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Krise an Grenze Polen-Belarus geht weiter

6 Min
Viele Flüchtlinge mussten monatelang im Wald ausharren.
© Fotocredit: REUTERS

Seit kurzem steigt die Zahl der Migrant:innen , die versuchen, von Belarus in die EU zu kommen, wieder. Legale Fluchtwege gibt es nicht, stattdessen eine neue Sperrzone. Anders als angekündigt setzt auch die neue liberale Regierung in Polen auf Härte. Eine Lösung ist nicht in Sicht.


Bis zu 50 Meter ragen die Fichten im Białowieża-Wald empor, einem der letzten Urwälder Europas. Bäume, soweit das Auge reicht. Die Luft ist modrig, das Areal so weitläufig, dass man oft stundenlang niemand anderem begegnet. Mit viel Glück erspäht man eines der rund 800 Żubroń-Bisons, die hier in freier Wildbahn leben. Seit vielen Jahrzehnten sind der Wald und das gleichnamige Städtchen bei Tourist:innen aus Polen und darüber hinaus sehr beliebt.

In den letzten fünf Jahren geriet Białowieża jedoch als Problemzone in die Schlagzeilen. Denn der beschauliche Ort liegt direkt an der 400 Kilometer langen polnisch-belarussischen Grenze. Er wurde zum Sinnbild für die Flüchtlingskrise, die sich in der Region abspielt. Nur dreieinhalb Stunden von der boomenden Metropole Warschau entfernt, aber weitgehend unbekannt im Rest Europas.

Die Vorgeschichte

Im Sommer 2021 begann der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko, Tausende Menschen aus Nahost und Afrika einzufliegen und sie an diese Grenze zu bringen. Warschau und Brüssel waren sich einig: Es handelt sich um hybride Kriegsführung, wohl auch mit russischer Beteiligung. Ziel sei es, Druck auf Polen und die ganze EU auszuüben. Die polnische Regierung ließ daraufhin einen 5,5 Meter hohen und 190 Kilometer langen Grenzzaun mit Stacheldraht bauen. Tausende Soldat:innen wurden postiert, zig Drohnen und Wärmebildkameras sind im Einsatz.

Eine legale Überquerung der Grenze bzw. die Möglichkeit, einen Antrag auf Asyl in der EU zu stellen, war dabei von Anfang an nicht vorgesehen. Polens Kalkül war es, sich nicht auf Lukaschenkos perfides Spiel einzulassen, doch letztlich spielte man trotzdem mit.

Polen nimmt es, derart unter Druck gesetzt, mit den Menschenrechten nicht mehr so genau. Die Geflüchteten konnten weder vor noch zurück. Gleichwohl wurden sie immer wieder von belarussischen Grenzschützern zur Überquerung gedrängt. Schaffte es ein Geflüchteter doch einmal auf die polnische Seite und wurde aufgegriffen, folgten in der Regel Pushbacks zurück nach Belarus.

Flüchtlinge stecken im Wald fest

Viele mussten Monate im Wald ausharren. Mindestens 60 Geflüchtete sind laut NGOs dabei erfroren, ertrunken, wegen unbehandelter Krankheiten gestorben oder anderweitig ums Leben gekommen. Mehr als 300 gelten als vermisst.

Der vielbeachtete Spielfilm „Zielona Granica“ (Grüne Grenze) der polnischen Regisseurin Agnieszka Holland zeigte letztes Jahr eindringlich das Elend im Grenzgebiet. Dramaturgisch zugespitzt zwar, dank akribischer Recherche aber sehr nah an der Realität. Der Film erreichte viele Menschen, gewann Auszeichnungen. Trotzdem ist die Krise im Rest Europas wieder weitgehend vergessen.

Nun gibt es einen neuen Tiefpunkt: Ende Mai starb ein polnischer Soldat infolge eines Messerangriffs. Der 21-jährige Grenzschützer hatte ein Loch im Grenzzaun, das ein Geflüchteter offenbar mit einem Messer vergrößern wollte, mit einem Schild abgedeckt. Die Situation gipfelte darin, dass der Geflüchtete auf den Soldaten einstach, der wenige Tage später seinen Verletzungen erlag.

Die Bewachung der Grenze war eines der zentralen Projekte der polnischen Vorgängerregierung. Auch mit dem Ziel, Belarus einlenken zu lassen und die perfide Praktik zu beenden. Es kam anders – im Frühling stiegen die Zahlen der Geflüchteten an der Grenze wieder deutlich an. Die meisten von ihnen stammen aus Syrien, Somalia, Afghanistan, Eritrea, Äthiopien und dem Jemen, berichtet die Hilfsorganisation Grupa Granica („Grenzgruppe“).

Ein Soldat steht Wache in der Nähe des Zauns an der belarussisch-polnischen Grenze, während Migranten auf der anderen Seite im Wald in der Nähe des Dorfes Topilo in Polen stehen.
Die Sperrzone entlang der Grenze ist zwischen 200 und 2.000 Meter breit.
© Fotocredit: REUTERS

Trotz Regierungswechsel bleibt ein verschärfter Kurs

Die Organisation führt derzeit mehr als 50 (!) „Interventionen“ pro Woche im Grenzgebiet durch. Die Hinweise kommen von der lokalen Bevölkerung oder von den Geflüchteten selbst – per WhatsApp. Grupa Granica und andere Gruppen versorgen sie mit Wasser, Essen, Kleidung, beraten medizinisch und rechtlich. Sie helfen aber nicht bei der Flucht bzw. Weiterreise, denn das wäre strafbar. Schon die Vorgängerregierung hat die Helfer:innen pauschal kriminalisiert. Allein aus Eigeninteresse sind sie das aber nicht – es drohen hohe Haftstrafen.

Die polnische Regierung wechselte im Herbst, die illiberale und europaskeptische Partei PiS („Recht und Gerechtigkeit“) wurde von der liberalen PO („Bürgerplattform“) unter Donald Tusk abgelöst. Doch auch sie setzte von Anfang an auf Härte und eine Fortführung der PiS-Grenzpolitik.

Seit kurzem gibt es auch eine Sperrzone entlang der Grenze, zwischen 200 und 2.000 Meter breit – sie ist eine Reaktion auf den Messerangriff. Nicht einmal Reporter:innen und Helfer:innen dürfen sie ohne Sondergenehmigung betreten.

Jedoch werden Anträge auf jene Sondergenehmigungen bisher nicht bearbeitet, sagt Hanna Machińska. Die Menschenrechtsexpertin leitete von 1991 bis 2017 das Warschauer Büro des Europarats und blickt mit großer Sorge auf die aktuellen Entwicklungen. Vor allem den Vorstoß der Regierung, den Waffengebrauch für Grenzschützer zu erleichtern. „Künftig sollen sie jederzeit zur Waffe greifen können, ohne sich hinterher dafür verantworten zu müssen. Egal ob gerechtfertigt oder nicht“, sagt Machińska. Sie erachtet den Vorschlag als grundrechts- und verfassungswidrig, auch Ärzte ohne Grenzen und Amnesty International äußerten Bedenken.

Ein Gesetz mit potenziell verheerenden Folgen

Noch ist es nicht soweit, weil vor allem Tusks Juniorpartner Lewica („Die Linke“) Bedenken hat. Sollte das Gesetz aber beschlossen werden, sieht Machińska die Gefahr von Schusswechseln zwischen belarussischen und polnischen Grenzschützern, schon jetzt sind sie einander nicht zugeneigt.

Sorgen bereitet Machińska auch, dass in letzter Zeit nationalistische Bürgermilizen auf polnischer Seite durch die Wälder streifen und Jagd auf Geflüchtete machen. Auch Helfer:innen von Grupa Granica bestätigen, dass derartige Bürgerwehren unterwegs sind.

Machińska ist überzeugt: Jetzt liegt es an der Zivilgesellschaft, die Regierung zu einem Einlenken zu bewegen. Damit sei jedoch nicht zu rechnen, weil die Mehrheit der Bevölkerung das harte Vorgehen gegen Migrant:innen befürworte. Die Angstmache der PiS habe gefruchtet, sagt die Juristin. Darüber hinaus würde sie von der aktuellen Regierung weitergeführt.

Wie man anders, nämlich menschenrechtskonform, auf die hybride Kriegsführung des Nachbarlands reagieren könnte, wird in Polen nicht einmal diskutiert. Auch nicht im Rest Europas.


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Infos und Quellen

Genese

Nur wenige Medien berichteten detailliert, was Mitte 2022 an der polnisch-belarussischen Grenze vor sich ging. Auch deshalb, weil selbst Journalist:innen und Helfer:innen in der Hochphase der Krise der Zugang verboten war. Oft ging es in den Berichten darum, dass der belarussische Diktator Lukaschenko die Geflüchteten als Druckmittel gegen Polen und die EU benutzt – was auch stimmte. Die rechtsnationale Regierung der PiS spielte dieses grausame Spiel aber mit. Anstatt ordentliche Asylverfahren durchzuführen, wurden Geflüchtete systematisch zurückgewiesen. Bei der Verteidigung dieses Vorgehens verwies Polen auf die europäischen Interessen. Dass mehr als 50 Menschen in den sumpfigen Wäldern erfroren, ertranken oder anderweitig ums Leben kamen, wurde nicht dazugesagt.

Auch im Wahlkampf zur polnischen Parlamentswahl Mitte Oktober spielten Migration und die Grenze, die die PiS mit tausenden Soldaten und einem 5,5 Meter hohen Zaun zur Festung umbaute, eine gewichtige Rolle.

Gesprächspartner:innen

  • Helfer:innen der NGO Grupa Granica

  • Hanna Machińska, Juristin und Menschenrechtsexpertin, derzeit u.a. bei der Helsinki Foundation for Human Rights

  • Ärzte ohne Grenzen

Quellen