines EU-Beitrittskandidaten.
Wie stehen Europas Bürger:innen dazu?
Im September 2023 wurde die EU-Bevölkerung zur Unterstützung für die Ukraine befragt. 86 Prozent befürworten die Fortsetzung der humanitären Hilfe für die vom Krieg betroffenen Menschen, 77 Prozent akzeptieren die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen in der EU, und 71 Prozent sprechen sich für Wirtschaftssanktionen gegen Russland aus. 65 Prozent sind für finanzielle und wirtschaftliche Unterstützung für die Ukraine, ebenso viele meinen, die EU solle den Weg der Ukraine zur europäischen Integration ebnen und ihre Integration in den Binnenmarkt unterstützen. Waffenlieferungen der EU an die Ukraine befürworten hingegen nur 57 Prozent.
Wer sind die größten Befürworter einer ukrainischen EU-Mitgliedschaft?
Die stärkste Unterstützung kam zunächst aus Polen und den baltischen Staaten. Auch Deutschland, Frankreich, Italien und Rumänien stellten sich klar auf die Seite der Ukraine. Die großen EU-Staaten befürworten also grundsätzlich eine Aufnahme der Ukraine. Gerüchteweise sollen noch im Dezember formelle Beitrittsgespräche starten. Paul Schmidt, Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik, sieht hier „ein Zeitfenster von zwei, drei Jahren“, das die Befürworter des EU-Beitritts nutzen sollten, um Fakten zu schaffen. Denn die nächsten EU-Wahlen sowie jene in wichtigen europäischen Staaten wie Frankreich, Italien oder Deutschland, aber auch in den USA, könnten hier die politische Haltung verändern. In der Slowakei wackelt die Unterstützung bereits, und Ungarns Regierungschef Viktor Orban pflegt bekanntlich gute Beziehungen zu Russlands Präsidenten Wladimir Putin. Allerdings hat auch Orban beim EU-Gipfel im Juni 2022 für den Kandidatenstatus gestimmt. Vasyl Khymynets, Botschafter der Ukraine in Österreich, warnt im Gespräch mit der WZ, dass man im Annäherungsprozess keine Zeit verlieren sollte: „Das ist weder im Interesse der Ukraine noch unserer europäischen Partner. Je dynamischer dieser Prozess, desto schneller werden auch Reformen Wirksamkeit zeigen – und desto schneller werden die EU-Partner davon profitieren.“
Was sagen die Skeptiker?
Orban hat zuletzt gebremst mit dem Argument: „Wir hatten noch nie den Beitritt eines Landes, das sich im Krieg befindet.“ Und mit Blick auf die unsicheren territorialen Verhältnisse in der Ukraine und den Kriegszustand mit Russland sei es derzeit nicht wahrscheinlich, eine geteilte Ukraine in die EU aufzunehmen, erklärt der sicherheitspolitische Analytiker Gunther Hauser von der Donauuniversität Krems. Deshalb werde sich die EU nicht auch noch die Ukraine antun, solange Russland nicht vollends aus dem Land zurückgedrängt sei. Abseits der Realpolitik muss ein Staat, der Mitglied der Europäischen Union werden will, zahlreiche Kriterien („Kopenhagener Kriterien“) erfüllen, von stabilen Institutionen, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit über eine funktionsfähige Marktwirtschaft bis zur Übernahme von EU-Recht und -Standards. Als größtes Problem in der Ukraine wird die Korruption angesehen. Im Juni 2023 berichtete die Frankfurter Allgemeine, dass das Land Diplomaten zufolge erst zwei von sieben Auflagen für den EU-Beitritt erfüllt habe. Botschafter Khymynets stellt allerdings im Gespräch mit der WZ klar, dass die Ukraine ihre Hausaufgaben laut Auflagen bereits gemacht habe, um mit den Beitrittsverhandlungen beginnen zu können. Der Fortschrittsbericht wurde vor kurzem in Kiew den Botschafter:innen der EU-Länder präsentiert. „Die Bekämpfung der Korruption ist ja auch in unserem eigenen Interesse. Wir sind uns aber bewusst, dass wir noch vieles tun müssen.“ Nicht zuletzt der enorme Digitalisierungsschub, den sein Land in den vergangenen Jahren erlebt habe, sei ein wichtiger Schritt gegen die Korruption. Khymynets wünscht sich jedenfalls „einen vertrauenswürdigen und sachlichen Dialog mit der EU“.
Was würde der Beitritt für die Machtverhältnisse in der EU bedeuten?
Der schottische Politologe Michael Keating hat darauf hingewiesen, dass die Ukraine mit ihren rund 40 Millionen Einwohnern der fünftgrößte EU-Staat mit der größten Landmasse wäre, was das Zentrum Europas nach Osten verschieben würde. Eine neue Achse Warschau-Kiew könnte dann mit der traditionellen Achse Paris-Berlin konkurrieren.
Will die ukrainische Bevölkerung in die EU?
Auf jeden Fall, sagt Botschafter Khymynets. „Die EU-Perspektive wird von 80 Prozent der Bevölkerung unterstützt. Die Ukraine war seit der Unabhängigkeit immer proeuropäisch orientiert. Und heute verteidigen die Ukrainier:innen mutig und aufopferungsvoll jene Werte, ohne welche die EU gar nicht existiert hätte.“ Spätestens seit dem Krieg, meint ÖGfE-Generalsekretär Schmidt dazu, „ist es auch eine Frage des Überlebens.“ Khymynets betont, dass es jetzt noch gar nicht um den Beitritt selbst geht, sondern einmal um den Beginn der Beitrittsverhandlungen. „Wie lange diese dauern werden, weiß man noch nicht. Aber es ist wichtig, dass wir mehrmals gezeigt haben, dass wir Entscheidungen sehr schnell umsetzen können. Warum sollen wir warten, wenn alle Voraussetzungen dafür geschaffen wurden?“
Wie würde Russland auf einen EU-Beitritt reagieren?
Der vermeintlich drohende Nato-Beitritt der Ukraine war für Präsident Putin der Anlass für seinen Angriffskrieg. In Bezug auf einen EU-Beitritt gibt er sich deutlich entspannter: Da die EU kein Militärbündnis sei, habe er kein Problem damit, erklärte er im Juni 2022. Ob die Mitgliedschaft für die Ukraine sinnvoll sei, müsse sie selbst wissen. Russland werde die Situation aber sehr genau beobachten, ergänzte sein Sprecher Dmitri Peskow damals.
Wäre ein EU-Beitritt ein Schutz für die Ukraine gegen Russland?
Die Beistandsklausel im EU-Vertrag Artikel 42 (7) besagt: „Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung, im Einklang mit Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen.“ Das schließt wohl auch militärische Mittel ein, was ein Stück weit erklärt, warum die EU kein kriegführendes Land aufnehmen will. De facto zählt in Europa aber ohnehin in erster Linie die Beistandspflicht der Nato, da die allermeisten EU-Mitglieder – mit Ausnahme Irlands, Maltas, Österreichs und Zyperns – Nato-Staaten sind. Und der Nato-Beitritt der Ukraine könnte sogar vor dem EU-Beitritt erfolgen, meint Hauser. In den USA gebe es nämlich durchaus Gedankenspiele, sie ohne die russisch besetzten Gebiete aufzunehmen, „als eine Art BRD/DDR-Modell“, wie er es formuliert.
Macht die EU der Ukraine falsche Hoffnungen?
Hoffentlich nicht. Die Türkei und Serbien sollten Beispiel genug dafür sein, dass das ein schwerer Fehler wäre. Beide Länder wurden jahre- oder gar jahrzehntelang von der EU hingehalten, was zur Folge hat, dass Serbiens enttäuschte Regierung näher in Richtung Russland gerückt ist, und auch das Verhältnis der Türkei zur EU beschreibt man am besten als frostig. Was die Ukraine betrifft, so glaubt ÖGfE-Generalsekretär Schmidt nicht an einen raschen Beitritt, auch weil in den EU-Hauptstädten die Unterstützung für eine EU-Mitgliedschaft derzeit nicht so stark sein dürfte, wie das EU-Kommission und EU-Parlament gerne hätten. Er sieht aber im Vergleich zu früheren EU-Erweiterungsprozessen schon „eine andere Zeitrechnung, eine andere Geschwindigkeit, mit der wir unterwegs sind“, begründet durch die neuen geopolitischen Gegebenheiten. Und während früher die Verwaltungs- und Beamtenebene zu treiben versuchte und die Politik eher desinteressiert war, ist es heute umgekehrt: Die Politik ist der große Treiber, „und wir werden sehen, wie rasch die anderen Ebenen mitziehen können“, meint Schmidt. Seitens der Ukraine gibt man sich übrigens gar nicht so fordernd. Botschafter Khymynets weist explizit darauf hin, „dass es jetzt einmal um Beitrittsgespräche geht und nicht um den Beitritt selbst.“ Das nächste Ziel sei es, diese Verhandlungen gleich zu starten. „Das wäre ein nächster logischer Schritt und schon ein großer Fortschritt.“
Was kostet der Wiederaufbau in der Ukraine?
Rund 720 Milliarden Euro – diese Zahl nannte der ukrainische Premier Denys Schmyhal im Juli 2022 als Kosten für den Wiederaufbau in der Ukraine. Und das war vor mehr als einem Jahr; seither wurde weiterhin gekämpft und zerstört. „Die Realität ist, dass buchstäblich jeden Tag die ukrainische Infrastruktur und die Bevölkerung den russischen Angriffen ausgesetzt sind“, sagt dazu Botschafter Khymynets, der fordert, dass deshalb vor allem Russland für diese enormen Schäden bezahlen müsse, „die mit jedem Tag Krieg immer größer werden.“ Er glaubt aber auch an einen gemeinsamen Kraftakt der internationalen Gemeinschaft, „die nach dem Zweiten Weltkrieg gezeigt hat, was möglich ist.“
Was würde ein ukrainischer EU-Beitritt für den österreichischen Arbeitsmarkt bedeuten?
Gerade im Pflegebereich ist eine verstärkte Arbeitsmigration aus der Ukraine eine interessante Perspektive. Schmidt sieht hier Chancen und Möglichkeiten, die man nutzen sollte; das Glas sei „eher halbvoll als halbleer“. Mit Blick auf die vergangene EU-Osterweiterung stellt er fest, dass es „natürlich einen Wettbewerbsdruck gegeben hat, weil die sozialen Standards und der Arbeitsmarkt nicht so weit entwickelt waren wie bei uns“. Bis heute ist Lohndumping ein Problem bei Entsendungen. Auf der anderen Seite seien viele Fachkräfte ins Land gekommen, insbesondere im Pflege- und Gesundheitsbereich sowie in der Landwirtschaft, „die existenziell sind, wie Corona gezeigt hat.“ Letztlich sei die Osterweiterung ein Erfolg gewesen. Und wie damals könnte man auch jetzt auf lange Übergangsfristen setzen. Botschafter Khymynets verspricht, „dass der ukrainische Staat weiterhin alles tun wird, um europäische Rahmenbedingungen zu schaffen sowohl für die Arbeitgeber als auch für die Arbeitnehmer.“ Zum Beispiel soll das Modell der Sozialpartnerschaft im Land ausgebaut werden. Und er ist überzeugt, dass der ukrainische Markt für österreichische Firmen künftig noch interessanter sein werde. Als EU-Land würde sich die Ukraine natürlich leichter tun bei der Umsetzung von Reformen. Auch die EU müsse sich entsprechend vorbereiten, sagt Schmidt, von den Finanzen bis zur Agrarpolitik. „Wenn alles gleichbleibt, schaffen wir es nicht. Aber wenn es gelingt, dass wir uns fit für diese Erweiterung machen, werden die Vorteile überwiegen.“
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Infos und Quellen
Genese
Ein Ende des Krieges in der Ukraine ist derzeit nicht in Sicht. Trotzdem ist davon die Rede, dass im Dezember 2023 die EU die Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine starten soll. WZ-Redakteur Mathias Ziegler hat deshalb nachgefragt, wie realistisch ein EU-Beitritt ist und was er bedeuten würde.
Gesprächspartner
Gunther Hauser, Lehrbeauftragter am Zentrum für Europäische Integration und Wirtschaftsrecht an der Donauuniversität Krems
Vasyl Khymynets, Botschafter der Ukraine in Österreich
Paul Schmidt, Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE)
Quellen
Das Thema in der Wiener Zeitung
Das Thema in anderen Medien
Deutschlandfunk: „Wie stehen die Chancen auf einen schnellen EU-Beitritt?“
Euronews: „Was würde passieren, wenn die Ukraine der EU beitreten würde?“
Frankfurter Rundschau: „Auf einmal geht alles schnell: EU-Beitritt der Ukraine soll noch im Dezember verhandelt werden“
NDR: „Putin hat nichts gegen EU-Perspektive für die Ukraine: ‚Souveräne Entscheidung jedes Landes‘“
Frankfurter Allgemeine: „Brüssel bescheinigt Kiew Fortschritte“