PodcastImmer mehr junge Erwachsene landen in Wien in der Wohnungslosenhilfe – auch jene, die nie auf der Straße waren. Milena kämpfte mit Depressionen, Drogen und Verlust. Heute wohnt sie im neunerhaus in Döbling und hofft auf einen Neuanfang.
Von draußen dringt das leise Brummen der Autos in den Workshopraum der Billrothstraße 9 in Döbling. Am Tisch sitzt eine junge Frau: Milena*. Ihr Hund wuselt um sie herum, sie nimmt ihn auf den Schoß, holt einmal tief Luft. Dann beginnt sie zu erzählen. Ruhig, gefasst, von ihrer Geschichte. Von einer Zeit, in der sie zwei geliebte Menschen verloren hat – und beinahe sich selbst.
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Milenas Kindheit ist von einem abwesenden, gewalttätigen Vater geprägt. Und von einer inneren Unruhe, gepaart mit tiefer Traurigkeit: Oft sitzt sie allein in ihrem Zimmer, weint, denkt über den Sinn des Lebens nach. Schon früh sucht sie nach Wegen, die innere Leere zu betäuben. Sie kifft, nimmt chemische Substanzen, raucht schließlich Heroin. Dann folgt der erste Entzug. In der Klinik lernt sie ihren Freund kennen, draußen werden beide rückfällig. Kurz danach stirbt Milenas Mutter durch einen Unfall, ihr Freund verliert immer mehr die Kontrolle, spritzt sich das Gift heimlich. Fast jeden Abend sucht Milena nach der Arbeit auf der Gumpendorfer Straße nach ihm.
Wenige Monate nach dem Verlust ihrer Mutter wird ihre schlimmste Befürchtung wahr: Ihr Freund ist tot, gestorben an einer Überdosis. „Das war für mich der Moment, in dem alles zusammenbrach“, erinnert sich Milena. Sie zieht zurück in ihre Kindheitswohnung zu ihren Geschwistern, verfällt in eine schwere Depression, kämpft sich erneut durch Klinikaufenthalte und Therapien. „Ich habe meine Geschwister mit meinem Zustand sehr belastet. Irgendwann war klar, dass ich ausziehen muss“, erzählt sie.
Über eine Bekannte erfährt sie vom neunerhaus Billrothstraße, das als Chancenhaus wohnungs- und obdachlose Personen im Alter von 18 bis 30 Jahren unterstützt. Doch Milena hat Angst. Angst, dass ihre Geschwister sie nach ihrem Auszug vergessen könnten. Angst, dass sie ohne sie keinen Grund zum Aufstehen findet. Schließlich greift sie zum Telefon und sagt: „Ich brauche dringend Hilfe. Ich muss mich stabilisieren und zur Ruhe kommen.“
Kein Netz, kein Zuhause
Viele der Bewohner:innen in der Billrothstraße sind psychisch stark belastet, kommen aus schwierigen familiären Verhältnissen, in denen wenig bis keine Unterstützung vorhanden war. Die meisten waren zuletzt bei Bekannten oder Verwandten untergekommen, einige auch in Wohngemeinschaften der Kinder- und Jugendhilfe (MA 11) untergebracht. Mit dem Ende der staatlichen Betreuung sind sie sogenannte Care Leaver.
„Zwischen 18 und 30 passiert enorm viel – man entwickelt sich weiter, sucht nach Orientierung, nach Zielen“, erklärt Paul Praschak, neunerhaus-Sozialarbeiter in Döbling, im WZ-Interview. Fehlt in dieser wichtigen Phase der sichere Rahmen, breche vieles weg. „Man fällt leicht durch alle sozialen Raster“, sagt Praschak und erinnert sich: „Wenn ich selbst mit 18 ohne Unterstützung, ohne Familie oder soziale Netzwerke dagestanden wäre, hätte ich das auch nicht einfach so geschafft.“
Der Sozialarbeiter erzählt, dass seine Klient:innen Vertrauen oft erst erlernen müssen, da es in der Vergangenheit missbraucht wurde, und dass die Annahme von Hilfe oft mit Scham einhergeht. Um auf diese Herausforderungen einzugehen und einen familiären Charakter zu behalten, ist das Chancenhaus mit 41 Plätzen bewusst klein gehalten. „Wir sind bummvoll belegt, das Telefon läutet jeden Tag. Die Nachfrage ist enorm“, erzählt Praschak.
Was er in der Billrothstraße erlebt, spiegelt sich auch in den Zahlen: In Wien ist laut Statistik Austria ein Drittel der registrierten Wohnungslosen zwischen 18 und 30 Jahre alt. Über ein Fünftel der Wohnungslosen in Österreich ist unter 24. Im Jahr 2024 betrug das Durchschnittsalter der Bewohner:innen im neunerhaus Billrothstraße 23,3 Jahre. Die Jugendnotschlafstelle a_way der Caritas verzeichnete in den vergangenen 20 Jahren mehr als 58.000 Nächtigungen. „Junge Wohnungslosigkeit ist keine Randerscheinung, sie muss endlich stärker sichtbar werden“, sagt Caritas-Wien-Direktor Klaus Schwertner bei einer Pressekonferenz Anfang Oktober.
Rückschritt statt Reform?
Doch auf struktureller Ebene zeigen sich Lücken. „Die Übergänge von der Jugendhilfe ins Erwachsenensystem sind seit Jahren ein ungelöstes Problem – und das, obwohl die Lösungen längst auf dem Tisch liegen“, sagt Elisabeth Hammer, Geschäftsführerin des neunerhaus, im Gespräch mit der WZ. Gemeinsam mit Organisationen wie der umbruchstelle fordert sie, dass Ansprüche auf Betreuung in der Jugendhilfe bis zum 24. Lebensjahr verlängert werden.
Die Wiener Kinder- und Jugendhilfe (MA 11) verweist gegenüber der WZ darauf, dass Care Leaver bereits bis zum 24. Lebensjahr kostenlose Beratung in Anspruch nehmen können – allerdings nur im Ausmaß von 45 Stunden. Eine österreichweit einheitliche gesetzliche Regelung besteht derzeit nicht. Das Büro von Sozialstadtrat Peter Hacker betont, dass Prävention im Mittelpunkt stehen müsse, um Jugendwohnungslosigkeit zu bekämpfen. Man begrüße eine bundesweite Strategie.
Hammer warnt außerdem vor einem politischen Rückschritt: „In einer Stadt wie Wien, die sich zu Recht als soziale Stadt versteht, darf es keine rückwärtsgewandte Politik im Bereich Wohnungslosenhilfe geben.“ Sie kritisiert die geplanten Sparmaßnahmen im Sozialbereich: „Wir brauchen Investitionen und Ausbau, keine Kürzungen.“
Auch die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAWO), deren Obfrau Hammer ist, sieht dringenden Handlungsbedarf. Junge Menschen seien am Mietmarkt strukturell benachteiligt, heißt es in einem Statement gegenüber der WZ: Mehr als 40 Prozent der unter 30-Jährigen leben in befristeten Wohnungen, die im Schnitt deutlich teurer sind als unbefristete.
Mein Leben hat sich um 180 Grad verändertMilena, Klientin neunerhaus
Notwendig seien laut BAWO mehr leistbarer Wohnraum, ein flächendeckender Ausbau von Angeboten zur Vermeidung von Wohnungsverlust sowie besser zugängliche Hilfsangebote für wohnungslose Menschen. Auch das Programm „Wohnschirm Housing First“ des Sozialministeriums müsse auf Bundesebene gestärkt werden – es vermittelt leistbare Wohnungen an Menschen, die ihre Wohnungslosigkeit nicht aus eigener Kraft beenden können. Seit Beginn des Programms im Oktober 2024 konnten laut Sozialministerium 1.315 Anträge bewilligt und 853 Personen unterstützt werden.
Neue Routinen, neues Vertrauen
Zurück zu Milena. Seit vier Jahren ist die 28-Jährige clean vom Heroin und substituiert, seit Februar wohnt sie im Chancenhaus in der Billrothstraße. „Seit ich hier bin, hat sich mein Leben um 180 Grad verändert“, sagt sie. Das Aufstehen fällt ihr leichter, sie sucht Kontakt zu anderen Bewohner:innen, sitzt im Innenhof, duscht regelmäßig, kocht. Abends vor dem Schlafengehen schaut sie gerne ihre Lieblingsserie Grey’s Anatomy: „Ich habe gelernt, Zeit mit mir selbst zu verbringen und zu genießen. Gleichzeitig liebe ich die Gemeinschaft hier.“
Auch zum Arbeiten hat Milena wieder Motivation, am liebsten mit Menschen. Nächstes Jahr möchte sie sich erneut als Peer, also als Mitarbeiterin mit eigener Erfahrung in der Wohnungslosenhilfe, bewerben: „Ich habe ja selbst erlebt, wie viel es bringt, wenn jemand dich versteht, weil er Ähnliches durchgemacht hat.“
Sie glaubt außerdem fest daran, bis nächsten Sommer eine eigene Wohnung zu finden.
Eine Eigenschaft, die Milena besonders an sich schätzt? Sie muss nicht lange überlegen: „Meine Empathie – und dass ich eigentlich viel stärker bin, als ich oft glaube.“
*Name von der Redaktion geändert
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Infos und Quellen
Gesprächspartner:innen
- Milena (Name geändert), Klientin im Chancenhaus Billrothstraße
- Paul Praschak, Sozialarbeiter im Chancenhaus Billrothstraße
- Elisabeth Hammer, Geschäftsführerin neunerhaus
- Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAWO)
- Wiener Kinder- und Jugendhilfe (MA 11)
- Büro von Peter Hacker, Stadtrat für Soziales
- Sozialministerium
Daten und Fakten
- Im Jahr 2023 waren laut Statistik Austria 20.573 Menschen offiziell als obdach- oder wohnungslos registriert. 55 Prozent davon lebten in Wien, 32 Prozent sind Frauen und 21,3 Prozent unter 24 Jahre alt.
- Obdachlose leben ohne Unterkunft im öffentlichen Raum, während Wohnungslose zwar keine eigene Wohnung haben, aber ein Obdach, indem sie beispielsweise vorübergehend bei Freund:innen oder Bekannten unterkommen.
- Laut einer Befragung des Fonds Soziales Wien aus dem Jahr 2020 sind die Ursachen für Obdach- und Wohnungslosigkeit vielschichtig und greifen oft ineinander. Am häufigsten nannten Betroffene Arbeitslosigkeit (40 %), gefolgt von finanziellen Schwierigkeiten oder leichtsinnigem Umgang mit Geld (30 %) sowie Trennung oder Scheidung (29 %). Zudem spielten psychische Probleme (25 %), körperliche Erkrankungen (23 %) und familiäre oder partnerschaftliche Konflikte (20 %) eine wesentliche Rolle. Diese Faktoren wirken häufig zusammen und können sich gegenseitig verstärken.
- Die Sparmaßnahmen der Stadt Wien betreffen kommendes Jahr nahezu alle Bereiche, besonders jedoch den Sozialbereich: Rund 200 Millionen Euro sollen durch Kürzungen bei der Mindestsicherung eingespart werden – etwa durch die Überführung subsidiär Schutzberechtigter in die Grundsicherung, durch das Streichen von Zuschlägen und Sonderzahlungen sowie eine Neuberechnung der Wohnkosten. Auch beim Fonds Soziales Wien werden Leistungen nur noch unterhalb der Inflation angepasst und gezielter ausbezahlt.
- Das neunerhaus Billrothstraße ist ein Chancenhaus für wohnungs- und obdachlose junge Erwachsene zwischen 18 und 30 Jahren, die schnell und unbürokratisch Unterstützung brauchen. Es bietet 41 befristete Wohnplätze in Einzel- und Doppelzimmern, einen Frauenbereich, gemeinschaftlich nutzbare Räume, Grundversorgung mit Lebensmitteln und Hygieneartikeln sowie medizinische und sozialarbeiterische Betreuung.
- Das JUCA – Haus für junge Erwachsene der Caritas Wien bietet Wohnplätze für 18- bis 27-Jährige in Krisensituationen, sowohl kurzfristig als auch längerfristig. Neben Unterkunft in betreuten Wohneinheiten erhalten die Bewohner:innen soziale Unterstützung, Hilfe im Alltag und können durch hausinterne Projekte wie Werkstatt oder Lernküche Taschengeld verdienen.
- Das Tageszentrum Obdach aXXept von Obdach Wien unterstützt 18- bis 35-jährige Wohnungslose mit Grundversorgung, Beratung und Freizeitangeboten. Neben Duschen, Küche und WLAN bietet es Hilfe bei Wohn- und Gesundheitsfragen und stärkt durch kreative Aktivitäten das Selbstwertgefühl und die Stabilisierung der Besucher:innen.
Quellen
- Mein Bezirk: Wohnungslosigkeit junger Menschen als oft übersehenes Problem
- Caritas Wien: JUCA – Haus für junge Erwachsene
- Kronen Zeitung: Kürzungen, Gebühren – Das werden die Wiener in ihrer Geldbörse spüren
- Neunerhaus Billrothstraße: Chancenhaus für junge Erwachsene
- Obdach Fonds Soziales Wien: Hintergründe Obdach- und Wohnungslosigkeit und Obdach aXXept
- Statistik Austria: Kennzahlen zu registrierter Obdach-und Wohnungslosigkeit
Das Thema in der WZ
Das Thema in anderen Medien
- Falter: Kinderzimmer auf der Straße
- Die Presse: 16 Jahre – und plötzlich wohnungslos
- Der Standard: Warum wohnungslose Mütter unsichtbar sind
- wien.orf.at: Caritas warnt vor Jugendwohnungslosigkeit
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