Zum Hauptinhalt springen

„King Bibi“ in der Zwickmühle

6 Min
Die ehemaligen Freunde könnten neue Freunde werden: Für Benjamin Netanjahu (r.) hat Donald Trump (l.) in seiner Amtszeit als Präsident der USA einiges getan.
© Fotocredit: MANDEL NGAN / AFP / picturedesk.com

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu ist Gefangener in einem Geflecht eigener und fremder Interessen. Derzeit hilft ihm der Gazakrieg. Doch seine größte Chance könnte Donald Trump werden.


„King Bibi“ nennen ihn seine Anhänger. Sie haben den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu stets als den Mann verstanden, der alle Fäden in der Hand hält, mit denen der Staat Israel zusammengenäht ist. Er selbst würde dem Bild nicht widersprechen.

Doch jetzt befindet sich Netanjahu in einer Zwickmühle. Je länger der Krieg gegen die Hamas dauert, desto mehr schwindet seine Beliebtheit – wenngleich aus unterschiedlichen Gründen. Dieser Waffengang zwingt Israel aus moralischen Gründen zunehmend zu immer weniger nachvollziehbaren Rechtfertigungen; er ist aber im Moment Netanjahus einzige Möglichkeit, an der Macht zu bleiben. Einziger Rettungsanker für Netanjahu könnte Donald Trump sein. Doch diese Möglichkeit liegt allein zeitlich in weiter Ferne.

Die Zusammenhänge sind ein beinahe unentwirrbares Geflecht aus Interessen.

Da ist einmal die Wiederaufnahme des Prozesses wegen Korruption. Die Vorwürfe gegen Netanjahu lauten auf Geld- und Geschenkannahmen, außerdem soll er versucht haben, die Presselandschaft Israels zu seinen Gunsten zu beeinflussen. Das Verfahren läuft seit drei Jahren. Nach dem Überfall der Hamas war es allerdings ausgesetzt worden. In der Vergangenheit hatte Netanjahu stets alle Vorwürfe zurückgewiesen und das Verfahren eine „Hexenjagd" genannt. Die Einberufung der Reservist:innen für den Krieg gegen die Hamas macht es denkbar unwahrscheinlich, dass ein Verfahren, das Rechtssicherheit gewährt, derzeit möglich ist.

Netanjahu ist auf seine Koalition angewiesen

Die von Netanjahu angestrebte Justizreform, die ganz in seinem eigenen Interesse darauf abzielte, die Kompetenzen der Gerichte zu schwächen, wurde Anfang Jänner vom Obersten Gericht Israels gestoppt. Will Netanjahu diese Reform in weiteren Anläufen durchboxen, gelingt ihm das nur mit seiner aktuellen ultrarechten Koalition. Diese sieht so aus: Netanjahus Likud kommt auf 32 Sitze, die Parteien der ultraorthodoxen Charedim, Schas und Vereinigtes Thora-Judentum (VTJ), kommen auf 11 (Schas) und 7 (VTJ), dazu kommt 14 Sitze für das ebenfalls ultrarechte Parteienbündnis Religiöser Zionismus.

„Rechts“ definiert sich in Israel nicht über das Verhältnis zum Nationalsozialismus, sondern über den Umgang mit den Palästinenser:innen. „Rechts“ bedeutet zurückdrängen und den Status quo mit dem Siedlungsbau weiterführen, „links“ bedeutet, eine Lösung für eine friedliche Koexistenz mit den Palästinenser:innen zu suchen, etwa durch die Zwei-Staaten-Lösung. Diese schließt der Koalitionsvertrag allerdings von vornherein aus: „Das Jüdische Volk hat ein exklusives und unveräußerliches Recht auf alle Teile des Landes Israel“, heißt es gleich zu Beginn des Vertrags – nur, dass dieses Land Israel unterschiedlich definiert wird. Itamar Ben-Gvir etwa, seines Zeichens Vorsitzender der Partei Otzma Yehudit und Minister für die Nationale Sicherheit Israels, plädiert für eine Rückkehr israelischer Siedler:innen in den Gazastreifen. In diesem Fall wäre zu deren Schutz eine ständige Präsenz des israelischen Militärs notwendig, was einer israelischen Besetzung des Gazastreifens gleichkäme.

Gaza ohne Palästinenser:innen

Andere Regierungsmitglieder sind der Auffassung, man könne den Gazastreifen überhaupt „palästinenserfrei” machen. So hat der israelische Landwirtschaftsminister Avi Dichter, Angehöriger von Netanjahus Likud, gemeint: „Wir setzen gerade die Gaza-Nakba um“ („We are now rolling out the Gaza Nakba“), und der Vorsitzende der Partei HaTzionut HaDatit („der Religiöse Zionismus“) und Finanzminister Bezalel Smotrich dachte laut darüber nach, dass Israel die „freiwillige Ausreise" von Palästinenser:innen aus dem Gazastreifen unterstützen solle; abgesehen davon hätte Israels erster Ministerpräsident David Ben-Gurion seinen „Job beenden und die Araber hinauswerfen sollen“; dass arabischstämmige Bürger:innen Israels Abgeordnete in der Knesset hätten, sei „ein Irrtum“. Der Knesset-Abgeordnete Ariel Kallner von Netanjahus Likud schrieb auf X (vormals Twitter): „Gerade jetzt haben wir ein Ziel: Nakba! Eine Nakba, die die Nakba von 1948 in den Schatten stellen wird. Nakba in Gaza und Nakba für jeden, der es wagt, sich anzuschließen! Ihre Nakba, denn wie damals 1948 ist die Alternative klar.“

Benjamin Netanjahu gegen die Welt

Somit sieht sich Netanjahu konfrontiert mit Radikalforderungen aus der eigenen Partei und seiner Koalitionspartner einerseits und andererseits mit internationalen Forderungen, endlich den Weg für eine Zwei-Staaten-Lösung freizumachen. In diese Richtung drängen sowohl die EU als auch, wichtiger für Israel, die USA. Sowohl deren Präsident Joe Biden als auch Außenminister Antony Blinken haben das deutlich artikuliert. Netanjahus Position ist indessen unverändert: „Israel muss die Sicherheitskontrolle über alle Gebiete westlich des Jordan haben“, das habe er Israels „amerikanischen Freunden“ klargemacht, ließ er nach einem Gespräch mit Biden verlauten.

Freunde werden der israelische Ministerpräsident und der US-Präsident wohl nicht mehr. Doch was, wenn Biden nicht mehr Präsident der USA wäre? Vor dem Hintergrund der Wahlen in den USA am 5. November dieses Jahres stellt sich Netanjahu diese Frage wohl mit Nachdruck.

Kommt es in den USA zu einem Wechsel von Biden zu Donald Trump − den Beobachter für möglich halten −, könnten die Karten neu gemischt sein. Zwar befremdet Trumps außenpolitisches Taumeln, das sich zuletzt darin äußerte, dass er Israels Angst-Gegner, die Hisbollah, als „sehr klug“ bezeichnete, während er mit Netanjahu „schlechte Erfahrungen“ gemacht habe, gewiss auch den israelischen Ministerpräsidenten. Doch Netanjahu kann das als Trumps Tagesverfassung abhaken. Was indessen für Netanjahu zählt, ist, dass Trump als US-Präsident Jerusalem als Hauptstadt Israels anerkannt und den für Israel vorteilhaften Nahost-Plan „Peace to Prosperity“ vorgelegt hat. Der Plan war als Zwei-Staaten-Lösung etikettiert, in Wahrheit aber eine Ein-Staat-Lösung zugunsten Israels, indem er Israel die Annexion großer Teile des Westjordanlandes samt einer ständigen Präsenz israelischer Sicherheitskräfte gestattete.

Neun Monate sind eine lange Zeit

Sollte Netanjahu auf Trump hoffen, wäre das aus der Sicht des israelischen Ministerpräsidenten verständlich. Allerdings steht ihm die Zeit im Weg: Israel führt den Krieg im Gazastreifen mit einer derartigen Intensität, dass aufgrund des eng begrenzten Gebiets allmählich strategisch argumentierbare Ziele für die Militärschläge ausgehen dürften. Zweifellos wird es einen langwierigen Bodeneinsatz geben, und ebenso könnten Neudefinitionen der Kriegsziele den Waffengang verlängern. Doch die rund neun Monate bis zur US-Wahl sind eine lange Zeit.

Vor diesem Hintergrund erklärt sich vielleicht das israelische Angebot einer zweimonatigen Feuerpause im Gegenzug für die Freilassung der Geiseln. Wobei die große Frage ist, was, sollte die Hamas die Geiseln tatsächlich freigeben, nach diesen zwei Monaten geschieht. Eine Fortsetzung des Krieges mit dem wohl unerreichbaren Ziel einer Kapitulation der Hamas ist am wahrscheinlichsten. Denn Quasi-Friedensverhandlungen mit der Hamas könnte Netanjahu vor seinen Wähler:innen nicht argumentieren. Dann nämlich käme die verhasste Zwei-Staaten-Lösung ins Spiel, die von den jüdischen Israelis geradezu als Belohnung für den Terrorüberfall der Hamas und die Entführungen und Ermordungen israelischer Zivilist:innen am 7. Oktober 2023 verstanden würde.

Flächenbombardements befreien keine Geiseln

Gleichzeitig wird die Forderung immer lauter, Netanjahu müsse etwas tun, um die Geiseln endlich heimzuholen. Angehörige von Geiseln stürmten sogar eine Parlamentssitzung und verlangten größere Anstrengungen von den Abgeordneten, um ihre Verwandten freizubekommen. Dass ein Krieg, der vor allem die Zivilbevölkerung des Gazastreifens trifft, dazu ungeeignet ist, hat wohl Netanjahu selbst längst verstanden. Im Moment jedoch schwächt ihn jede Bewegung, die er vollführt, auf einer für ihn relevanten Seite, während sein Verharren auf immer unhaltbarer werdenden Positionen selbst Verbündete wie die USA und die EU, speziell Deutschland, allmählich von ihm abrücken lässt.

So wird es langsam einsam um Benjamin Netanjahu. Stets hat er sich als der Politiker verstanden, dessen Hände die Fäden halten, die Israel zusammenbinden. Die Fäden mögen immer noch stark sein. Die Frage ist indessen, ob und wie lange King Bibi sie noch in Händen halten kann.


Dir hat dieser Beitrag besonders gut gefallen oder du hast Hinweise für uns - sag uns deine Meinung unter feedback@wienerzeitung.at. Willst du uns helfen, unser gesamtes Produkt besser zu machen? Dann melde dich hier an.


Infos und Quellen

Daten und Fakten

  • Der israelische Rechtsanwalt und Politiker Itamar Ben-Gvir (am 6. Mai 1976 in Mewasseret Zion geboren) ist seit Dezember 2022 Minister für die Nationale Sicherheit Israels. Er ist Vorsitzender der Partei Otzma Yehudit („Jüdische Stärke“). Im Jahr 2007 wurde Ben-Gvir von einem israelischen Gericht wegen rassistischer Aufhetzung und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung verurteilt. Ben-Gvir ist einer der wenigen israelischen Politiker, der keine Militär-Karriere aufweist, da er aufgrund seiner extremistischen Provokationen als Jugendlicher vom Armeedienst von vornherein ausgeschlossen war. Als Anwalt vertritt Ben Gvir u.a. Lehava, eine Organisation, die sich gegen Assimilation und gegen „Mischehen“ zwischen Jüdinnen und Juden und Nicht-Jüdinnen und Nicht-Juden auftritt. Ben-Gvir lebt in einer israelischen Siedlung im besetzten Westjordanland.

  • Die Partei Otzma Yehudit („Jüdische Stärke“) ist eine nationalistische religiöse israelische Partei. Sie wurde am 13. November 2012 gegründet. Zu den Forderungen von Otzma Jehudit gehört die Stärkung des jüdischen Charakters des Staates Israel sowie die jüdische Besiedlung aller Teile von „Eretz Israel“, wobei „Eretz Israel“ die Ausdehnung Israels zumindest auf die besetzten und von jüdischen Siedler:innen okkupierten Gebiete bedeutet. Otzma Yehudit wird als rechtsextrem eingestuft.

  • Der israelische Politiker Avi Dichter (geboren am 4. Dezember 1952 in Aschkelon) war von 2000 bis 2005 Direktor des Inlandsgeheimdienstes Schin Bet. Dichter ist das Kind von Überlebenden der Schoah. Von 2006 bis 2009 war er Minister für Innere Sicherheit und von 2012 bis 2013 Minister für Heimatfrontverteidigung. 2011 reichte Dichter den Entwurf für das Nationalstaatsgesetz ein, das den jüdischen Charakter und die nationalen Werte des Staates Israel festschreibt. Das Gesetz wurde 2018 verabschiedet. Dichter ist Mitglied der Likud-Partei.

  • Ariel Kallner (geboren am 5. Juli 1980 in Haifa) ist ein israelischer Politiker der Likud-Partei. Er ist Mitglied des israelischen Parlaments. Noch während seines Management-Studiums initiierte er eine Kampagne gegen den Abkoppelungsplan des israelischen Ministerpräsidenten Ariel Scharon aus dem Jahr 2004 (umgesetzt 2005), demzufolge Israel aus einigen besetzten Gebieten abziehen solle.

  • David Ben-Gurion (geboren am 16. Oktober 1886, gestorben am 1. Dezember 1973) verkündete am 14. Mai 1948 die israelische Unabhängigkeitserklärung und rief damit den modernen Staat Israel aus, dessen erster Ministerpräsident er war. Ben-Gurion, geboren als David Josef Grün im damals russischen Polen, war Sozialist und Zionist. 1906 wanderte er in das damalige britische Mandatsgebiet Palästina ein. Von 1948 bis 1953 und von 1955 bis 1963 war Ben-Gurion Premierminister und Verteidigungsminister Israels. Ben-Gurion vertrat die Ansicht, dass es kein palästinensisches Volk gäbe. Während er der Auffassung war, die Araber:innen zu vertreiben und ihr Land zu nehmen („We must expel the Arabs and take their places“) und eine Rückkehr von Palästinenser:innen in ihre Heimat um jeden Preis zu verhindern („We must do everything to insure they [the Palestinians, Anm.]) never do return”, ließ er wiederholt Verständnis für die arabische Position erkennen und gab zu, dass Israel arabisches Land gestohlen habe („If I were an Arab leader, I would never sign an agreement with Israel. It is normal; we have taken their country.“)

  • Die Hisbollah (deutsch: Partei Gottes) ist eine islamistische schiitische Partei im Libanon, die eine Miliz (nicht-staatliches Militär) unterhält. Durch diese fungiert die Hisbollah als „Staat im Staat“. Die Hisbollah ist unter anderem in Österreich, Deutschland, Großbritannien, Japan, Kanada, den Niederlanden und den USA als Terrororganisation eingestuft und verboten. Ihr Führer Hassan Nasrallah ist schiitischer Muslim und ein Verbündeter des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad. Die Hisbollah wird vom Iran unterstützt und ist dementsprechend gut ausgerüstet. Im Mai 2000 gelang es der Hisbollah, der israelischen Armee so lang Scharmützel zu liefern, bis sie sich aus dem Südlibanon zurückzog.

  • „Peace to Prosperity“ war ein Nahost-Plan, den der damalige US-amerikanische Präsident Donald Trump am 28. Jänner 2020 gemeinsam mit dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu vorstellte. Ausgearbeitet hatte den Plan Trumps Schwiegersohn Jared Kushner, ein aus orthodox-jüdischer Familie stammender Medienunternehmer. Der Plan war vorgeblich eine Zwei-Staaten-Lösung, hätte aber Israel rund 30 Prozent des palästinensisch verwalteten Westjordanlandes zugesprochen. Die Palästinenser:innen sollten zwar einen eigenen Staat bekommen, dieser müsse jedoch völlig entmilitarisiert sein. Jerusalem würde ungeteilte Hauptstadt Israels, die Palästinenser:innen bekämen Vorstädte hinter der Betonabsperrung, mit der Israel seine Grenze zu den Palästinenser:innengebieten sichert. Im Gegenzug würde Israel vier Jahre lang keine neuen Siedlungen auf palästinensischem Gebiet bauen.

  • Als Nakba (arabisch für „Katastrophe“) bezeichnen Palästinenser:innen ihre Flucht und Vertreibung aus dem früheren britischen Mandatsgebiet Palästina durch den Staat Israel in den Jahren 1948/1949. Araber:innen und Antizionist:innen beschreiben die Nakba als ethnische Säuberung, während das herkömmliche israelische Geschichtsbild eine freiwillige Räumung der Gebiete aufgrund von Aufforderungen von arabischer Seite transportiert. Die Diskussion um die korrekte Einordnung hält auch unter israelischen Historiker:innen an.

Quellen

Das Thema in anderen Medien