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Kuscheln statt Drogen

7 Min
Das Glückshormon Oxytocin unterscheidet nicht zwischen fremder und vertrauter Berührung.
© Fotocredit: Jaqueline Louan

Kann Kuscheln mit Fremden berauschen? Ich habe es getestet und war auf einer Kuschelparty in Wien.


Der Boden des Raums ist eine einzige Matratze. Darauf liegen violette Decken, auf denen etwa 20 Menschen im Halbkreis sitzen. Die meisten sind Frauen, zwischen 20 und über 60 Jahre alt. Sie tragen Leggins oder weite Hosen und Shirts – auf jeden Fall bequem: Denn heute wird gekuschelt. Und zwar mit Fremden.

Ich setze mich in die letzte leere Lücke im Halbkreis und sinke gleich in die weiche Matratze ein. Verstohlen schaue ich in die Runde: Es ist die erste Kuschelparty meines Lebens. Und es ist Sonntag und einer der ersten heißen Sommertage in Wien. Genug Gründe also, warum ich mich auf dem Weg zur Party in der Künstlergasse 14 im 15. Bezirk nicht nur einmal gefragt habe, was ich mir eigentlich dabei gedacht habe, dass ich mich zwecks Selbstversuchs dafür angemeldet habe. Mein Plan: Ich möchte herausfinden, was dran ist an der Behauptung, dass Kuscheln auch mit Fremden berauschend sein kann – ohne Drogen, dafür mit dem Glückshormon Oxytocin. Dieses bewirkt laut Studien, dass sich allein durch Berührung Atmung und Herzfrequenz verlangsamen und Anspannungen nachlassen. Man fühlt sich selbstbewusst und glücklich, heißt es. Wobei ich von Anfang an ahne, dass diese Party wenig mit kühlen Drinks und DJ-Musik zu tun haben wird.

Nervöses Warten auf den Startpfiff

Und ich sollte recht behalten. Statt kühler Drinks stehen in einer Ecke Karaffen mit Wasser, statt DJ-Musik bringen sanfte Töne den Raum zum Schwingen. Ich wage noch einen Blick in die Runde und fühle mich gleich etwas sicherer, als ich merke, dass auch die meisten anderen leicht nervös darauf warten, dass der Startpfiff fürs Kuscheln mit den Sitznachbar:innen ertönt. Wobei ich mir noch immer nicht vorstellen kann, gleich eine:n der anderen Teilnehmer:innen zu streicheln, zu drücken oder zu umarmen. Ich versuche sogar noch penibel, zu jedem/jeder meiner Sitznachbar:innen einen Sicherheitsabstand einzuhalten und ja nicht unabsichtlich anzustoßen.

Als sich die Kuschelparty-Leiterin Sora in den Halbkreis setzt, wird es still. Und als sie gleich zu Beginn erklärt, dass wir erst in der zweiten Hälfte der insgesamt drei Stunden mit den anderen kuscheln werden, glaube ich, nicht nur mich selbst erleichtert aufatmen zu hören. Die erste Halbzeit sei nämlich für eine kurze Vorstellungsrunde und das Erklären der Regeln und Übungen reserviert, sagt Sora. Erste Regel: Es herrscht kein Kuschelzwang. (Ich beginne, mich zu entspannen.) Zweite Regel: Du fragst um Erlaubnis und bekommst ein verbales Ja, bevor du etwas tust. (Ich fühle mich sicherer.) Dritte Regel: Sag Ja, wenn du Ja meinst, und Nein, wenn du Nein meinst. (Ich darf/soll auch Nein sagen? Das ist gut, das sage ich ohnehin viel zu selten.)

Es geht darum, rücksichtslos auf sich selbst zu hören.
Kuschelparty-Leiterin Sora

Je genauer dieses Regelwerk wird, desto mehr wachsen meine Entspannung und die Freude, heute hier dabei zu sein. Weitere Regeln folgen. Wie zum Beispiel, dass man ganz konkret fragen muss, welche Stelle genau man wie berühren möchte, dass jede:r jederzeit ihre/seine Meinung ändern darf, und dass die Kleidung in jedem Fall angezogen bleibt. Kuschelpartys haben nichts mit Sexualität zu tun. Es gehe vielmehr darum, „rücksichtslos auf sich selbst zu hören", sagt Sora weiter. Ja zu sagen oder eben auch Nein, selbst zu fragen und die Antwort zu respektieren – auch, wenn es ein Nein ist. Der Fokus liege auf diesen zwei Worten, auf dem Ausloten der eigenen Grenzen und jenen der anderen. Emotionen aller Art wie Traurigkeit, Wut oder Freude seien möglich und hätten alle hier Platz. Wer jedoch sexuell erregt wird, solle sich kurz herausnehmen und die Erregung abklingen lassen, bevor er oder sie weitermacht, sagt Sora.

Trockenübungen und eine Umarmung

Die ersten Übungen sind an der Reihe, darunter Trockenübungen ohne Berührung und eine Umarmung. Wer die Party verlassen möchte, hätte nun die Gelegenheit dazu – eine junge Frau, die sich heute emotional nicht stabil genug fühlt, wie sie sagt, geht. Leichte Nervosität macht sich erneut breit. Wen soll ich zuerst fragen? Wen will ich überhaupt umarmen? Und, ein ganz neues Gefühl der Unsicherheit: Was löst ein Nein meines Gegenübers in mir aus?

Die Umarmung ist kurz und schmerzlos, das erste Nein auch. Ich beginne, die Menschen um mich herum genauer wahrzunehmen, zu spüren, dass auch sie offen und neugierig sind, und dass ich Vertrauen in sie haben kann. Viele sind wie ich zum ersten Mal da: die Studentin, die seit der Covid-19-Pandemie ein Defizit an Berührungen hat, wie sie sagt. Oder die Angestellte, die zwar eine Partnerin hat, sich aber auch nach Kuscheln ohne Sexualisierung sehnt. Andere nehmen bereits an der dritten Kuschelparty innerhalb weniger Wochen teil.

Das erste Ja

Und plötzlich ist die erste Halbzeit um. Sora dimmt das Licht und dreht die Musik wieder leise auf. Ich gehe zur Wasserkaraffe, wo schon mehrere Teilnehmer:innen stehen. Es wird gekichert und verlegen gescherzt. Dann setze ich mich auf die Matratze und frage die erste Person, eine etwas ältere Frau, die mir sofort sympathisch war, ob ich ihren Rücken streicheln darf – und ich bekomme ein Ja.

Wir legen uns hin. Ein junges Mädchen fragt mich, ob es mich am Knie berühren darf: Ja. Ein Mann fragt, ob er sich zwischen uns legen darf: Ja. Irgendwann liegen fast alle auf der Matratze, berühren einander zumindest an den Zehen oder kuscheln zu zweit. Ein junger Mann legt sich – nachdem er alle, die er dabei berühren würde, gefragt hat – quer über etwa sechs Personen. Einige lachen laut auf, andere stöhnen tiefenentspannt. Geredet wird kaum, ich höre nur hin und wieder die leisen Fragen und das darauffolgende Ja oder Nein.

Zwei Frauen kuscheln auf einer Kuschelparty.
Jede Art der Berührung muss davor genau erfragt werden.
© Fotocredit: Jaqueline Louan

Wissen, jederzeit Nein sagen zu können

Meine Gedanken fokussieren auf die Berührungen der Menschen rund um mich, und ich verliere das Gefühl für Raum und Zeit. Ich fühle mich wohl. Ich fühle mich sicher und wertvoll und so, als würde ich gebraucht, als wäre ich ein Teil eines großen Ganzen – und das berauscht tatsächlich. All meiner anfänglichen Vorbehalte zum Trotz liege ich hier auf der Matte mit Fremden und lasse mich voll auf unseren gemeinsamen Trip weit weg von Alltag und Sonntag und Sommertag ein.

Es ist aber nicht das Kuscheln allein, das wie unter Drogen berauscht. Für mich funktioniert das nur in der Kombination aus der Aufforderung, in sich hineinzuhören, mit dem Wissen, jederzeit Nein sagen zu können. Obwohl ich es kein einziges Mal sage – weil ich es in der jeweiligen Situation gar nicht sagen will.

Da könnte ich leicht süchtig werden, denke ich mir, süchtig nach dem Schwebezustand. Wie lang liege ich jetzt eigentlich schon da, zwischen all den Menschen, die ich vor fast drei Stunden noch gar nicht kannte, und die mir nun so vertraut sind? Ich weiß es nicht. Aber das ist mir egal.

Zerzauste Haare und verschlafene Augen

„Noch zehn Minuten", sagt Sora schließlich leise und erntet gemeinschaftliches Seufzen: „Nur noch zehn Minuten?" Hatte ich mir anfangs nicht vorstellen können, eineinhalb Stunden lang mit Fremden zu kuscheln, so erscheint mir die Zeit nun viel zu kurz. Die ersten Köpfe tauchen aus dem Haufen kuschelnder Menschen auf der Matratze auf: zerzauste Haare und verschlafene Augen.

Langsam sind alle aus ihrem Trancezustand erwacht, bedanken sich bei ihren Kuschelpartner:innen und helfen noch mit, die Matratzen und Decken wegzuräumen. Wie sie sich jetzt fühlen, frage ich sie, diese Menschen, die mir nun gar nicht mehr fremd sind. „Zentriert", sagt eine der Frauen, die ihren Ex-Partner beim Kuscheln kennengelernt hat, wie sie erzählt. „Ich fühle mich viel stärker mit mir selbst verbunden. Diese simple Begegnung zweier Körper ist so unglaublich wenig, gibt aber gleichzeitig so unglaublich viel." „Ich hätte die vielen Fragen nach dem Ja oder Nein dann gar nicht gebraucht", sagt eine andere. „Man lernt, sensibler und achtsamer zu sein", meint ein Mann. „Ich empfinde tiefes Glück", ergänzt sein Sitznachbar.

Ich verstehe, was sie meinen. Denn ich war dabei.


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Infos und Quellen

Genese

Durch die Covid-19-Pandemie von 2019 bis 2023 und die damit verbundenen Ausgangssperren und Abstandsregeln haben wir verlernt, einander zu berühren. WZ-Redakteurin Petra Tempfer suchte nach Möglichkeiten, die den Menschen helfen, dieses Defizit an Umarmungen auszugleichen.

Gesprächspartner:innen

  • Sora hat lange Zeit in Berlin gewohnt und dort mehrjährige Erfahrung als Kuschelparty-Teilnehmerin gesammelt. Sora ist vom KuschelRaum in Kuschelpartyleitung ausgebildet und hat diverse Trainings bei der „The Consent Academy” absolviert. Seit Dezember 2022 bietet Sora Workshops zum Thema Consent (deutsch: Zustimmung) und Kuschelpartys in Wien an. In ihrem Blogartikel „Kuscheln in Wien“ kannst du mehr über ihre Arbeit erfahren.

Sora
Sora nahm an zahlreichen Kuschelpartys teil, bevor sie sich zur Leiterin ausbilden ließ.
© Sora
  • Die Teilnehmer:innen der Kuschelparty, mit denen WZ-Redakteurin Petra Tempfer über ihre Erfahrungen gesprochen hat, wollten anonym bleiben.

Daten und Fakten

  • Soras Angebote in Wien: Sora bietet CCE (Conscious Cuddle Experience)-Kuschelpartys in deutscher und englischer Sprache sowie einen Consent-Workshop an. Die Kuschelpartys dauern drei Stunden lang und kosten 30 Euro (ermäßigt für Pensionist:innen, Student:innen und Empfänger:innen von Sozialleistungen 25 Euro). Der Consent Workshop dauert ebenfalls drei Stunden lang und kostet 10 bis 20 Euro. Die Räumlichkeiten befinden sich in der Künstlergasse 14 / Top 1 in 1150 Wien (sora@kuschelraum.at).

  • Als Kuschelparty wird eine organisierte Veranstaltung bezeichnet, bei der einander fremde Personen in bequemer Kleidung auf ausgelegten Matten oft stundenlang miteinander kuscheln, ohne dabei sexuelle Absichten zu verfolgen. Die Kuschelparty hat ihren Ursprung in der aus New York stammenden „Cuddle Party“ (Wikipedia).

Quellen

Das Thema in anderen Medien