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Lost Places: Verhängnisvoller Nervenkitzel

6 Min
Von ihnen geht eine tödliche Gefahr aus: Lost Places, hier die Industrieruine von Kaltenleutgeben.
© Illustration: WZ, Bildquelle: Max Handl

Verlassene Orte üben auf Jugendliche eine magische Anziehungskraft aus. Manche lassen dort ihren Aggressionen freien Lauf, andere begeben sich bei ihren Erkundungstouren in Lebensgefahr.


    • - Jugendliche suchen in Lost Places Nervenkitzel, oft motiviert durch soziale Medien und Influencer wie Lukas Arnold.
    • - Illegale Besuche führen zu Unfällen, Vandalismus, Lärmbelästigung und Sicherheitsmaßnahmen wie Security-Firmen und Verbotstafeln.
    • - Viele Jugendliche interessieren sich auch für die Geschichte der Orte und wählen einen legalen, respektvollen Zugang.
    • Im Februar 2025 starb ein 15-jähriges Mädchen beim Klettern in Kaltenleutgeben.
    • Das Sanatorium Feichtenbach wurde 2002 geschlossen, 1.300 Kinder wurden in er NS-Zeit dort geboren.
    • Security-Firma und Kameras überwachen das Gelände, Betreten ist streng verboten.
    • Social-Media-Videos zu Lost Places erreichen enorm viele Aufrufe.
    Mehr dazu in den Infos & Quellen

Kaltenleutgeben, Niederösterreich: Grau ragt der übrig gebliebene Turm des abgerissenen Zementwerks in den regenverhangenen Himmel. Das Areal ist mit einem Zaun abgesperrt, Betreten-verboten-Schilder sind montiert. Ein „Lost Place“ unweit der Wiener Stadtgrenze, ein unwirtlicher, düsterer Ort und gleichzeitig Magnet für Jugendliche, die auf Entdeckungstour gehen, die Etagen des Turms hochklettern, auf der Suche nach dem ultimativen Kick. Und tatsächlich: Hinten herum, da wo Bahngeleise direkt an der mit Graffiti überzogenen Industrieruine vorbeiführen, ist eine Lücke im Bauzaun. Groß genug, dass ein Mensch bequem hindurchkann.

Das Gelände ist gefährliches Terrain. Im Februar dieses Jahres ist ein 15-jähriges Mädchen das Wagnis eingegangen – es endete tödlich. Sie kletterte hier in der Dunkelheit mit drei anderen in die Ruine, übersah ein metergroßes Loch im Boden und stürzte in die Tiefe. Jede Hilfe kam zu spät.

Altes Betonwerk von innen verfallen, Blick ins Grüne
Das nackte Innenleben der Industrieruine in Kaltenleutgeben.
© WZ/Handl/Schmölzer

„Lost Places sind keine Spielplätze“

„Lost Places sind keine Spielplätze“, warnt Lukas Arnold, Fotograf und Experte für verlassene Orte im Gespräch mit der WZ eindringlich. Die Industrieruine in Kaltenleutgeben kennt er: „Alles ist dort ausgeräumt, es gibt nichts zu sehen.“ Allerdings würden Influencer:innen derartige Orte besuchen, den Vorgang filmen und via soziale Medien als Mutprobe präsentieren. „Das Gefährliche ist, dass dann Nachahmer kommen, die weniger geübt und routiniert sind“, weiß Arnold. Besagte Jugendliche würden illegal und ohne Absprache mit dem oder der Besitzer:in in verlassene Villen oder Industrieruinen einsteigen, denn „das ist es, was die Leute sehen wollen“. Da gehe es um Nervenkitzel. Und: „Man kann über Nacht berühmt werden und Geld verdienen. 40 Millionen Aufrufe sind möglich, wenn der Algorithmus passt.“

In der Tat sind soziale Medien wie TikTok und Instagram voll mit Videos, in denen Jugendliche bei Nacht in verlassene Gebäude einsteigen. Es ist die Angst vor der Dunkelheit, die motiviert und gleichzeitig abschreckt. Die Neugier, etwas Besonderes zu entdecken und die Furcht vor dem Erwischtwerden. Reizvoll für die Eindringlinge ist es auch, an besonders schwer zugängliche Orte zu gelangen.

Und manchmal haben Lost Places ganz einfach eine spannende Vergangenheit, in die sie eintauchen wollen.

Verteidigungswall aus Verbotstafeln

Das ist im niederösterreichischen Feichtenbach bei Pernitz der Fall, wo mitten im Wienerwald ein ehemaliges Sanatorium verrottet. Erbaut wurde es Anfang des 20. Jahrhunderts von zwei jüdischen Ärzten als Lungenheilanstalt. Persönlichkeiten wie Franz Kafka oder der ehemalige Bundeskanzler Ignaz Seipel zählten zu den prominenten Patient:innen. Die Nazis nutzen das Gebäude für das SS-Projekt „Lebensborn“. Arische Frauen brachten hier etwa 1.300 „rassisch hochwertige“ Kinder zur Welt, als „erbgesunde“ Basis für Adolf Hitlers tausendjähriges Reich, das nie kam. Dann übernahm die Metallergewerkschaft das riesenhafte Gebäude als Ferienheim, noch Ende der 70er-Jahren wurde ein Schwimmbad eingebaut. 2002 wurde der Betrieb eingestellt.

Heute ist das Ex-Sanatorium von Verteidigungswällen aus Verbotstafeln umgeben. Wer sich nähert, wird schon hunderte Meter im Vorfeld darauf aufmerksam gemacht, dass das Befahren und Betreten verboten ist und dass bei Zuwiderhandeln Anzeigen drohen. Überall sind Kameras angebracht, so dass auch hartgesottene „Urbexer“ – also Urban Explorer, wie die Abenteurer:innen sich nennen – ein mulmiges Gefühl bekommen. Zumal eine Security-Firma das Gelände genau überwacht.

Nächte des Grauens – für die Anwohner:innen

Eine Frau, die unmittelbar neben dem verlassenen Sanatorium ein Haus bewohnt, kann die ungewöhnlichen Maßnahmen erklären: Nach der Schließung 2002 hätten Jugendliche den Ort hier für Nachbar:innen in eine Art Hölle verwandelt, sagt sie im Gespräch mit der WZ. Ungebetene Besucher:innen aus ganz Österreich, Deutschland, Ungarn, Tschechien seien in der Nacht mit ihren Autos gekommen und hätten in dem Gebäude Techno Raves gefeiert. Einmal sei sogar die Scheibe ihres Hauses eingeschlagen worden, die Polizei habe durch Nichtstun geglänzt. Fallweise seien Jugendlichen bewaffnet in das Gebäude eingestiegen, hätten es als Schießstätte missbraucht. Manche hätten nur Fotos gemacht, andere aus dem Gebäude alles gestohlen, was nicht niet- und nagelfest war. Eine Person habe in der einst noblen Krankenanstalt sogenanntes „Animal Hoarding“ betrieben, also Hunde und Katzen „gesammelt“, die sie nicht mehr zu Hause unterbringen und versorgen konnte, und den verlassenen Komplex als Stall missbraucht. Es seien dort völlig verwahrloste Tiere gefunden worden – auch eine Ziege war dabei. Der Anwalt der Eigentümer, die sich in Hamburg befinden, weiß sogar von großflächigen Zerstörungen im Gebäude.

Auch Unfälle mit Verletzungen habe es gegeben, sagt die Anwohnerin. „Die Jungen dort haben keine Angst, die sind auf das Dach geklettert, haben sich die Mauer hinunter abgeseilt.“ Es sei ihr wichtig gewesen, dass etwas unternommen wird, um die Sicherheit der Jugendlichen – auch ihre eigenen Kinder waren mit von der Partie – zu gewährleisten. Schließlich wurde vor einigen Jahren eine Security-Firma engagiert, die Männer patrouillierten vor allem zu Beginn mit Schusswesten und Schlagstöcken und greifen bis heute rigoros durch. Wer sich auf das gesicherte Gelände vorwagt, dem drohen Anzeigen wegen Besitzstörung und saftige Geldstrafen.

Verfallenes Gebäude
Das Sanatorium ist baupolizeilich gesperrt, das Betreten ist strengstens verboten.
© WZ/Handl/Schmölzer

„Nazi-Kult“

Die ehemalige Funktion des Sanatoriums als Lebensborn-Heim der SS „hat ebenfalls Jugendliche angezogen“, so die Anwohnerin, es sei eine Art „Nazi-Kult“ entstanden mit Hakenkreuz-Schmierereien an den Wänden im Außenbereich. Einmal sei am Parkplatz ein großes Hakenkreuz in den Schotter geritzt worden. Der Bürgermeister von Pernitz, Hubert Postiasi, musste mit dem Traktor ausrücken und die nächtlichen Spuren beseitigen, wie er gegenüber der WZ bestätigte. Es habe sich um „ein paar Depperte, ein paar Verrückte“ gehandelt, redet er das Problem klein. Er habe jedenfalls ein absolutes baubehördliches Betretungsverbot verhängt, um den „Vandalismus-Tourismus“ zu bekämpfen. Durch das Einschalten der Security-Firma habe man das Problem jetzt „im Griff“, so Postiasi. Das bestätigt auch die Anwohnerin: Die Lage habe sich stark beruhigt.

Der Ort ist angesichts der Sicherheitsmaßnahmen, die sich herumgesprochen haben, für Urbexer:innen in der Tat nicht mehr attraktiv. Eigentlich sei das Sanatorium schon vor 13 Jahren „extrem abgerockt und ekelhaft“ gewesen, sagt Jeremy, der heute Führungen durch die „geheimnisvolle Wiener Unterwelt“ organisiert, der WZ.

„Wie ein Bereich ohne Regeln“

Jugendliche, die Lost Places aufsuchen, tauschen sich in großer Zahl auf Internetforen wie etwa Reddit aus. Hier wird deutlich, dass Zerstörungswut eine Rolle spielt. Er habe im Alter von 12 bis 18 Jahren in einem verlassenen Fabriksgebäude „ordentlich randaliert“, postet ein Deutscher, der anonym bleibt und sein Alter mit 26 angibt. Die Fabrik sei schon weitgehend zerstört gewesen, deshalb hätten er und seine Freunde auch keinen Respekt vor dem Interieur gehabt. Sie hätten Schränke aus den Fenstern geworfen, Bürostühle durch Scheiben geschmissen. Für sie seien die Orte wie große „Crash-Out Spielplätze“ gewesen. „Es war wie ein Bereich, in dem keine Regeln gelten“, schreibt er. Heute verurteile er seine damaligen Taten. Einer aus der damaligen Clique habe mit dem Randalieren begonnen „und es war cool, es zu überbieten“. Durch das Fehlen von Besitzer:innen seien die Hemmungen zusätzlich gesunken. Man habe sein schlechtes Gewissen damit beruhigt, dass alles hier ohnehin bald abgerissen werde. Ein anderer Poster weiß, dass bei derartigen gemeinschaftlichen Vandalenakten häufig Alkohol oder Drogen im Spiel sind, oft stecken Langeweile oder simple Unachtsamkeit dahinter.

Und fallweise brechen in Lost Places Brände aus. Die Ursachen dafür sind vorsätzliches Handeln, oft aber sind es Obdachlose, die im trunkenen Zustand unsachgemäß mit Campingkochern hantieren, wie Fotograf Lukas Arnold gegenüber der WZ sagt. „Das ist dann nicht bewusste Brandstiftung.“

Arnold ist jedenfalls ein Beispiel dafür, dass es auch ganz anders geht. Für den Hobby-Historiker, der unter anderem geführte Touren ins unterirdische Wien organisiert, ist in erster Linie die Bedeutung der verlassenen Orte interessant. Arnold sagt, er habe von Beginn an den seriösen Zugang gewählt, habe sich immer mit den Eigentümer:innen des jeweiligen Ortes in Verbindung gesetzt oder zumindest den Polier um Erlaubnis gefragt.

Er ist damit nicht allein. Vielen Jugendlichen, die verlassene Orte aufsuchen, geht es nicht um Zerstörung oder darum, auf den sozialen Medien schnell berühmt zu werden. Ihr Ziel ist, eine Vergangenheit unmittelbar zu erfahren; ein Zugang, der für sie spannender ist als Randale oder ein schneller Kick.


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Infos und Quellen

Gesprächspartner:innen

  • Hubert Postiasi, ÖVP-Bürgermeister von Pernitz
  • Eine Anwohnerin (Name der Redaktion bekannt), die ihr Haus unmittelbar an dem ehemaligen Sanatorium Wienerwald bewohnt.
  • Lukas Arnold, Fotograf und Experte für verlassene Orte
  • Jeremy, veranstaltet Touren zu unterirdischen historischen Bauwerken
  • Rechtsanwalt und Vertreter der Eigentümer aus Hamburg, Dr. Hanno Schatzmann

Daten und Fakten

  • Das Sanatorium in Feichtenbach wurde 1904 von den jüdischen Ärzten Hugo Kraus und Arthur Baer eröffnet, die Heilanstalt wurde von vielen betuchten und prominenten Patient:innen aufgesucht. Im April 1938 wurde die Heilanstalt von den Nazis beschlagnahmt, Kraus beging angeblich Suizid, was aber bis heute angezweifelt wird. Er starb drei Tage nach der erzwungenen Übergabe seines Lebenswerks an die Nazis. Baer starb drei Jahre später völlig verarmt in Pardubice im damaligen Protektorat Böhmen und Mähren.
  • 1938 wurde das Sanatorium in Feichtenbach arisiert und diente als „Heim Ostmark“, später als „Heim Wienerwald“ dem SS-Unternehmen „Lebensborn“ als Mütterheim. Zumindest 1.200, wahrscheinlich aber bis zu 1.700 Kinder wurden hier geboren. Es kamen Frauen aus ganz Deutschland zur Entbindung nach Feichtenbach, ledige Mütter aber auch Frauen von SS-Männern, wenn die „rassischen Merkmale“ nach Ansicht der Ärzte „passten“. Es wurde über jede Frau genau Buch geführt (Alter, Körperbau, Charakter), vermerkt wurde auch das Verhalten während der Geburt. Schreien wurde (bei der Mutter) als „undeutsch“ eingestuft.
  • In der Urbexer-Szene wird immer wieder betont, dass sich die attraktivsten Lost Places nicht in Österreich, sondern in den Ländern des ehemaligen Ostblocks befinden. Es handelt sich um verlassene Industriebetriebe in Ostdeutschland, Ungarn und Tschechien. Die Ruinen sind nicht abgesperrt, das Betreten erfolgt auf eigene Gefahr.

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