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Leben auf der Organ-Warteliste: Wie gerecht ist das System?

8 Min
Transplantationen folgen klaren Vorgaben. Wer ein Organ erhält, hängt von vielen Faktoren ab.
© Illustration: WZ / Katharina Wieser

Österreichs Transplantationssystem funktioniert – bislang. Doch die Herausforderungen nehmen zu. Die WZ hat nachgefragt.


    • Österreichs Transplantationssystem funktioniert stabil, steht aber vor wachsenden Herausforderungen durch steigenden Bedarf und begrenzte Ressourcen.
    • Themen wie Transplantationstourismus, Anmeldetourismus und Angehörigenentscheidungen zeigen ethische und strukturelle Spannungsfelder auf.
    • Expert:innen betonen die Bedeutung von Aufklärung, klaren Strukturen und gesellschaftlichem Dialog zur Förderung der Organspendebereitschaft.
    • Ø Wartezeit auf eine Niere in Österreich: 3,5 Jahre
    • Spender:innen 2024: 166 von 311 potenziellen Fällen (18,1 pro Mio. Einwohner:innen)
    • Lebendspenden 2024: 55 (Rückgang gegenüber 73 im Vorjahr)
    • Zielwert des Gesundheitsministeriums: 30 Spender:innen pro Mio. Einwohner:innen
    Mehr dazu in den Infos & Quellen

Andreas Mathies’ Nieren funktionierten nicht mehr. Doch er musste drei Jahre auf ein passendes Organ für eine Transplantation warten – in der Zwischenzeit war er auf Heim-Hämodialyse, also eine Blutwäsche, angewiesen. Heute arbeitet der gebürtige Vorarlberger als Anästhesiepflegefachperson und ist Präsident der ARGE Niere Österreich. Das Thema Transplantation begleitet ihn täglich – medizinisch, organisatorisch, politisch.

Illegale Organmärkte

Ein Investigativprojekt von Frontal, Spiegel und Deutscher Welle deckte im April auf: Über Telegram werden Nieren in Kenia vermittelt – Patient:innen könnten sich dort gegen Geld illegal eine Niere transplantieren lassen. Doch Kenia ist nicht das einzige Land mit verbotenen Organhandelstrukturen – es ist längst Teil eines globalen Schattenmarkts.

Doch wie steht Österreich beim Thema Transplantation und Transplantationstourismus da?

„Transplantattourismus ist ein absolutes No-Go“, sagt Mathies mit Nachdruck zur WZ, „für mich kam das nie infrage – es ist absolut unmoralisch.“ Dass sich dennoch immer mehr Europäer:innen in Ländern wie Kenia oder Bangladesch gegen Geld ein Organ beschaffen, hält er für „abstoßend und mehr als strafbar“.

Zuteilung per Punktesystem

Österreich gilt als stabiler Player in Europa. Die Wartezeit auf eine Niere liegt im Schnitt bei 3,5 Jahren nach der ersten Dialyse bzw. bei rund 16 Monaten nach Aufnahme auf die Warteliste. Doch hinter dieser Zahl verbirgt sich ein komplexes, klar definiertes und medizinisch gewichtetes Auswahlverfahren. Die Vergabe erfolgt nicht bloß nach Wartezeit, sondern basiert auf zahlreichen Kriterien: dem Immunstatus (vPRA, siehe Daten und Fakten), der Gewebe-Kompatibilität, der Wartezeit, der geografischen Fairness, der Dringlichkeit – etwa bei Hochdringlichkeitsfällen (HU) – sowie dem Alter der Patient:innen und möglichen Bonuspunkten, die man erhält, wenn man beispielsweise selbst schon ein Organ gespendet hat.


Eine grafische Darstellung von den einzelnen Schritten, wie eine Organtransplantation zustande kommt.
© Illustration: WZ, Quelle: Eurotransplant

Gesteuert wird das System von Eurotransplant, einer multinationalen Organisation, die Organe nach einem ausgeklügelten Punktesystem zuteilt. „Es gibt keine lineare Liste“, betont Rainer Oberbauer, Abteilungsleiter für Nephrologie und Dialyse an der MedUni Wien im Gespräch mit der WZ. „Der Algorithmus ermittelt das bestmögliche Match – auch über Landesgrenzen hinweg.“

Allerdings zeigt der aktuelle Jahresbericht der ÖBIG-Transplant eine andere Schwachstelle im System: Zwar wurden 2024 österreichweit 311 potenzielle Spender:innen identifiziert – doch nur in 166 Fällen kam es tatsächlich zur Organentnahme bei einer:m Verstorbene:n. Die Differenz erklärt sich laut Stephan Mildschuh von der Gesundheit Österreich GmbH (GÖG) u. a. durch medizinische Ausschlussgründe, vorliegenden Widerspruch oder wenn nicht alle Hirntodkriterien erfüllt sind. ÖBIG-Transplant ist Teil der Gesundheit Österreich GmbH und erhebt die Daten im staatlichen Auftrag.

Auch Lebendspenden gehen zurück

Eine mögliche Entlastung versprechen Lebendspenden – besonders bei Nieren. Hier sind die Zahlen rückläufig: von 73 im Vorjahr auf nur noch 55. Woran liegt das? Es seien möglicherweise die üblichen Schwankungen von Jahr zu Jahr, meint Mildschuh. „Auch im Jahr 2022 wurden 55 Nierenlebendspenden verzeichnet“, sagt er. „Soweit uns bekannt ist, lagen im Jahr 2024 bei einigen Personen, die zu einer Lebendspende bereit waren, medizinische Ausschlussgründe vor“, so seine persönliche Wahrnehmung. Laut Mildschuh wird vermutet, dass die COVID-19-Pandemie Auswirkungen auf die niedrigen Spenderzahlen im Allgemeinen hat, da Krankenanstalten von einem Vertrauensverlust in der Bevölkerung berichten, der sich unter anderem negativ auf das Angehörigengespräch auswirke. Auch Personalmangel könne sowohl in Intensiveinheiten als auch im operativen Bereich bzw. in den Transplantationszentren eine Rolle spielen. Organspende sei hier sicherlich ein besonders sensibler Bereich, denn: Jene Personen, die potenzielle Organspender erkennen und betreuen müssen, tun dies nicht für ihre „eigenen“ Patient:innen, sondern für unbekannte Dritte, während sie selbst gerade den Verlust einer Patientin/eines Patienten erleben müssen. Das sei für das Intensivpersonal besonders belastend.

Kärnten als Modellfall mit regionalem Erfolg

Kärnten gilt derzeit als Positivbeispiel. Dank einer:m Transplantationsreferent:in und -beauftragte, klaren Abläufen und gezielter Schulung konnte die Spendenbereitschaft in Kärnten deutlich gesteigert werden. „Das lässt sich aber nicht eins zu eins auf andere Bundesländer übertragen“, sagt Mathies. „Jede Region hat andere Voraussetzungen – personell, strukturell, kulturell.“

Darüber hinaus geht aus dem Bericht hervor, dass 2024 die Rate bei 18,1 Spender:innen pro Million Einwohner:innen lag – deutlich unter dem vom Bundesministerium angestrebten Zielwert von 30. Zum Vergleich: In Deutschland standen Ende 2022 rund 8.496 Menschen auf der Warteliste für ein Spenderorgan, die meisten davon warteten auf eine Niere. Doch im gesamten Jahr wurden in Deutschland nur 869 Organspender:innen gezählt – das entspricht 10,3 pro Million Einwohner:innen. Spitzenreiter in Europa bleibt Spanien: 46 Organspender:innen pro Million Einwohner:innen wurden dort im selben Jahr gemeldet. Zahlen, die nicht nur strukturelle Unterschiede offenlegen, sondern auch kulturelle. So gibt es in Spanien in jedem Spital ein eigenes Team, dass sich um Organspenden kümmert. Auch ist die Einstellung der Bevölkerung dem Thema gegenüber sehr offen.


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Gerade der Umgang mit Angehörigen spielt eine zentrale Rolle. In Österreich ist jede:r automatisch ein:e Organspender:in, sogar Tourist:innen, die während eines Aufenthaltes sterben. Außer man widerspricht zu Lebzeiten. Gegen den erklärten Willen der Angehörigen wird in der Praxis aus Rücksichtnahme keine Organentnahme durchgeführt, selbst wenn dies rechtlich zulässig wäre. „Die Gespräche mit Angehörigen sind für alle beteiligten Personen eine große Herausforderung – die Angehörigen stehen unter Schock, das ist eine enorme emotionale Belastung für sie wie auch das involvierte Personal“, sagt Mildschuh.

Wohnsitzwechsel mit medizinischer Absicht

Während es auf der einen Seite um die schwierige Frage geht, ob man den oder die verstorbene:n Angehörige:n als Organspender:in freigibt, rückt aufseiten der Empfänger:innen verstärkt die Frage in den Fokus, ob sie überhaupt ein Organ bekommen dürfen. Dabei rückt auch ein anderer Aspekt in den Fokus: der sogenannte „Anmeldetourismus“. Dafür verlegen EU-Bürger:innen ihren Hauptwohnsitz nach Österreich, um Zugang zur Warteliste zu bekommen. Hintergrund ist unter anderem, dass die Wartezeit auf eine Niere in Deutschland bis zu elf Jahre betragen kann. „Sie melden ihren Hauptwohnsitz in Österreich an, sind dann sozialversicherungspflichtig und werden als transplantierbar gelistet“, erklärt Mathies. Mildschuh relativiert: „Diese Personen müssen dann nachweisen, dass sie ihren Lebensmittelpunkt nach Österreich verlagert haben. Wer beispielsweise in Österreich gemeldet ist, gleichzeitig die regelmäßigen Dialysen in einem anderen Staat beansprucht, wird einen solchen Nachweis schwer erbringen können.“ Ein scheinbares Schlupfloch, das jedoch in der Praxis nicht zu durchqueren ist.

Menschenhandel

Ein ethisch sensibler Bereich bleibt die Nachsorge bei Transplantationen, die im Ausland vorgenommen wird. In Kenia etwa werden Nieren häufig von lebenden Spender:innen gegen Bargeld abgegeben, was eben keine Spende, sondern ein Verkauf ist. Das ist etwa in Europa nicht zulässig. Viele dieser Menschen befinden sich jedoch in akuter finanzieller Not – ein Umstand, der die moralische und gesetzliche Tragweite solcher Eingriffe deutlich macht: Denn es handelt sich dabei um Menschenhandel zum Zweck der Organentnahme.

In Österreich hingegen sind bezahlte Organtransplantationen gesetzlich verboten. Das Organtransplantationsgesetz schreibt klar vor: Geld darf bei der Spende keine Rolle spielen – weder auf Seiten der Spender:innen noch der Empfänger:innen.

Kriminelle Netzwerke

Mildschuh weiß um diese Situation: „Diese Fälle waren zuletzt durch entsprechende Webseiten gehäuft wahrnehmbar. Diese Seiten suggerieren eine schnelle Lösung, aber es geht um sehr viel Geld – 200.000 Euro sind keine Seltenheit.“

Das Geld landet dabei nur zu einem kleinen Teil bei den Spender:innen – ein Großteil fließt an Vermittler:innen, medizinisches Personal, private Kliniken und oft an kriminelle Netzwerke, die an diesem lukrativen Schwarzmarkt verdienen.

Trotz aller Herausforderungen bleibt das österreichische Transplantationssystem leistungsfähig – doch Spaniens hohe Spenderquote sollte ein Vorbild sein. Dafür braucht es nicht nur Bewusstseinsbildung bei den Österreicher:innen, sondern auch klare politische Maßnahmen: verbindliche Zuständigkeiten, besser ausgestattete Strukturen – und ein System, das mit den Anforderungen wächst.

Organspende beginnt mit einer einfachen Frage

„Wir haben in Österreich sehr gute rechtliche Voraussetzungen, aber zu wenig Wissen in der Bevölkerung“, sagt Mathies. Ein solidarisches System wie das österreichische kann nur funktionieren, wenn es alle mittragen – Patient:innen, Angehörige, Politik und Gesellschaft. Und es beginnt mit einer simplen Frage, die Mathies stellt: „Wissen Sie, was Ihr Partner, Ihre Mutter, Ihr Vater im Ernstfall will?“ Es braucht Gespräche – nicht nur im Krankenhaus, sondern vor allem zu Hause, damit im Fall der Fälle dem Willen der Verstorbenen entsprochen werden kann.


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Infos und Quellen

Gesprächspartner

  • Rainer Oberbauer ist Abteilungsleiter für Nephrologie und Dialyse an der MedUni Wien
  • Stephan Mildschuh leitet ÖBIG-Transplant (Österreichisches Bundesinstitut für Gesundheitswesen), eingerichtet an der Gesundheit Österreich GmbH.
  • Andreas Mathies ist Betroffener und Präsident der ARGE Niere Österreich (ANÖ). Die ANÖ trägt zur Bewusstseinsbildung zu diesem Thema mit Aktionen wie Tag der Organspende, Medienpräsenz sowie die Mitwirkung beim Green Ribbon Day bei.
  • Christoph Ertl ist Pressesprecher der Gesundheit Österreich GmbH, des nationalen Forschungs- und Planungsinstituts für das Gesundheitswesen

Daten und Fakten

  • Immunstatus: Der Immunstatus gibt Auskunft über den Zustand des Immunsystems eines Organismus und seine Fähigkeit, Infektionen mit Krankheitserregern abzuwehren, d. h. eine adäquate Immunantwort zu geben.
  • Die österreichische Rechtslage zur Organspende folgt der Widerspruchslösung. Diese besagt, dass eine Organentnahme bei einer:m potenziellen Spender:in zulässig ist, sofern die:der Verstorbene dem nicht schon zu Lebzeiten widersprochen hat. Die Organe stammen zum großen Teil von Personen, bei denen der Hirntod festgestellt wurde, bestimmte Körperfunktionen (zum Beispiel Atmung, Kreislauf) aber noch künstlich aufrechterhalten werden konnten. Auch gibt es Spenden von Menschen, die an Herz-Kreislaufversagen verstorben sind. In diesem Fall ist die Abwicklung der Transplantation äußert zeitnah zu organisieren und durchzuführen. Vor allem bei Nierentransplantationen bietet sich die Lebendspende als zusätzliche Möglichkeit an und wird häufig genutzt.
  • Organe dürfen laut Organtransplantationsgesetz nur freiwillig und unentgeltlich gespendet werden und dürfen nicht Gegenstand von Rechtsgeschäften sein, die auf Gewinn gerichtet sind. Lebendspender:innen oder dritten Personen eine Spende, einen finanziellen Gewinn oder vergleichbare Vorteile zukommen zu lassen, ist ebenso verboten, wie es sämtliche Formen des Organhandels sind.
  • Das Widerspruchsregister wird von der Gesundheit Österreich GmbH geführt. Anders als in Österreich gibt es zum Beispiel in Dänemark, Deutschland oder Griechenland eine Zustimmungsregelung.
  • Eurotransplant ist eine internationale Vermittlungsstelle für Organspenden und -transplantationen. Die Organisation koordiniert den Austausch von Spenderorganen zwischen den europäischen Partnerländern Österreich, Deutschland, Niederlande, Belgien, Luxemburg, Kroatien, Ungarn und Slowenien.
  • Organspende-Entwicklungen 2024 Transplantationen insgesamt:
    637 Organtransplantationen in Österreich (2023: 727)
    Davon 58 mit Organen von Lebendspender:innen (2023: 79)
    579 mit Organen von Verstorbenen (2023: 648)
  • DBD-Spender (Donation after Brain Death) sind Verstorbene, bei denen der Hirntod bei erhaltenem Kreislauf festgestellt wird.
  • Bei DCD-Spendern (Donation after Circulatory Determination of Death) handelt es sich um Verstorbene nach anhaltendem Kreislaufstillstand.

Quellen

Das Thema in der WZ

Das Thema in anderen Medien