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Lernen Sie (Textil-)Geschichte, Herr Hacker!

5 Min
Nunu Kaller schreibt zweimal im Monat eine Kolumne für die WZ.
© Illustration: WZ, Bildquelle: Privat

Der Wiener Sozialstadtrat Peter Hacker und das Dilemma mit Fast Fashion.


Eigentlich hatte ich eine ganz andere Kolumne für heute geplant. Eine etwas frustrierte. Weil das Thema Klimaschutz gefühlt immer mehr Leuten immer wurschter wird und was die Boulevardmedien damit zu tun haben. Aber dann, aaaaber dann, dann kam … Trommelwirbel bitte … Wiens Sozialstadtrat Peter Hacker mit einem absoluten Kracher um die Ecke. In Österreichs Boulevardmedium schlechthin, der Kronenzeitung. In einem Interview rund um die wirklich widerliche Diskussion rund um die Mindestsicherung, bei der er ja grundsätzlich auf der richtigen Stelle steht („Alle Kinder sind gleich viel wert“), verstieg er sich zu einer Aussage, die nicht nur mir die Ohren hat schlackern lassen. „Ich halte es für einen unerträglichen Zynismus, dass die Spätergeborenen das abgetragene Gewand von den älteren Geschwistern tragen sollen.“ Die Weitergabe von Kinderkleidung sei für Hacker „echtes Mittelalter“.

Sag uns bitte, wer du bist:

Puh, wo fang’ ich da an. Zunächst mal: Käme bei der Millionenshow das Zitat mit der Frage daher, wer es gesagt hat, ich würde in Lichtgeschwindigkeit auf die 500 Euro runterdonnern, so sicher wäre ich, dass das von der ÖVP kommt. Ich wäre sogar so überzeugt, dass ich großmäulig und siegessicher auf jegliche Joker verzichten würde. Die FPÖ würde ich ausschließen, denn sogar die haben es geschafft, im EU-Wahlkampf bei ihren Auftritten Reparaturservices für Kleidung anzubieten (kein Scherz! Ja, ich hab’ auch so dreingeschaut.). Und SPÖ und Grüne sowieso, weil die haben das ja ohnehin seit Jahren verstanden mit der Nachhaltigk… oh. Hoppla! Oje.

Von Kindern für Kinder

Aber gehen wir es mal ohne Herumblödeln an: Seit Jahrtausenden wird Kinderkleidung weitergegeben. Ist ja auch logisch, so eine Babyjacke passt selbigem vielleicht ein paar Wochen, die neue später ein paar Monate, und dann wird es schon wieder eng. Man muss gar nicht weit in der Geschichte zurückgehen, um das zu lernen. Geendet hat diese weltweit geltende Selbstverständlichkeit nämlich erst in den 1990er-Jahren mit der Globalisierung. Plötzlich wurde die Produktion von Kleidung unglaublich günstig. Kein Wunder, sie wird ja bis heute auch unter anderem von Kindern hergestellt, denen muss man ja nicht viel zahlen. Von Kindern für Kinder. Praktisch!

Doch damit nicht genug. Viele, aber immer noch viel zu wenige wissen es: Fast Fashion, also genau diese Massen-, was heißt, Überproduktion von Kleidung in Billiglohnländern ohne Umweltstandards, ist der zweitgrößte Klimakiller der Welt. Die Modeindustrie ist hinter der Ölindustrie mit einem Anteil von zehn Prozent der zweitgrößte CO2-Emittent der Welt (mehr als Luftfahrt und Seeschifffahrt zusammen). Einer Untersuchung der britischen Ellen-Mac-Arthur-Stiftung nach könnte die gesamte Textilindustrie bis 2050 für ein Viertel des weltweiten CO₂-Ausstoßes verantwortlich sein.

Was ich jedoch am allerwenigsten verstehe: Hacker ist Vater, hat zwei Söhne. Hat da sicher nicht der Jüngere die Jeans vom Älteren getragen, als der rausgewachsen war? Oder T-Shirts, die Kinder ja normalerweise gleichsam im Akkord anpatzen? Wenn nicht, wäre das sehr schade: Für Kinderhaut gibt es nämlich kaum etwas Besseres. Gebrauchte Kleidung ist häufig so oft gewaschen, dass man sicher sein kann, dass sämtliche möglicherweise hautreizenden Chemikalien aus der Produktion aus dem Teil rausgewaschen sind.

Herr Hacker, ich gratuliere!

Irgendwie hat die Aussage von Hacker ja auch was unfreiwillig Tragikomisches: Seit Jahr und Tag regt sich die FPÖ und teilweise auch die ÖVP drüber auf, dass Migrant:innen zu viel bekommen. IPhones von der Caritas zum Beispiel und ähnliche Schwachsinnsgerüchte machen die Runde, um Ablehnung, Neid und Hass zu erzeugen. Seit Jahr und Tag halten SPÖ und Grüne dagegen. Und dann erklärt ein SPÖ-Stadtrat, dass Migrant:innen bitte mehr bekommen sollen als eigentlich gscheit ist und sämtliche Kritiker:innen haben obige Argumente dagegen in der Hand? Gratulation, Herr Hacker, damit haben Sie es geschafft, sowohl die Grünen als auch ÖVP und FPÖ gegen sich aufzubringen, und obendrein der FPÖ die Chance gegeben, in vielen, vielen, sehr vielen Jahren ausnahmsweise einmal eine sinnvolle Aussage rund um den Klimaschutz zu treffen. Das kriegen nicht viele hin, Respekt!

Es ist ja absolut nachvollziehbar, dass man dem populistischen Geheule gegen die Mindestsicherung und den Wiener Weg etwas entgegensetzen möchte. Aber dann das Beispiel der Kleidung zu wählen, ist ein echter Schuss in den Ofen. Apropos Ofen, Backen, Kochen, Hacker hätte ja stattdessen das Thema Ernährung ansprechen können. Fast jedes vierte Kind in Österreich ist armutsgefährdet, 43.000 der nicht Volljährigen leben in einem Haushalt, „der es sich nicht leisten kann, jeden zweiten Tag Fisch, Fleisch oder eine vegetarische Alternative zu essen“, schreibt Puls 4.

Und war da nicht etwas mit einem Bundeskanzler, der was von Burgern und Pommes für jedes Kind geredet hat? Wäre das nicht die eigentliche Steilvorlage für einen schmissigen Sager? Ist nur so eine Idee…

Na gut, für „what if“-Gedankenspiele ist es jetzt zu spät. Hacker hat gezeigt, dass er nicht sonderlich mit textilem Wissen ausgestattet ist. Bleibt nur zu hoffen, dass sich das mit den virtuellen Watschen, die er jetzt dafür kassiert, ändert.

Ich bin übrigens aufgewachsen in Kleidung meiner Brüder und der Töchter von Freundinnen meiner Mutter, die etwas älter waren als ich, kann mich eher an ein paar echte Lieblingsstücke denn an Zumutung erinnern (der Minnie-Mouse-Pullover von der Irene! Hachz!), und ich bin zwar vielleicht jenseits der 40, aber vom Mittelalter dennoch weit entfernt.

Und jaa, ich kann’s mir nicht verbeißen, es passt grad zu gut: Lernen Sie Geschichte, Herr Hacker. Textilgeschichte zum Beispiel.

Nunu Kaller schreibt alle zwei Wochen eine Kolumne zum Thema Nachhaltigkeit. Alle Texte findet ihr auch in ihrem Autor:innenprofil.


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