Tausende Kirchen, kaum noch Gläubige. Was tun mit dem Leerstand? Einkaufszentrum? Bowlinghalle? In anderen Ländern ist man wenig zimperlich.
Die Schlange vor dem Stephansdom ist lang. Alle wollen am Türsteher vorbei. Öffnet sich das Tor, schwappen Beats auf den Vorplatz. Die sakralen Hallen der Kathedrale sind zum Zentrum der Clubkultur geworden. Seit die Gläubigen ausbleiben, kommen die jungen Menschen. Jede Nacht feiern Tausende.
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Die Szene ist frei erfunden. Doch in vielen Ländern ist sie längst Realität. Kirchen werden zu Einkaufszentren, Hotels, Kletterhallen, Kindergärten – und eben Clubs. Der Grund dafür ist einfach: Die Gotteshäuser werden kaum besucht. Ihr Erhalt kostet Millionen.
Auch in Österreich. Hinter den 8.000 römisch-katholischen Kirchen steht eine gebeutelte Institution. Ihr gehen die Gläubigen aus. Alleine im Jahr 2022 haben ihr 91.000 Menschen den Rücken gekehrt. Jedes Jahr schrumpft die Mitgliederzahl um etwa zwei Prozent. Das hat nicht nur spirituelle Folgen.
Es ist auch ein finanzielles Problem. 75 Prozent ihrer Einnahmen generiert die katholische Kirche über die Beiträge ihrer Mitglieder. Damit werden auch marode Kirchen saniert. 39 Millionen Euro kostete das im Jahr 2021.
Kirchen sind keine rentablen Gebäude. Sie bringen kein Geld. Sie kosten Geld. Mit über einer Million Mitgliedern ist die Erzdiözese Wien die größte des Landes. Sie verwaltet rund 250 Kirchen. „Die Kosten für den Erhalt variieren nach Größe und baulichem Zustand“, sagt Michael Prüller, Pressesprecher der Erzdiözese Wien. Beim Stephansdom machen sie zwei Millionen Euro pro Jahr aus. Dort ist die Renovierung ein permanenter Vorgang und wird nie enden.
Die nun weitgehend abgeschlossene – mehr als 20 Jahre dauernde – Renovierung der Votivkirche hat 30 Millionen Euro gekostet. „Ein Drittel wird von der Diözese finanziert, ein Drittel von der Pfarre und ein Drittel von privaten und öffentlichen Spendern“, sagt Prüller. „Insgesamt beträgt das Bau- und Renovierungsvolumen in Wien rund 25 Millionen Euro pro Jahr.“ Ein teurer Spaß für kaum genutzte Häuser.
Boxring, Autoschau, Fahrrad-Parkstation
In den Niederlanden will die Kirche dafür längst nicht mehr zahlen. „Etwa 80 Prozent der Bevölkerung empfinden keine Verbundenheit mehr mit der christlichen Kirche“, sagt Hanneke Masselink-Duits von The Missing Link, einem Unternehmen, das Revitalisierungen von leerstehenden Kirchen begleitet.
Bis zum Jahr 2030 werden das etwa ein Drittel aller niederländischen Kirchen sein. Das Ministerium für Bildung, Kultur und Wissenschaft hat eine landesweite Strategie („kerkenvisies“) entwickelt. „Die Initiative bietet den Gemeinden Unterstützung bei der Entwicklung neuer Nutzungskonzepte. Als unabhängige Vermittlungsinstanz moderieren wir den Dialog über die Zukunft der Kirchengebäude zwischen lokalen Behörden, Investor:innen, Expert:innen und der Bevölkerung.“
Die Nutzungsmöglichkeiten sind vielfältig: von Supermarkt-Filialen über Nachtclubs und Luxushotels bis zur Trampolinkirche. Alles ist möglich. Das zeigt das Beispiel der ältesten gotischen Kirche der Niederlande, die Dominikanerkirche. Sie war bereits Boxring, Autoschau, Schlangenhaus, Fahrrad-Parkstation, Veranstaltungssaal und Lagerraum der Feuerwehr – bis 2016 eine Buchhandlung eröffnete. Regale aus schwarzem Stahl stehen im Kirchenschiff. Im Chorraum ist ein Kaffeehaus.
Auch Deutschland kennt das Phänomen. Zwischen 2000 und 2019 wurden rund 1.200 Kirchen aufgegeben. Anders als in den Niederlanden bleiben sie hier meist gemeinnützige Orte. Als Bibliothek, Kindergarten, Gemeindezentrum, Theater oder Kletterhalle erfüllen sie weiterhin soziale, kulturelle, kommunale Zwecke.
Keine landesweite Strategie
In Österreich ist das anders. Leerstehende Kirchen sind kaum Thema. Das ist bemerkenswert. Stehen an zentralen Orten Gebäude über längere Zeit leer, rücken sie ins Interesse der Öffentlichkeit. Sie werden besetzt, Kreative ziehen zwischenzeitlich ein, sie stoßen zumindest eine Debatte an. Bei Kirchen ist das nicht so.
Hinter den Kulissen macht sich die katholische Kirche aber natürlich Gedanken. „Klar ist, dass durch die sinkende Zahl von Katholiken nicht alle Bauwerke erhalten werden können“, sagt Prüller auf Anfrage der WZ. „Es wird zu Abgaben von Kirchenräumen kommen. Die Diözese ist gerade dabei, von den Pfarren regionale Gebäudekonzepte einzufordern.“ Exakte Richtlinien gibt es keine. Eine landesweite Strategie auch nicht. „Jede Diözese ist autonom für ihre Kirchen verantwortlich.“
Um das Missverhältnis zwischen wenigen Gläubigen und vielen Kirchen auszugleichen, werden oft Pfarren zusammengelegt. „Ein anderer Weg ist die Nutzung eines Sakralbaus durch eine andere Religionsgemeinschaft“, sagt der Theologe Jakob Deibl, der an der Universität Wien zu gesellschaftlichen Transformationsprozessen und Religion forscht.
Kirchen-Bauboom in den 50er-Jahren
Findet sich keine Lösung, bleibt nur der Abriss. In Deutschland trifft dieses Schicksal vor allem die Kirchen aus der Nachkriegszeit. „Die Zerstörungen vieler deutscher Städte während des Zweiten Weltkriegs führten in den 1950er Jahren zu einem regelrechten Bauboom von Kirchen. Ein Überhang, den es heute nicht mehr braucht“, sagt Deibl. Manchmal wählt die Kirche bewusst diesen Weg, um imageschädigende Nachnutzungen zu verhindern.
Auch Österreich hat mit dem Abriss von Kirchen Erfahrung. Neben einigen Notkirchen, die nur als temporäre Lösung gedacht waren, ist die Rauchfangkehrerkirche in der Wiedner Hauptstraße ein bekanntes Beispiel für die Schleifung einer Kirche. Sie wich – Bürger:innenprotesten zum Trotz – Mitte der 60er Jahre einer Straße. Die Voestkirche im Wiener Stadtteil Stadlau wurde 2020 abgerissen, weil sie als nicht mehr sanierbar galt. Sie ist aus dem Stadtbild verschwunden.
Kirchen sind emotional aufgeladene Orte: „Sie prägen das Ortsbild. Sie stehen an schönen, zentralen Plätzen. Um sie herum haben sich ganze Dörfer formiert. Auch für Menschen, die keiner Glaubensgemeinschaft angehören, sind sie identitätsstiftend“, sagt Deibl. „Mit Kirchen verbinden viele Leute kollektive Erfahrungen, Erinnerungen, Bilder.“ Muss eine Kirche zusperren, ist das oft nicht einfach, findet auch Prüller: „Es gilt hier, sensibel zu sein, weil viele Menschen eine starke emotionale Beziehung mit einer Kirche haben – hier wurden ihre Vorfahren getauft, verheiratet und zum Friedhof verabschiedet.“
Kirchen gehen auf den Bautyp der antiken Basilika zurück. Basiliken wurden als Markt- und Gerichtshallen konzipiert – und etablierten sich als Treffpunkte der Bevölkerung. „Ein Sakralbau ist ein öffentlicher Raum, der nicht kommerziell genutzt wird. Solche Räume werden weniger. Jeder Bahnhof ist mittlerweile ein Einkaufszentrum“, sagt Deibl. Die Zentrumsfunktion ist den Kirchen verloren gegangen. Galt früher der Kirchplatz als wichtigster Begegnungsort, sind es heute Altstoffsammelzentrum und Gewerbepark, wo die Menschen zusammenkommen.
Die Hürden der Transformation
Die Transformation einer Kirche birgt auch bauliche Hürden. „Fast alle Kirchen sind denkmalgeschützt, wodurch die Möglichkeiten beschränkt sind. Der Verkaufserlös für eine Kirche ist vergleichsweise gering“, sagt Prüller. Noch herausfordernder als der Denkmalschutz ist der Brandschutz. „Er ist oft schwer mit neuen Visionen vereinbar“, sagt Architekt Andreas Kleboth, der Teil des Planungsteams rund um die Revitalisierung des Kapuzinerklosters in Linz ist.
Das Projekt zeigt, wie lange der Weg vom Leerstand bis zur Wiederbelebung einer Kirche sein kann. 1991 schloss das Kloster seine Pforten, 2016 fand die Profanierung der zugehörigen Kirche statt. So nennt man den Akt der Entweihung. „Die Kapuziner haben das Grundstück nicht verkauft, sondern einem Entwickler auf 99 Jahre überlassen“, sagt Kleboth.
Anfängliche Pläne für die Umnutzung als Therapiezentrum scheiterten. Die Errichtung eines zwölf-stöckigen Hochhauses im alten Klostergarten wehrte eine Bürgerinitiative ab. Abhilfe brachte schließlich ein kooperatives Planungsverfahren für das gesamte Stadtviertel, an dem sich Anrainer:innen, Planungsteam, Stadt und Investor beteiligten. Mittlerweile ist die Kirche eine Baustelle. „Sie ist ein Kultort. Während der Bauarbeiten haben wir Grabstätten entdeckt, archäologisch befundet, aufgelöst und die Überreste andernorts bestattet“, sagt Kleboth.
Wo früher Mönche wohnten, prüft und bilanziert künftig eine Steuerberatungskanzlei mit rund 400 Mitarbeiter:innen. Ein Betriebskindergarten ist im ehemaligen Wohntrakt der Geistlichen geplant. „Die Kirche wird der Luxusraum der Kanzlei. Ein Großteil ihrer Tätigkeiten wird sich in diesen multifunktionalen Räumlichkeiten abspielen. Besprechungen, Bibliothek, ein Ort zum Essen. Im Idealfall wird dieser Teil für Events genutzt und damit öffentlich zugänglich – so hoffen wir.“
Der Diskurs fehlt
Der Architekt Kleboth sieht das Projekt nüchtern. „Viele klerikale Bauten werden nicht mehr gebraucht. Wenn es der Kirche nicht gelingt, gesellschaftlich relevanter zu werden, müssen die Kirchen einer anderen Nutzung zugeführt werden. Das ist ein unaufhaltsamer Prozess. Wir befinden uns erst am Beginn der Umstrukturierung.“ Auch Theologe Deibl fordert einen breiteren öffentlichen Diskurs, um angemessene Lösungen zu finden: „Das Thema Nachnutzung von Kirchengebäuden wird auch in Österreich in naher Zukunft virulent werden und man muss sich der Frage stellen, wie wir damit umgehen.“ Eine Antwort gibt es nicht.
Das führt die Kirche „Maria vom Siege“ im Wiener Arsenal vor Augen. Vor einem halben Jahr wurde sie entweiht. Wie ein Fremdkörper steht sie zwischen Wohnbauten. Das Portal ist mit einer Kette abgesperrt. Früher war sie die Heereskapelle der hier stationierten Soldaten. Wie es mit ihr weitergeht, ist ungewiss. Man prüfe, welche Konzepte inmitten eines Wohngebietes möglich sind, heißt es von der Hausverwaltung auf Nachfrage der WZ.
So recht weiß niemand, was mit all den Kirchen passieren soll. Ein Club im Stephansdom? Die Vorstellung ist radikal. Ganz realitätsfremd ist sie nicht.
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Infos und Quellen
Genese
Die Urbanistin Christina Schraml wohnte einige Monate in den Niederlanden. Dort sind Umnutzungen von Kirchen nichts Ungewöhnliches. In Maastricht besichtigte sie die ehemalige Dominikanerkirche, die heute eine Buchhandlung ist.
Gesprächspartner:innen
Jakob Deibl, Theologe an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien für den Bereich "Religion und Ästhetik"
Andreas Kleboth, Architekturbüro Kleboth und Dollnig
Hanneke Masselink-Duits, The Missing Link in Utrecht/Niederlanden
Johannes Pernsteiner, Kathpress
Michael Prüller, Pressesprecher der Erzdiözese Wien
Thomas Dasek, Presseamt der Evangelischen Kirche Österreich
Daten und Fakten
Aus dem Wiener Stadtbild verschwundene Kirchen
Zu den Kirchen, die aus dem Wiener Stadtbild ersatzlos verloren gegangen sind, zählen vor allem sogenannte Notkirchen, die provisorisch errichtet wurden. Die „Russenkirche“, die 1915 in einem Lazarett in der Hasenleitengasse errichtet wurde und 1961 abgebrannt ist, ist ein solches Beispiel. Ebenso die Holzbarackenkirche St. Josef am Ulanenweg, die von 1972 bis 2001 genutzt wurde. Um das Gebäude zu erhalten, wurde es 2017 in die Seestadt Aspern transportiert und dort als Kunstgalerie „notgalerie“ wieder aufgebaut.
Ein weiteres interessantes Beispiel ist die Kirche in der Siemensstraße, die 1964 geweiht wurde. Ursprünglich als vorübergehende Kirche für eine damals stark wachsende Anzahl von Katholik:innen in einem städtebaulichen Entwicklungsgebiet konzipiert, wurde sie von Anfang an so gebaut, dass sie auch wieder abgebaut werden konnte. Dies geschah jedoch nicht. Als sie durch den Bau neuer Kirchen überflüssig wurde, wurde sie schließlich 2009 an die mazedonisch-orthodoxe Kirche übergeben, die sie bis heute als Gemeindezentrum nutzt.
Tatsächlich abgerissen wurde die sogenannte Voestkirche, die ehemalige Filialkirche Maria, Hilfe der Christen der Pfarre Stadlau. Die Kirche in Stahlbauweise, die mit Unterstützung der Voest errichtet wurde, wurde 1980 eingeweiht. Im Jahr 2019 galt sie als nicht sanierungsfähig, weshalb sie verkauft und abgerissen wurde.
Kirchennutzung durch andere Religionsgemeinschaften (Beispiele aus Wien)
1974 Alte Lainzer Pfarrkirche an die syrisch-malankarisch-orthodoxe Kirche
1990er Jahre: “Russenkirche” in der Wagramer Straße an die koptisch-orthodoxe Kirche
2009 Kirche Siemensstraße an die mazedonisch-orthodoxe Kirche
2010 Kirche Martinstraße an die koptisch-orthodoxe Kirche
2014 Neulerchenfelder Kirche an die serbisch-orthodoxe Kirche
2014 St. Anton in der Pouthongasse an die rumänisch-orthodoxe Kirche
2015 Maria vom Berge Karmel (gehörte dem Karmeliterorden, war aber als Pfarrkirche in Verwendung) an die syrisch-orthodoxe Kirche
2016 Maria vom Siege an die koptisch-orthodoxe Kirche
2022 Pfarrkirche am Schöpfwerk an die serbisch-orthodoxe Kirche
Von der evangelischen Kirche aufgegebene Kirchengebäude
Auch in der evangelischen Kirche gab es in den vergangenen zwanzig Jahren vereinzelt Fälle, in denen Gebäude, in denen vorher evangelische Gottesdienste stattgefunden haben, aufgegeben wurden: Zum Beispiel wurde in Oberösterreich die Pfarrgemeinde Steyr-Münichholz vor etwa zwölf Jahren aufgelassen. Kirche, Pfarrhaus und Garten werden seither von einer Evangelischen Schule genutzt.
Vor etwa vier Jahren wurden die Pfarrgemeinden Linz Süd und Linz Südwest fusioniert. Die Kirche in der Glimpfingerstraße wurde aufgehoben und soll samt Grundstück verkauft werden. Bereits verkauft wurde etwa die evangelische Kapelle „Kapellerfeld“ der Pfarrgemeinde Wien-Floridsdorf (2011). 2016 folgte der Verkauf der evangelischen Kirche „Arche“ in Simmering an eine rumänischsprachige Baptistengemeinde.
Quellen
Baukultur Nordrhein-Westfalen. Nr. 3. September 2022. „Kirchenumbau“.