Mehrere Generationen unter einem Dach, funktioniert das? Wir waren im „Haus Wieden“ zu Besuch, in dem Senior:innen mit Student:innen wohnen. Und, ja: Es funktioniert.
„Ich heiße Meth – so wie Crystal Meth, aber mit Vornamen Gerda.“ Wenn sich eine 85-Jährige so vorstellt, lässt sich schon erahnen, dass hier die Zeit nicht stehen geblieben ist. „Ich hab sie mit Meth im Handy eingespeichert“, meint dazu lächelnd der 31-jährige Imad Khchifati, während er Wasser in ihr Glas füllt. Er studiert Maschinenbau an der Technischen Universität Wien und sitzt mit der Seniorin mit dem weißen Pagenkopf am Kaffeehaustisch ihres gemeinsamen Zuhauses: das Pensionisten-Wohnhaus Wieden des Kuratoriums Wiener Pensionisten-Wohnhäuser der Stadt Wien. Dieser Standort der „Häuser zum Leben“ im 4. Wiener Gemeindebezirk bietet unter anderem betreutes Wohnen für Senior:innen an und: Doppelwohnungen mit je 45 Quadratmetern für junge Menschen in Ausbildung, die sich mit ihren älteren Mitbewohner:innen die Gemeinschaftsräume, die Waschküche, den Garten – also den gesamten Alltag – teilen.
Khchifati lebt seit September 2020 gemeinsam mit seiner früheren Freundin und jetzigen Ehefrau Charlotte hier. Fürs Wohnen zahlen die beiden je rund 240 Euro – Teil der Miete ist, 25 Stunden pro Monat bei den Senior:innen mitzuhelfen, etwa: Ausflüge zu unternehmen („Frau Meth liebt den Flieder im Volksgarten.“), Rollstühle bei Spaziergängen zu schieben, die Senior:innen zum Arzt zu begleiten oder mit der unternehmenseigenen Rikscha durch Wien zu führen. Auch Unterstützung bei technischen Dingen wie dem Handy oder dem Internet zählt dazu, die Pflege der Bewohner:innen aber nicht.
Selbst putzen und Wäsche waschen
Die Student:innen müssen allerdings einen Erste-Hilfe-Kurs absolvieren. Falls sie wollen, können sie auch an unterschiedlichen Fortbildungen für die Mitarbeiter:innen teilnehmen. Anders als die Senior:innen kommen die jungen Bewohner:innen nicht in den Genuss von gratis Frühstück, Essen, einer Putzfrau, die jeden Tag das Bett macht, oder einem Wäschedienst. Die Förderungen über den Fonds Soziales Wien, wie es sie für Senior:innen gibt, deren Pflegegeld und Pension nicht reichen, freilich auch nicht.
Meths Handy klingelt. „Ich kann jetzt nicht, ich ruf` dich gleich zurück“, sagt sie und legt das Handy auf den Rollator zurück, der neben dem Kaffeehaustisch parkt. „Ich hab ein trottelsicheres Handy, telefoniere damit nur und schreibe WhatsApp-Nachrichten.“ Und andere technische Geräte? Ja, ein Tablet habe sie auch, sagt Meth und streicht sich ihr rosa T-Shirt glatt. „Mit dem spiele ich aber nur Solitär.“ Hin und wieder gehe sie allerdings schon auch auf Nachrichtenseiten: „Dann weiß ich gleich die ganzen Neuigkeiten.“
Das Leben mit den jungen Menschen im Haus findet sie „befruchtend und schön“. Mittlerweile, denn gewisse Vorbehalte habe freilich auch sie gehabt. „Die Jungen gehen den Alten auf die Nerven, und die Alten gehen den Jungen auf die Nerven“ – das habe sie früher so erlebt, und davon sei sie ausgegangen. Selbst dann noch, als zwei Jahre nach ihrem eigenen Einzug ins „Haus Wieden“ Khchifati und seine Freundin dazukamen. Einer der ersten Kontakte zwischen den Dreien sei eine wütende Frau Meth gewesen, die an die Wohnungstür der beiden klopfte, weil sie ihre Wäsche in der Waschküche des Hauses vergessen hatten, erzählt sie. Als Nutzerin des Modells „Betreutes Wohnen" wäscht auch Meth ihre Wäsche bis auf das Bettzeug selbst.
„Ich habe eine ähnliche Geschichte wie die Kriegsgeneration“
Heute klopft sie, um zu plaudern oder etwas zu unternehmen. Das hätte auch Khchifati nie gedacht. Ganz im Gegenteil. „Ich hatte gefürchtet, dass es Feindseligkeiten gegen mich gibt, weil ich dunkle Haare habe und einen dunklen Bart und aus Syrien geflüchtet bin“, erzählt er. Das Gegenteil war der Fall. „Ich habe eine ähnliche Geschichte wie die Kriegsgeneration, ähnliche Traumata. Viele können nicht darüber reden oder wollen es auch nicht - wenn sie aber hören, dass ich aus dem Krieg komme, öffnen sie sich.“
Das Wasser ist ausgetrunken, wir spazieren durch das Wohnhaus, um hinaus in einen der zwei Gärten zu gelangen. Nicht in den „Stinkergarten“, wie Meth den kleineren Garten, der vor allem fürs Rauchen genutzt wird, nennt, sondern in den anderen. „Ah, der Murli“, hört man jemanden aus einer Gruppe Senior:innen, die gerade mit einem bunten Ball Fangen üben, in Richtung Khchifati freundlich rufen – Khchifati grüßt zurück und lacht. Hier sei das nicht böse gemeint, sagt er, die Bewohner:innen seien einfach mit bestimmten Begriffen aufgewachsen, die sie noch immer verwenden. Ähnlich bunt wie der Ball sind die modernen Gemälde unterschiedlicher Größe und Farben, die uns auf dem Weg durch den Gang begleiten. „Diese schrecklichen Bilder“, flüstert Meth mir im Vorbeigehen zu, „was ihnen da wieder eingefallen ist.“
Im Garten kommen wir an einer kleinen Gruppe Senior:innen vorbei, die im Schatten des Hauses einer Betreuerin zuhören, die aus einem Buch vorliest. Khchifati lässt auch hier die Köpfe freudig hochschnellen, als er vorbeigeht, eine Bewohnerin winkt ihm besonders energisch zu. „Ich komm` dann nachher gleich“, ruft er ihr zu. „Das ist Frau Willmann.“ Mit ihr telefoniere er täglich mehrere Male, wenn beide einander nicht ohnehin gerade irgendwo im Haus sehen.
Motorradfahren mit 93
Frau Willmann war es auch, die mit dem Direktor des Hauses, Armin Cehic, Runden auf dessen Motorrad gedreht hat. Sie ist 93 Jahre alt. Mit ihrem eigenen Helm von früher, mit dem Unterschied, dass es damals ihr Mann gewesen war, mit dem sie Motorradtouren unternommen hatte. Auch Frau Meth war schon einmal Motorrad-Beifahrerin: Als Siegerin eines Schätzspiels – die Teilnehmer:innen mussten die Anzahl von Zuckerln schätzen – konnte sie zwischen einer Sachertorte und einer Motorradfahrt mit dem Direktor wählen. „Ich hab` natürlich die Motorradfahrt genommen.“
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Sie fuhren an all den Häusern des 4. Bezirks vorbei, die Meth so vertraut waren, darunter auch jenes, in dem sie 50 Jahre lang gewohnt hatte. Meth hat zwei Töchter, war Hausfrau und Mutter, ihr Mann arbeitete als Anwalt. Mittlerweile hat sie fünf Enkelkinder. Anders als eine Mitbewohnerin, mit der Khchifati oft mit der Straßenbahn zum Zentralfriedhof fährt, besucht Meth ihren verstorbenen Mann nicht regelmäßig. „Er ist bei einem Baum begraben“, erzählt sie. „Da muss man nicht hinfahren, es geht darum, dass man an den Menschen denkt.“
Wir setzen uns auf eine Bank neben einen blühenden Strauch. Von der Straße hört man eine Schulklasse. „Das Schönste, was es gibt, ist Kinderlachen“, meint Meth. Das Lachen verhallt. Khchifati holt kurz Luft, denkt nach und sagt dann: „Jetzt hab` ich vergessen, was ich gerade sagen wollte.“ „Jetzt ziehst schon an von mir.“ Meth lacht.
Wohnbuddys als Vermittler
Als sie vor fünf Jahren nach einem Sturz und einem Spitalsaufenthalt über den Fonds Soziales Wien ins „Haus Wieden“ gekommen ist, sei ihr nicht zum Lachen zumute gewesen, erzählt sie. Die ersten Nächte habe sie durchgeweint. Alles sei so schnell gegangen, so neu gewesen. Nur ein einziger Biedermeierschrank in ihrem Zimmer erinnere sie an ihr früheres Leben – alles andere habe sie zurückgelassen. Auch Khchifati sei ins junge Wohnen im Seniorenheim eher ungeplant „gestolpert“, wie er sagt, und habe es anfangs nicht aus einem altruistischen, also selbstlosen Gedanken heraus aktiv gesucht. „Alles andere war so teuer. Charlotte und ich wollten aber auch irgendetwas Soziales machen.“ Über die Wohnbuddys – eine Plattform, die junge und alte Menschen gegen eine Vermittlungsgebühr beim Thema Wohnen zusammenbringt – seien er und seine heutige Frau fündig geworden.
Im „Haus Wieden“ mit seinen 285 Plätzen sind die beiden zur Zeit die einzigen Student:innen. Insgesamt gibt es 50 Wohnplätze für junges Wohnen in den 30 „Häusern zum Leben“. Von diesen seien 32 Wohnplätze belegt und 18 frei, heißt es auf Nachfrage.
Khchifati würde heute sofort wieder einziehen, sagt er. „Vorher war ich so ungeduldig. Als ich hierhergekommen bin, habe ich gelernt, dass ich Geduld haben muss. Dass gar nicht immer alles so schnell gehen muss und dass es ganz andere Dinge gibt, die wichtig sind.“ Meth sieht Khchifati bewundernd an. „Was er sich da mit uns antut, und er ist immer so freundlich – ich könnte das nie.“