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Die Lesekompetenz in Österreich sinkt.
In dieser kurzen Woche (ha-ha) ist sachpolitisch ja einiges los: Der Reparaturbonustopf ist leergeschöpft, die Koalition kündigt an, die Ehefähigkeit auf 18 hinaufzusetzen und „Integration ab dem ersten Tag“ einzufordern und zu fördern. Alles spannend und wichtig (manches mehr, manches weniger), aber ich möchte mich heute einem anderen Thema widmen, das ein wenig unter dem Radar geflogen ist:
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Wir in Österreich können immer schlechter lesen.
Das sage nicht ich als alter Kulturpessimist, sondern das sagt die Statistik Austria, die diese Woche die Ergebnisse der zweiten Welle des PIAAC-Berichts veröffentlicht hat. Das ist das „Programme for the International Assessment of Adult Competencies“, ein Projekt des Industriestaaten-Clubs OECD. Dabei wir eine hohe Zahl von Erwachsenen zwischen 16 und 65 Jahren getestet bzw. befragt, um deren Kompetenzen in Lesen, Rechnen und Problemdenken vergleichbar festzustellen. (Eltern von Schüler:innen kennen vielleicht den IKM-Test, der nach einem ähnlichen Prinzip funktioniert.)
In Österreich sind für die Studie zwischen September 2022 und Mai 2023 12.000 Menschen stichprobenartig ausgewählt und am Schluss rund 4.600 davon befragt worden – der Großteil per Fragebogen, wo das aber nicht möglich war (zum Beispiel mangels Lesekompetenz) hat die Statistik Hausbesuche vorgenommen. Das ist als Sample groß genug, um repräsentativ auf breite Bevölkerungsschichten hochzurechnen – und, vor allem, um die Ergebnisse einerseits international und andererseits auch mit der vorangegangenen Befragung 2011/12 vergleichen zu können.
Die Österreich-Ergebnisse hat die Statistik hier und hier in zwei Bänden veröffentlicht, weiteres vergleichendes Material hat die OECD hier.
Österreich im OECD-Durchschnitt
International liegen die Menschen in Österreich insgesamt recht nah am Schnitt der westlichen Staaten:
Wir sehen, dass wir – sehr vereinfacht gesagt – beim Lesen etwas besser sind als der OECD-Schnitt, bei der Mathematik etwas schlechter, bei den Problemlösungsaufgaben liegen wir insgesamt sehr nahe am Durchschnitt. Die Spitzenreiter in allen Kategorien sind, wie fast immer in solchen Vergleichen, die skandinavischen Staaten, Japan und die Niederlande, am anderen Ende der Skala finden sich zum Beispiel Chile, Portugal und Polen.
Lesekompetenz ist gesunken
Der internationale Vergleich ist aber, finde ich, der weniger spannende Teil. Wirklich überrascht hat mich (und offenbar auch die Statistiker:innen, aber dazu gleich mehr) das hier:
Wenn du hier die linken, blauen Balken anschaust, siehst du, dass die Lesekompetenz der Befragten in Österreich (gemessen in PIAAC-Punkten, das ist die Skala links) von 2011/12 auf 2022/23 deutlich zurückgegangen ist, während sich jene bei den mathematischen Aufgaben (rechts/rot) nicht statistisch signifikant geändert hat. Mit anderen Worten: Die Leute in unserer schönen Republik können heute deutlich schlechter lesen als noch vor zehn Jahren.
Wenn es dir wie mir geht, laufen in deinem Kopf sofort alle möglichen Thesen ab, wenn du das hörst: Eh klar, die Jungen lesen keine Bücher mehr, die Migrant:innen senken unser Bildungsniveau, die Smartphones verwandeln unsere Hirne zu Matsch usw.
Nur: Alle diese Thesen lassen sich aus dem – spannenden – PIAAC-Material nicht heraus… – wait for it - …lesen.
Zum Beispiel, dass die Jungen mit ihrem Youtube, Insta und wie das ganze Zeug noch so heißen mag klarerweise nicht so gut lesen können:
Wir sehen hier: In den jüngeren Altersgruppen 16-24 und 25-34 Jahre ist die Lesekompetenz in den vergangenen zehn Jahren praktisch gleichgeblieben; erst in den höheren Kohorten ab 35 geht es steil bergab.
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Einfach Politik.
Innenpolitik-Journalist Georg Renner über Österreichs Politiklandschaft.
Auch dass die demographische Veränderung Österreichs – mehr Fremde, mehr Ältere usw. – für den Verlust der Lesekompetenz verantwortlich wäre, lässt sich aus der Studie nicht herauslesen. Zwar haben im fremdsprachigen Ausland geborene Menschen deutlich schlechtere Lesekompetenz als in Österreich oder anderen deutschsprachigen Ländern zur Welt gekommene – und dieser Unterschied ist weit größer als in anderen OECD-Staaten -, aber das haben die Statistiker:innen bereits berücksichtigt: „Die Veränderung der Bevölkerungsstruktur in Bezug auf [die Merkmale Alter/Staatsbürgerschaft/Bildung] kann den Rückgang der Lesekompetenz um 12 Punkte zwischen Zyklus I und Zyklus II nicht erklären“, heißt es in der Auswertung.
Zuletzt: Alterung, Migration und Smartphones gibt es gerüchteweise auch in anderen Staaten, zum Beispiel in Dänemark, Schweden oder Deutschland. Nur: Die haben es geschafft, ihre Lesekompetenz zu verbessern oder zumindest zu halten.
*Die Veränderung in Deutschland und den Niederlanden ist statistisch nicht signifikant.
Mit anderen Worten: Wir stehen ein bisschen vor einem Rätsel, warum die Österreicher auf einmal schlechter Lesen können, oder, wie es abschließend heißt: „Um die Ursachen zu ermitteln, sind weiterführende Analysen erforderlich.“
Eine These der Statistik Austria – das kann aber ein Henne-Ei-Thema sein - ist, dass die Leseaktivität der Österreicher:innen in den vergangenen Jahren besonders stark zurück gegangen ist:
Hinsichtlich einzelner Lesequellen zeigt sich in Österreich ein besonders starker Rückgang beim Konsum komplexer Lesematerialien (Artikel in Zeitungen, Magazinen und Newslettern), während in Deutschland eine geringere Abnahme zu beobachten ist.
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Infos und Quellen
Genese
Innenpolitik-Journalist Georg Renner erklärt einmal in der Woche in seinem Newsletter die Zusammenhänge der österreichischen Politik. Gründlich, verständlich und bis ins Detail. Der Newsletter erscheint immer am Donnerstag, ihr könnt ihn hier abonnieren. Renner liebt Statistiken und Studien, parlamentarische Anfragebeantwortungen und Ministerratsvorträge, Gesetzes- und Verordnungstexte.
Quellen
- www.iqs.gv.at: Allgemeine Informationen und Zielsetzung der iKMPLUS
- Statistik Austria: PIAAC Grundkompetenzen von Erwachsenen 2022/23 Band 1
- Statistik Austria: PIAAC Grundkompetenzen von Erwachsenen 2022/23 Band 2