Fremdenhass hat evolutionäre Wurzeln, löst aber heute keine globalen Probleme, sagt der britische Ökologe Tom Oliver.
Migration ist ein Dauerbrenner im Wahlkampf. Warum? Und warum punkten gerade rechte Parteien mit dem Thema, indem sie uns Angst machen? Hat der Mensch so etwas wie eine „Urangst vor dem Fremden“, liegt Fremdenfeindlichkeit in unserer DNA?
Der Mensch neigt von Haus aus dazu, dem Fremden gegenüber feindlich eingestellt zu sein, weil er sich vor unbekannten Situationen, die eine Gefahr darstellen könnten, zunächst einmal schützt. Wir kommen mit einem reflexartigen Überlebenstrieb auf die Welt, sind daher anfällig für Fremdenfeindlichkeit. Dieser angeborene menschliche Zug erleichtert es populistischen Politikern, beim Thema Migration auf den Gefühlsknopf zu drücken, und uns zu beeinflussen, indem sie eine Migrationskrise an die Wand malen und die Angst schüren, dass fremde Menschen unsere Ressourcen stehlen und unseren Lebensstil verändern wollen. Wir reagieren reflexartig mit Ablehnung.
Was sind die evolutionären Wurzeln von Fremdenfeindlichkeit?
Am Anfang unserer Zivilisation lebten wir in kleinen Gruppen. Zusammenhalt war äußerst wertvoll. Notlagen, Gefahr und Widrigkeiten stärkten die Gruppenidentität nach innen und steigerten den Antagonismus nach außen. Das Hormon Oxytocin verbindet die beiden Gegensätze. Es steuert das Wohlbefinden und festigt den Gruppenzusammenhalt, indem es die zwischenmenschliche Bindung stärkt, daher wird es auch „Liebeshormon“ genannt. Mit Mitgliedern unserer eigenen Gruppe lässt es uns größeres Mitgefühl empfinden, öfter Augenkontakt suchen oder Zuneigung intensiv spüren. Zugleich aber festigt Oxytocin die Ablehnung nach außen. Um zu schützen, was wir lieben, zeigen wir Aggression und Gewaltbereitschaft. Zu Urzeiten sicherte diese Kombination das Überleben.
Und heute?
Im modernen Leben kann dieses Verhalten kontraproduktiv sein. Was früher zielführend war, ist heute eine Fehlanpassung, weil die großen Probleme der Menschheit nicht durch Abschottung, sondern nur durch Kooperation gelöst werden können. Ein weiteres Beispiel einer solchen Entwicklung ist übrigens unser angeborenes Verlangen nach zuckerhaltiger, fetter Nahrung. Früher haben wir sie als Energiespeicher benötigt, heute führt sie in reichen Ländern zur Volkskrankheit Fettleibigkeit.
Wir kämpfen mit grenzüberschreitenden Problemen wie Klimawandel, Verlust der Artenvielfalt, Luftverschmutzung oder Übersäuerung der Meere. Welche Reaktion wäre angemessen?
Unsere angeborene Reaktion wäre, näher zusammenzurücken und im wahrsten Sinn Mauern hochzuziehen. Das mag sich in Notfällen zwar bewähren, aber komplexe Probleme löst es nicht. Komplexe Probleme erfordern eine anspruchsvollere Form des Denkens sowie die Fähigkeit, Zweideutigkeiten und Unsicherheiten zu verstehen. Wir müssen mitunter den eigenen Vorteil hintanstellen, um langfristig ganzheitliche Perspektiven zu schaffen.
Ausgerechnet das Liebeshormon Oxytocin stärkt auch die Ablehnung nach außen.Tom Oliver
Ist nicht auch die Frage der Migration global?
Populistische Führungsfiguren spielen auf der Klaviatur dieser Debatte und blasen sie unverhältnismäßig auf. Dabei ist die Zahl illegaler Immigranten und Immigrantinnen weitaus kleiner als die jener Menschen, die in anderen Ländern studieren oder arbeiten, und einen positiven Effekt auf die Wirtschaft haben. Worüber wir tatsächlich reden müssen, ist, dass der Klimawandel jedes Problem verschlimmert, auch Migration. Massenbewegungen aufgrund der Erderwärmung sind unvermeidlich. Die Frage ist, wie wir reagieren werden. Bauen wir Mauern oder fördern wir eine globale Identität, indem wir Betroffenen nicht nur hier, sondern vor Ort helfen? Diese Frage ist auch in ethischer Hinsicht eine Zeitbombe, denn Ausgrenzung führt über kurz oder lang zu Elend, Hunger und Leid.
Können wir unsere angeborene Angst vor dem Fremden überwinden?
Ich denke ja, zumal wir uns mit unserer Umwelt auf unterschiedlichen Ebenen identifizieren. Wir können einem Land, einem Fußballteam, einem Gesangsverein, einer Familie angehören – all dies gibt Identität. Probleme treten dann auf, wenn wir uns auf Kosten anderer auf bestimmte identitätsstiftende Dinge fixieren. Populistische Anführer etwa manipulieren uns, indem sie uns auf nationaler Ebene fixieren: Aus einem gesunden Stolz auf das eigene Land wird giftiger Nationalismus oder sogar Fremdenhass und Rassismus. Wenn auf dieser Ebene eine Gruppenidentität entsteht, wollen sich manche auf Kosten anderer retten und das führt zu einem Teufelskreis.
Wie überwinden wir also die Furcht vor dem Fremden?
Es ist ein bisschen, wie wenn es auf einer Party jede Menge Junk-Food gibt, wir jedoch auf Diät sind. Wir müssen ein Abkommen mit uns selbst treffen, dass wir dort sparsam essen. Wenn wir also wissen, dass wir als Menschen anfällig sind für Xenophobie, müssen wir den Kopf einschalten, wenn der Fall eintritt, und die Reaktion kontrollieren.
Der Mensch ist sehr kooperativ: Ohne Teamarbeit und Innovation würde er keinen Fortschritt erzielen. Haben wir eine Identitätskrise?
Ja, wir haben eine Identitätskrise, denn wir kämpfen mit der Pluralität unserer Glaubenssysteme. Die Lösung liegt aber sicher nicht darin, anderen das eigene Glaubenssystem aufzuerlegen.
Sehen das alle so?
Mir ist klar, dass meine Ansichten voller Idealismus und Optimismus sind, und dass es ein echtes Bedürfnis in der Bevölkerung nach Sicherheit gibt. Um einen vernünftigen Mechanismus zur Grenzkontrolle und eine bessere Integrationspolitik werden wir daher nicht herumkommen. Aber wir brauchen eine ausgewogene Perspektive auf Migration und einen vernünftigen Weg der Mitte. Es hat keinen Sinn, wenn die Seiten bloß gegeneinander wettern. In der europäischen Migrationsdebatte bewegen sich Rechtsparteien am Rand zur Xenophobie und das müssen wir einschränken, denn solche Sichtweisen sind – ähnlich wie die Negierung des Klimawandels – nicht kompatibel mit der Zukunft unserer Art.
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Infos und Quellen
Genese
Die WZ-Redakteur:innen Eva Stanzl und Bernd Vasari fragten sich, warum Migration so erfolgreich von Rechtsparteien thematisiert wird. Der Ökologe Tom Oliver ist der Ansicht, dass die Angst vor dem Fremden in der Evolution begründet ist, und dass es daher ein Leichtes ist, den Menschen vor zugewanderten Artgenossen, die sie nicht kennen, Angst zu machen.
Gesprächspartner
Tom Oliver ist Vizerektor für Umweltwissenschaften und Professor für Angewandte Ökologie der britischen Universität Reading. Er ist Autor zahlreicher Fachpublikationen und Bücher sowie Kolumnist.
Quellen
Tom Oliver: The Self Delusion: The Surprising Science of How We Are Connected and Why That Matters, 314 Seiten, Orion, 2018
Studie der CEU: Xenophobia from an Evolutionary Perspective
Evolution and Medicine Review: Unconsciuous biological roots of xenophobia
Science: Altruism, Spite and Greenbeards
Das Thema in anderen Medien
The Conversation: Is racism and bigotry in our DNA?
Profil: Angstbeißer – Evolutionsbiologen erklären die Angst vor dem Fremden