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Leiharbeiter: innen werden häufig dort beschäftigt, wo es schmutzig und gefährlich ist. Die Unfallgefahr ist im Vergleich zum Stammpersonal ungleich höher. Fällt jemand aus, wird einfach Ersatz bestellt.
Tödliche Stürze aus großer Höhe, eine Hand, die in die Maschine gerät, Verbrennungen während der Arbeit am Hochofen, Kopf- und Schnittverletzungen: Werktätige leben generell gefährlich – ob am Bau, in den Produktionshallen, im Lager oder in der Restaurantküche. In der vordersten Reihe stehen hier laut Allgemeiner Unfallversicherungsanstalt AUVA Leiharbeiter:innen, die mehr als doppelt so oft von Unfällen am Arbeitsplatz betroffen sind als die Stammbelegschaft. Grund dafür ist, dass riskante Arbeiten meist an externe Arbeitskräfte ausgelagert werden, weil das Stammpersonal diese Tätigkeiten aus gutem Grund nicht ausführen will. Tatsache ist auch, dass überlassene Arbeitskräfte oft nur ungenügend auf drohende Gefahren hingewiesen werden und die Gegebenheiten am jeweils neuen Einsatzort nicht kennen. Das deshalb, weil sie im Schnitt acht bis zehn Mal pro Jahr den Arbeitsplatz wechseln.
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Dieser Befund wird von einer Person aus der Bauleitung der Firma Porr, die ihren Namen hier nicht genannt haben möchte, bestätigt: Das Unfallrisiko bei Leiharbeiter:innen sei „ungleich höher“, sagt sie. Überlassene Arbeitskräfte würden bei Porr für „unqualifizierte Tätigkeiten wie Zusammenräumen oder für Schalungsarbeiten“ eingesetzt, aber auch für andere Hilfsarbeiten unter Aufsicht. Das Problem sei, dass die Leiharbeiter komplett neu auf die Baustelle kämen und „die Handgriffe nicht kennen“. Sie wüssten oft auch nicht „wo der Kran hinschwenkt“, ein Unfall sei damit wahrscheinlicher. Da seien routinierte Teams, die gut aufeinander eingespielt sind, klar im Vorteil.
Hoher Migrant:innenanteil
Leiharbeit ist ein Konzept, das von den österreichischen Gewerkschaften in den 80er-Jahren prinzipiell bekämpft wurde, jetzt von den Arbeitnehmervertretungen aber als legitime Form der Beschäftigung akzeptiert wird. Die Grundidee besteht darin, dass Personalbereitsteller Beschäftigerbetrieben dann Personal zur Verfügung stellen, wenn etwa Produktionsspitzen nicht mit der Stammbelegschaft abgedeckt werden können. Die Arbeitgeberseite besteht darauf, dass es sich um „Zeitarbeiter:innen“, nicht um „Leiharbeiter:innen“ handle – letzterer Begriff sei nicht wertschätzend. Für die Gewerkschaft ist die Bezeichnung weniger wichtig. Hier pocht man darauf, dass für Zeitarbeiter:innen der Kollektivvertrag der Branche gilt, in der sie eingesetzt werden. Die Hoffnung ist die, dass Arbeitskräfte über diese Schiene in die Stammbelegschaft einer Firma aufgenommen werden, dass jugendliche Migrant:innen, Menschen ohne Lehrabschluss und ältere Arbeitnehmer:innen so einen Zugang zum Arbeitsmarkt bekommen.
Personalvermittlung durch eigene Firmen ist in Österreich ein weit verbreitetes Phänomen. Laut Gewerkschaft sind 166.000 Menschen im Jahr mindestens einmal über eine Zeitarbeitsfirma beschäftigt. Der Migrant:innenanteil ist hoch, bei 60 Prozent der beschäftigten Personen dauert ein Arbeitseinsatz kürzer als einen Monat. Gearbeitet wird in der Metallindustrie, im Bereich Elektro und Elektronik, in der chemischen Industrie, am Bau, in Spitälern. In der Praxis bedeutet Zeitarbeit nicht selten Armut, weil kurzen Beschäftigungszeiten lange Phasen der Arbeitslosigkeit folgen, in denen die Betroffenen aber kein Arbeitslosengeld bekommen.
Für den ÖGB hat das Konzept der Arbeitskräfteüberlassung trotzdem auch seine guten Seiten: Es würden Produktionsspitzen abgedeckt, Menschen könnten in den Arbeitsmarkt integriert werden und ihren beruflichen Horizont erweitern. Es werden tausende Fach- und Führungskräfte vermittelt, in der Altenpflege und im Spital sind die Löhne der Leiharbeitskräfte fallweise höher als die der Stammbelegschaft. Und für Junge kann es spannend sein, ohne Verpflichtung möglichst viele verschiedene Tätigkeiten auszuprobieren.
Arbeiten ab der ersten Minute
Für viele Zeitarbeiter:innen ist der berufliche Alltag aber trist. Wenn sie in einer Firma anfangen, sind sie ganz unten in der Hackordnung, die ersten, die gekündigt werden und wenig Achtung erfahren. „Da liegt einiges im Argen“, sagt Thomas Grammelhofer, Branchensekretär Arbeitskräfteüberlassung beim ÖGB, zur WZ. So sei oft die Vermittlerfirma für die Sicherheitsunterweisung der „Überlassenen“ zuständig und auch für deren generellen Schutz. Die Schulung finde oft im Vorhinein und in der Freizeit statt, „damit ab Minute eins beim Beschäftiger gearbeitet werden kann.“
Für Beschäftiger ist eine Sicherheitsunterweisung oft verlorene Zeit.Thomas Grammelhofer, ÖGB
Zeit ist hier im wahrsten Sinn des Wortes Geld. „Die Arbeitskraft bekommt einen Zettel hingelegt, wo die Vorkehrungen angeführt sind“, sagt Grammelhofer, das sei „lächerlich“. Oft fehle es zum Verständnis an der nötigen Sprachkompetenz. „Es heißt einfach: ,Da! Unterschreib!‘“ Auch im Betrieb selbst sei die Schulung oft sehr oberflächlich. „Die Beschäftiger bezahlen für den Arbeiter, die Arbeiterin, damit gearbeitet wird. Schulung ist aus dieser Sicht verlorene Zeit, verlorenes Geld“, sagt Grammelhofer weiter. Passiert dann ein Unfall, „sagt der Beschäftiger zum Vermittler: ,Schick mir einen anderen‘. Das ist menschenverachtend.“
Kilian Lippold hat mehrere Monate in Deutschland als Leiharbeiter gearbeitet und bestätigt das. Wie „austauschbares Menschenmaterial“ sei man oft behandelt worden. Lippold war es als nomadisierendem Arbeiter nie möglich, irgendwo anzukommen, sagt er gegenüber der WZ. Er habe kaum je eine Beziehung zu Vorgesetzten oder Kolleg:innen aufbauen können.
Mit verbundener Hand
Die Praxis im Bereich Leiharbeit ist rau, das bestätigt auch eine ehemals über ein auf Gastronomie spezialisiertes Unternehmen Vermittelte. Sie berichtet, dass ein im vorhergehenden Job verletzter Kollege, der als Koch in einem Hotel eingesetzt war, mit verbundener Hand seinen Dienst angetreten habe. „Einhändig, weil er musste.“ Der Chef habe klar gemacht: „Ein Krankenstand ist nicht drin, ich habe sonst niemanden.“ Die vermittelten Arbeitskräfte seien generell jung gewesen, Student:innen, die sich nicht auskannten und nicht über ihre Rechte Bescheid wussten. Und Menschen mit Migrationshintergrund, die ebenfalls leicht zu manipulieren waren.
Leiharbeiter:innen wüssten sich oft nicht zu wehren, meint Branchensekretär Grammelhofer. Migrant:innen könnten Drohungen der Arbeitgeber:innen nicht einschätzen. Sie gingen davon aus, dass die Polizei in Österreich ähnlich willkürlich agiere wie in ihrer Heimat, mit einem autoritären politischen System zusammenarbeite. „Sie haben Angst und verschweigen Missstände“, sagt Grammelhofer. Die Unternehmen würden fallweise Personen mit Migrationshintergrund als Vorarbeiter:innen einsetzen, die dann ihre Untergebenen unter Kontrolle halten würden.
Minimalstandards nicht eingehalten
Als Personalvermittler sind neben seriösen Anbietern viele Scheinfirmen tätig, „die ihre Abgaben nicht zahlen“, erklärt Grammelhofer. Diese fliegen bei Kontrollen der Finanzpolizei auf, „dann werden sie geschlossen und eröffnen wenig später wieder“. Wenn in einem Betrieb fast zu 100 Prozent Leiharbeiter:innen tätig sind, „dann gibt es definitiv ein Problem“. Die Wahrscheinlichkeit, dass hier arbeitsrechtliche Minimalstandards nicht eingehalten werden, ist damit sehr groß. Der ÖGB fordert jedenfalls, dass die Beschäftigerbetriebe die Haftung übernehmen sollen, wenn mit unseriösen – und oft billigeren – Unternehmen gearbeitet wird. Da Firmen Leiharbeiter:innen häufig über die Einkaufsabteilung anheuern, stehe das Kostenargument und nicht die Qualität des Anbieters im Vordergrund, kritisiert Grammelhofer.
Eines ist für den Gewerkschafter jedenfalls klar: „Jeder Arbeitsunfall ist einer zu viel.“ In schweren Fällen trifft das Unglück nicht nur eine Person, „da wird die ganze Familie in Mitleidenschaft gezogen“.
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Infos und Quellen
Gesprächspartner:innen
Thomas Grammelhofer, Branchensekretär Arbeitskräfteüberlassung beim ÖGB
Kilian Lippold ist Jahrgang 2001 und lebt in Deutschland. Er war als Leiharbeiter mehrere Monate in der Gastronomie und im Spital tätig. Seine Erlebnisse hat er in dem Buch „Gedichte eines Leiharbeiters“ niedergeschrieben.
Zahlen und Fakten
Laut AUVA (Allgemeine Unfallversicherungsanstalt) gab es 2023 im Bereich Vermittlung und Überlassung von Arbeitskräften in Österreich 4.809 Arbeitsunfälle, davon waren drei tödlich. 2022 waren es 5.539 Arbeitsunfälle, darunter acht tödliche. Insgesamt verstarben 2023 70 Menschen durch Arbeitsunfälle, 2022 waren es 93. Die meisten tödlich Verunfallten gibt es am Bau. 2023 waren es 19 Personen, 2022 22 Menschen, die in dieser Sparte ihren Verletzungen erlagen.
Die Zahlen der AUVA besagen, dass der Anteil der Arbeitsunfälle im Bereich der Arbeitskräfteüberlassung im Verhältnis zu allen Wirtschaftsklassen in Wien 2021 bei 6,56 Prozent lag. Der Bundesdurchschnitt der Arbeitskräfteüberlassung im Verhältnis zu den Gesamterwerbstätigen liegt nur bei ca. 2,2 bis 2,4 Prozent. Zieht man in Betracht, dass der Anteil der Zeitarbeiter:innen an den Gesamtbeschäftigten in Wien etwas höher ist als im Bundesdurchschnitt, ergibt sich daraus, dass Zeitarbeiter:innen in Wien deutlich häufiger von Arbeitsunfällen betroffen sind als fix Beschäftigte. Um einen exakten Vergleich ziehen zu können, muss die jeweilige Unfallhäufigkeit in einem Betrieb bei gleicher Tätigkeit als Grundlage herangezogen werden. Hier zeigt sich, dass Leiharbeiter:innen mehr als doppelt so oft von Unfällen betroffen sind wie Arbeitende der Stammbelegschaft. Das auch deshalb, weil Arbeitsunfälle von Leiharbeiter:innen viel seltener Eingang in die Statistik finden, weil sie weniger oft gemeldet werden.
Beschäftigte in der Zeitarbeit sind in Österreich zu 80 Prozent männlich. Junge Menschen sind hier genauso vertreten wie ältere.
Der „Workers Memorial Day“ wird international jedes Jahr am 28. April begangen. Gedacht wird der Arbeiter:innen, die durch Arbeitsunfälle getötet oder schwer verletzt wurden. An diesem Tag wird auch daran erinnert, wie wichtig es ist, für gesunde Arbeitsbedingungen einzustehen, um Berufskrankheiten zu verhindern.